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[87] Später einmal wird man auch das mit Ironie betrachten, was heute als internationaler Sozialismus das politische Bild der Welt beherrscht. Was wirklich vorhanden ist, die Internationale der Schlagworte, der Marxismus als Phrase, vermag nur für Jahrzehnte und auch dann nur in viel geringerem Grade, als das Geräusch der Kongresse und die Zuversicht der Aufrufe vermuten läßt, in den Arbeitern aller Länder ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu erwecken. In Wirklichkeit beschränkt sich die Einigung auf den Glauben, daß sie vorhanden ist, und auf die Tatsache, daß eine Bewegung in einem Lande oft solche in andern hervorruft, wo dann vermeintlich dasselbe angestrebt wird. Aber es ist bezeichnend für eine mit Literatur so durchsättigte Zivilisation wie die heutige, daß Massenführer, die in einem beständigen Nebel von Theorien leben, trotzdem Träger von sehr starken Wirklichkeiten werden können. Auf diesen Lügenkongressen kommen die Vertreter englischen, französischen, deutschen, russischen Lebensgefühls zusammen, um sich immer wieder, ohne einander in den letzten Gründen des Wollens und Fühlens irgendwie zu verstehen, auf einen gewissen Bestand von Sätzen zu einigen, unter denen man dasselbe zu meinen und zu fordern glaubt.

Wie dünn diese intellektuelle Wirklichkeit über die andre der nationalen Instinkte gebreitet ist, hat der August 1914 gezeigt, wo sie in einem Tage unter der plötzlichen Glut natürlicher und nicht geistiger Leidenschaften verdunstete. Sozialismus ist in jedem Lande etwas andres. Es gibt so viel Arbeiterbewegungen, als es heute lebendige Rassen in seelischem Sinne gibt, und sie lehnen sich, sobald es sich um mehr handelt als die Feststellung gemeinsamen Hasses, mit demselben Hasse gegenseitig ab wie die Völker selbst. Es gibt rote Jakobiner und rote Puritaner, ein rotes Versailles, ein rotes Potsdam. Zwischen Shaw und Bebel besteht dieselbe Distanz wie zwischen Rhodes[87] und Bismarck. Es ist immer wieder nur derselbe theoretische Stoff, aus dem sie alle ihre Kleider machen.

Im Weltkriege war es nicht nur die Entente, die sich gegen Deutschland, sondern auch der Pseudosozialismus der Ententeländer, der sich gegen den wirklichen, den preußischen, in Deutschland richtete. In der Person des Kaisers hat der echte Sozialismus sich selbst verraten, seine Herkunft, seinen Sinn, seine Stellung in der sozialistischen Welt. Bebel hätte das gefühlt und verhindert. Seine Epigonen verstanden es nicht. Heute gehen sie auf die Lügenkongresse und unterzeichnen den Versailler Vertrag im Reich der Phrase noch einmal. Der preußisch-deutsche Sozialismus hat seinen gefährlichsten Gegner nicht in dem deutschen Kapitalismus, der starke sozialistische Züge in sich trug und den er selbst erst seit 1917 in englische Formen gedrängt hat, am stärksten vielleicht durch die Lockerung der meisterhaft organisierten Gewerkschaften und die Einführung der lokalen Betriebsräte, hinter deren Zugeständnis die Mehrheitssozialisten ihren liberal-parlamentarischen Hang vor den Massen zu verbergen suchen, sondern in dem, was in der Heimat des Kapitalismus unter dem Namen Sozialismus getrieben wird. Was Engels mit seinen scharfen Augen sah, daß es nur deutschen Sozialismus gibt, das haben die heutigen Wortführer des deutschen Sozialismus vergessen und sie suchen es durch michelhafte Unterwürfigkeit den Ententesozialisten zu beweisen.

In der Tat ist der französische Sozialismus der Putsche und Sabotagen ein bloßes Gefühl der sozialen Revanche, das schon im Pariser Kommuneaufstand seine Clémenceaus gefunden hat, der englische ein Reformkapitalismus, der deutsche allein eine Weltanschauung. Der Franzose bleibt Anarchist, der Engländer liberal und vor allem ist der französische und englische Arbeiter zuerst Franzose und Engländer und erst dann, vielleicht, theoretisch, Anhänger der Internationale. Der geborne Sozialist, der preußische Arbeiter,1 ist immer der Narr[88] der andern gewesen. Er allein nahm die Phrase ernst wie nur irgendein Professor die Phrasen der Paulskirche. Er, der allein auf eine grandiose Schöpfung, auf seine Partei, verweisen konnte, war der andächtige Zuhörer der andern und half ihre Streiks bezahlen.

