11

[255] Die Zeit des Beginns der Kaftiherrschaft – ein Ereignis, das weltgeschichtlich Epoche gemacht hat, obwohl seine gewaltige Bedeutung vor lauter Graben, Sammeln und Ordnen bisher gar nicht gesehen worden ist1 – läßt sich heute noch nicht genau bestimmen. »Um 1600« ist eine schwankende Annahme. Jedenfalls fällt die große Umwälzung auf Kreta in die ägyptische Revolutionszeit zwischen der 12. und 18. Dynastie (1788–1580) und wahrscheinlich in deren Höhe und Ende, die sogenannte Hyksosherrschaft, mit der sie wohl in irgendeinem politischen Zusammenhang steht. Ich hatte schon früher2 gezeigt, daß es sich hier nicht um eine »Eroberung« Ägyptens durch asiatische Beduinenstämme handelt, wie allgemein angenommen wird, sondern um das Zeitalter der großstädtischsozialen Revolution, also um eine innere Krise der ägyptischen Welt, wie sie in jeder Hochkultur den Übergang von der durchgeformten »Gesellschaft« in ihrer letzten Reife und Durchgeistigung zur formlos werdenden Masse der Weltstadt bezeichnet.[255]

Die 12. Dynastie (2000–1788) war das ancien régime und der Gipfel dieser Kultur gewesen. Seitdem beginnt der leise seelische Verfall. Die Hyksos (»Häuptlinge der Fremdvölker«) müssen Führer von Söldnertruppen sehr verschiedener Herkunft, Präfekten der Palastwache oder dergleichen gewesen sein, welche den Zusammenbruch der staatlichen Gewalt benützten, um sich des Thrones zu bemächtigen, wie die Befehlshaber der türkischen und armenischen Leibwachen zu Bagdad und Byzanz im 9. Jahrhundert n. Chr.3 und wie nicht viel anders der Korse Napoleon in Paris. Daß das nicht nur im ägyptischen Kolonialreich bis nach Nordsyrien hin, sondern auch in den Handelsplätzen auf Kypros und Kreta politische und nicht nur politische Folgen hatte, Verschwörungen, Aufstände, Piratenzüge, wirtschaftliche Verlagerungen, versteht sich von selbst. Von den entscheidenden Persönlichkeiten, die es wie immer in solchen Krisen gegeben haben muß,4 wissen wir aber nichts, und deshalb bleibt der Name Hyksoszeit für uns leer.

Der tiefe Sinn dieser Zeit aber ist klar: Es ist der Übergang, der ägyptischen und babylonischen Kultur in die Form der Zivilisation. Was ich mit diesen beiden Worten gemeint habe, die geschichtliche Wandlung, welche für die Antike durch das Zeitalter Alexanders des Großen, für uns durch das Napoleons in Erscheinung zu treten begann, ist so gut wie gar nicht begriffen worden.5 Eine Hochkultur ist ein Gewächs, dessen lebendige Elemente Stände, Nationen und Individuen sind, wie Stamm, Zweige und Blätter den Baum bilden, ein Gewächs, das den Rhythmus alles Organischen: Geburt, Jugend, Alter und Tod in sich trägt. Zivilisation ist ein Kostüm, eine Summe äußerer Lebensformen von unbestimmter Dauer, die erstarren, zerfallen, abgestreift, gewechselt werden können. Kultur ist ein Leib, der eine triebhafte, nur zum geringsten Teil ihrer selbst bewußte Seele besitzt, Zivilisation ein System verstandesmäßiger,[256] zweckbewußter Züge. Zivilisation kann deshalb gelernt werden wie eine fremde Sprache; Kultur hat man von Geburt an als Möglichkeit in sich oder hat sie nicht. Sie ist ein Erbe. Sie lebt in Traditionen, welche die Zukunft bis zum notwendigen Ende mit der ganzen Vergangenheit verbinden. Zivilisation kann sich verbreiten und wird von Bevölkerungen fremder Frühkulturen – »Barbaren« – mit genügender geistiger Reife in ihrer praktischen Überlegenheit durchaus begriffen und leicht nachgeahmt. Kultur haftet am Blut ihrer Schöpfer oder Geschöpfe, was dasselbe ist, und damit an den Grenzen, in denen diese leben. Sie ist nicht übertragbar. Ein Stil von der Innerlichkeit der ägyptischen Pyramidentempel, des Tempels von Pästum, des Doms von Chartres oder der Dichtung Pindars und Shakespeares und der Musik Mozarts läßt sich außerhalb von Landschaft und Zeitalter seiner Entstehung nachäffen, aber nicht weiterbilden. Der Kunstgeschmack der Gegenwart ist wie der spätrömische überall zu Hause, willkürlich, episodisch, wurzellos, seelenlos. Eine Zivilisation strahlt also weit über die Grenzen der zugehörigen Kultur hinaus, wie die abendländische seit Beginn des 19. Jahrhunderts über die Grenzen des Rokoko, und von dort, wo ihr Schein haftet, kann er weiterstrahlen. Es gibt Sonnen- und Mondlichtzivilisation.

Die antike Zivilisation – der Hellenismus – hatte ihren Ursprung in Athen; aber in syrisch-mesopotamischer Färbung leuchtete sie bis nach Mittelasien, in römischer bis nach Germanien, Britannien und Spanien. Die Zivilisation der Kafti ist Mondlicht, das von der Sonne Ägyptens stammt – wie die hethitische von der Sonne Babyloniens –, und sie strahlt weiter über die Küsten des Ägäischen Meeres, nach Tiryns und Mykene, und noch weiter bis nach Palästina und Etrurien hin. In ihrem letzten verdämmernden Schein beginnt das junge Leben der Antike. Sie hat einzelne Farben und Lichter sogar auf ihren Ursprung reflektiert: der Geschmack der Zeit Echnatons und Tutenchamons ist nicht ohne einzelne exotische Züge der minoischen Lebenshaltung. Aber die Kafti haben unter dem fremden Kleid ihre Seele im Stil des frühgeschichtlichen Westens bewahrt; deshalb wirkt der Luxus ihrer Bauten und Lebensweise[257] wie ein Widerspruch gegen ihre Religion, die kein Luxus war.

Es besteht eine tiefe Ähnlichkeit, deren anschauliches Verstehen diese Dinge deutlicher werden läßt, zwischen Kreta und Japan: beides Inselwelten mit Seestämmen von frühgeschichtlichem Typus, die in den Lichtkreis benachbarter Zivilisationen geraten sind. Die Entstehung des japanischen Reiches geht von den Yamatostämmen im südlichen Nippon aus, die mit malaiischen, polynesischen und solchen an der Westküste Amerikas von Alaska bis Peru eine innere Lebenseinheit bilden, deren Entwicklung erst in nachchristlicher Zeit beginnt.6 Die Chinesen hatten als reine Binnenländer zu Beginn ihrer Zivilisation im 3. Jahrhundert v. Chr. von der Existenz der japanischen Inseln noch keine Ahnung. Erst im 4. Jahrhundert n. Chr., als schon von Yamato her der erste große Eroberungszug gegen südkoreanische Staaten erfolgte, erfuhren sie Genaueres über diese Barbaren (Wa), und zwar über Korea, ohne dem größere Beachtung zu schenken. Noch die Tang-Annalen schweigen über Japan so gut wie ganz, mit demselben Hochmut der Zivilisierten, der auch die wenigen Nachrichten ägyptischer Texte über fremde Volker kennzeichnet. Man bezeichnete hier wie dort gelegentliche Geschenke als Tribut, Gesandtschaften als Huldigungen von Vasallen und bildete sich ein, Länder zu besitzen, von deren Umfang und inneren Verhältnissen man gar nichts wußte. Inzwischen begannen einige japanische Adelsgeschlechter Einzelheiten der chinesischen Zivilisation kennenzulernen, zunächst durch ein paar einwandernde oder flüchtige Priester- und Künstlerfamilien aus Korea, welche die Schrift, den Kalender, den Buddhismus und einiges Technische von Malerei und Plastik mitbrachten7 und damit eine Ahnung weckten von der Macht und praktischen Tragweite, die in der chinesischen Formenwelt lag. Und daraufhin erfolgte im 7. Jahrhundert die Übernahme fast der gesamten zivilisierten Formen Chinas, vor allem der Staatsform der Tangzeit durch die Taikwareform von[258] 645,8 welche die Geschlechterorganisation durch den zentralisierten Beamtenstaat ersetzte, die hohe Verwaltung, das Recht, die Armee, den Verkehr, die Wirtschaft umschuf, die Schrift und den Kalender einführte und in ihrem Gefolge schon um 700 eine historische Literatur beginnen ließ.9 Erst von da an kann man von einem Kaisertum, einem Staat und wirklichen Städten reden. Im 19. Jahrhundert haben die Japaner das wiederholt, indem sie die chinesische Zivilisation wie ein Kleid mit der abendländischen vertauschten, in deren Formen sie ebenso sich bewegen lernten und Meister geworden sind; aber die Seele ihres Volkstums blieb davon so gut wie unberührt.