Eine echte Internationale ist nur durch den Sieg der Idee einer Rasse über alle andern möglich und nicht durch die Auflösung aller Meinungen in eine farblose Masse. Seien wir endlich Skeptiker und werfen wir die alte Ideologie fort. Es gibt keine Versöhnungen in der wirklichen Geschichte. Wer an sie glaubt, muß ein ewiges Grauen vor dem Narrentanz der Ereignisse empfinden, und er flüchtet sich nur in eine Selbsttäuschung, wenn er meint, ihn je durch Verträge beschwören zu können. Es gibt nur ein Ende des ewigen Kämpfens, den Tod. Den Tod des einzelnen, den Völkertod, den Tod einer Kultur. Der unsrige liegt noch weit vor uns im Ungewissen Dunkel des nächsten Jahrtausends. Wir Deutsche, die wir in dieses Jahrhundert gestellt sind, eingeflochten mit unserm Dasein in das der faustischen Zivilisation, haben reiche, unverbrauchte Möglichkeiten in uns und ungeheure Aufgaben vor uns. Zu der Internationale, die sich unwiderruflich vorbereitet, haben wir die Idee der Weltorganisation, des Weltstaates, die Engländer die der Welttruste und Weltausbeutung, die Franzosen nichts zu geben. Wir stehen dafür nicht mit unsern Reden, sondern mit unserm Dasein ein. Mit dem Preußentum steht und fällt der Ordensgedanke des echten Sozialismus. Nur die Kirche trägt noch den alten spanischen Universalgedanken in sich, die Hütung und Pflege aller Völker im Schatten des Katholizismus. Aus den Tagen der Stauferzeit droht das Bild eines riesenhaften Kampfes zwischen einem politischen und einem religiösen Weltgedanken herüber. In diesem Augenblick aber triumphiert in dem britischen Löwen der dritte, der Wikingergedanke: die Welt nicht als Staat, nicht als Kirche, sondern als Beute.

Die echte Internationale ist Imperialismus, Beherrschung der faustischen Zivilisation, also der ganzen Erde, durch ein einziges gestaltendes Prinzip, nicht durch Ausgleich[89] und Zugeständnis, sondern durch Sieg und Vernichtung. Der Sozialismus hat den Kapitalismus und den Ultramontanismus neben und gegen sich, drei Arten sozialistischen Willens zur Macht: durch den Staat, das Geld, die Kirche. Sie haben ihre Kräfte in der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Bewußtseinswelt, von denen jede die beiden andern sich einzuordnen sucht: das sind die schöpferischen Instinkte des preußischen, des englischen und des spanischen Menschen und sie reichen von der geistigen Kälte und Höhe der modernen Zivilisation zurück bis zu jenen frühen triebhaften Menschen der gotischen Zeit, die sich mit Schwert und Pflug die märkischen Sümpfe unterwarfen, in ihren zerbrechlichen Kähnen das Nordmeer kreuzten und den Glaubenskampf gegen die Mauren südlich der Pyrenäen führten. Märkische, englische und spanische Gotik zeugen von einer andern Seele als die französische. Diese Instinkte sind mächtiger als alles andere und können sogar die Völker überleben, in denen sie sich sichtbare Symbole geschaffen haben. Es gab einen römischen Geist noch zu einer Zeit, wo es echte Römer nicht mehr gab. Der spanische Geist als Volk ist ohnmächtig, aber als Kirche steht er in ungebrochner Kraft da.

Das sind die Wirklichkeiten, welche die Internationale der Kongresse mit den Schlagworten von Marx glaubt einebnen zu können.

1

Es liegt ein tiefer Sinn in dem Worte Bebels, als er München einmal als das Capua der deutschen Sozialdemokratie bezeichnete. In dem Karneval der Rätezeit würde er eine Bestätigung gefunden haben.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 87-90.
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