So muß es auch im 17. Jahrhundert auf Kreta gewesen sein. Wenn die Siedlungen auf der Ostspitze jetzt ägyptisch-stadtartig wirken – in der Kamareszeit gab es dergleichen überhaupt nicht – und die Organisation der Seemacht einen staatsartigen Eindruck macht, so ist das Mondlicht vom ägyptischen Sonnenlicht, glänzend, aber äußerlich und vergänglich, eine fremde Tracht, kein gewachsener Körper. Aber die Ähnlichkeit dieser beiden Inselgeschichten geht weiter. Die minoische Wandmalerei, die jetzt nach ägyptischen Vorbildern geschaffen wird, vielleicht von ägyptischen Meistern, welche vor der heimischen Revolution flüchteten, gleicht der Entstehung nach durchaus der japanischen Malerei als Nachahmung einer alten chinesischen Kunstübung. Und im japanischen Tempelbau10 ist sehr genau der eigne malaiisch-polynesische Pfahlbaustil von dem fremden chinesischen zu unterscheiden, der unter dem Einfluß buddhistischer Priesterherrschaften und Adelsfamilien durch Jahrhunderte um den Vorrang kämpft.

Die seltenen großen Grabtempel in der Nähe von Knossos – das »Königsgrab« von Isopata, das »Grab der Doppeläxte« und vor allem das 1981 von Evans entdeckte, alle erst aus der letzten Zeit der Kaftiherrschaft – unterscheiden sich durch ihre ägyptisierende Anlage und Bautechnik durchaus von den eigentlichen Kaftigräbern in den östlichen Hafenplätzen mit ihrem bezeichnenden, [259] betonten Unterschied zwischen den Kammergräbern der Vornehmen und den Massengrüften der Hörigen. Wer mag in jenen bestattet worden sein? »Könige« gewiß nicht, sonst wären es mehr und vor allem begännen sie früher. Rühren wir hier an den Versuch einer fremden Religion, sich an dieser alten Stätte festzusetzen? Hat nicht auch in Delphi die Apolloreligion und in Eleusis der Demeterglaube vorgriechische Kulte verdrängt?

Wenn ein Kenner des Kaftistils11 meint, daß hier ein Bruch in der Entwicklung stattgefunden habe und daß der neue Kunstgeschmack fertig von irgendwoher importiert sein müsse, so kennzeichnet das – wie in Japan 645 und 1868 – das Tempo, mit dem derartige Zivilisationen zweiten Grades entstehen können. Das geschichtlich Wichtige ist aber nicht die künstlerische Mode, welche von den Archäologen vor allem und leider fast allein beachtet wird, sondern die politisch-kriegerische Schöpfung mit ihren wirtschaftlichen Gründen oder Folgen. Hier war es die Organisation einer Seegewalt von einem Range, wie er bis dahin in der Welt überhaupt noch nicht dagewesen war und wie er seitdem nur ganz selten wieder erreicht worden ist, in dem Jahrtausend antiker Geschichte vielleicht von Karthago, sicher nicht von Athen und ganz und gar nicht von Sidon und Tyrus, deren äußere Machtstellung immer maßlos überschätzt wurde. Man erinnert sich noch des Erstaunens der weißen Völker, als die Japaner mit einem fast über Nacht geschaffenen Heer das damals zahlenmäßig stärkste, das russische, schlugen. In wenigen Jahrzehnten hat sich Japan dazu eine Flotte und eine wirtschaftliche Kampf Organisation geschaffen, in Verbindung mit seiner Insellage also eine Macht, die den stärksten Mächten der »weißen Welt« ebenbürtig ist und von der heute noch niemand weiß, ob sie nicht eines Tages stärker sein wird.

Von dieser Seeherrschaft der Kafti wissen wir nichts durch historische Berichte. Sie läßt sich nur aus ihren mittelbaren politischen Wirkungen und durch die Masse von Funden bestimmen, welche den Verkehrshorizont begrenzen. Aber das genügt auch für die Feststellung der Macht, die sich in solchen Tatsachen zum Ausdruck bringt, und es ist wichtiger als alles, was[260] in Knossos selbst ausgegraben wurde. Wenn die antike Literatur verlorengegangen wäre und wir auf das Schicksal Karthagos nur aus den dürftigen vorrömischen Resten im Stadtbezirk schließen wollten, so würden wir hier einen wenig bedeutenden Handelsplatz halb griechischer, halb phönikischer Art annehmen und einiges über dessen Kunst und Religion erschließen. Wir würden keine Ahnung haben von der Macht, die in drei großen Kriegen mit Rom um die Weltherrschaft rang, die das westliche Mittelmeer beherrschte und die Griechen daraus vertrieb, halb Spanien, Sizilien, Sardinien besaß und nur daran zugrunde ging, daß hinter dem größten Feldherrn der Antike, Hannibal, kein ebenbürtiger Staatsmann und überhaupt keine starke Staatsorganisation stand. Ist das auch das Verhängnis der Kafti gewesen, wie es das der deutschen Hanse war?

1

Es steht an Größe der Folgen der Schlacht bei Aktium und der Taufe Chlodwigs zur Seite, durch die zwei noch ungeborene Hochkulturen ein wegbestimmendes Erbe erhielten (Unterg. d. Abendl. Bd. II Kap. III § 2). Ohne die 200 Jahre Kaftiherrschaft würde das Antlitz der Antike ganz anders geraten sein.

2

Unterg. d. Abendl. Bd. II Kap. V § 13.

3

Unterg. d. Abendl. Bd. II S. 530 ff.

4

Ich nenne die Namen Washington, Mirabeau, Robespierre, Pitt, Napoleon, Talleyrand, Metternich, nur um typische Möglichkeiten anzudeuten.

5

Unterg. d. Abendl. Bd. I, Einleitung, § 12; Kap. IV, § 19; Kap. V, § 13; Bd. II, Kap. II, § 5; Kap. IV, § 13 usw.

6

Ich habe das in der Quesadafestschrift (Ibero-amerikanisches Archiv VII 2) angedeutet.

7

Wedemeyer, Japanische Frühgeschichte (Tokio 1930).

8

O. Nachod, Geschichte von Japan (1929) II S. 19 ff.

9

Gundert, Japanische Literatur (1929) S. 12 ff.

10

Kümmel, Die Kunst Chinas und Japans (1929) S. 104 ff.

11

Rodenwaldt, Tiryns Bd. II S. 198.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 255-261.
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