13

[271] Ebenso befand sich der Westweg nach »Tarschisch«, den Meeren und Ländern »gegen Abend«, vollkommen in den Händen der Kafti. Das wird deutlich und selbstverständlich, sobald man die verkehrspolitische Lage dieser Zeit begreift. Das westliche Mittelmeer ist durch die Schranke, welche von Apulien, Kalabrien, Sizilien und Tunis gebildet wird, nach Osten hin bis auf zwei Durchfahrten völlig abgeschlossen. Die breitere befindet sich zwischen Tunis und Westsizilien, dessen Buchten, Vorgebirge und kleine Inseln die Einfahrt in die sardinischen und tyrrhenischen Gewässer unter Aufsicht halten. Daher der Wert, den tausend Jahre später die Karthager auf diese Inselspitze legten. Nur beide Stellungen zusammen bildeten die sichere Basis für eine unbedingte Herrschaft zur See. In verschiedenen Händen hätten sie sich gegenseitig neutralisiert.1 Die andere sehr schmale[271] Straße ist die von Messina, zu welcher die Karthager von Westen her immer wieder vorzudringen suchten, und deren Beherrschung durch die Mamertiner, die sich in Messana festgesetzt hatten und römischen Schutz suchten, den Anlaß zum Ausbruch des Krieges zwischen Karthago und Rom gab.2 Dahinter lagen die weiten Gewässer, von denen die Kafti nur das wissen konnten – ob wahr oder falsch –, was man ihnen erzählte. Die Fahrt vom Osten dorthin längs der afrikanischen, wenig bevölkerten Küste war kaum oder gar nicht bekannt. Auch die Ägypter fuhren nach Syrien, wenn sie Waren aus dem fernen Westen erhalten wollten. Das mag daran gelegen haben, daß sich hier sehr wenige gute Landeplätze fanden, an denen man mit einiger Sicherheit Wasser, Lebensmittel und vor allem Holz für Reparaturen erhalten konnte, vielleicht auch daran, daß mit den Stämmen von Barka, die selbst Seefahrt trieben, eine Verständigung unmöglich war, endlich an Untiefen und Meeresströmungen. Der Verkehr hielt sich also an die nördlichen Küsten, und damit war eine Seemacht auf Kreta in der Lage, ihn vollkommen zu beherrschen. Die Verhältnisse im östlichen und südlichen Peloponnes, auf den westgriechischen Inseln von Zakynthos bis Korkyra, in Apulien und Kalabrien waren also von entscheidender Bedeutung. Hier mußte man sichere Stützpunkte und Verträge mit den Küstenstämmen haben, die alle Seeraub trieben, sonst war die große Tarschischfahrt unmöglich.

Das natürliche Ende der Westfahrten ist damit gegeben. Es waren die Tauschplätze an dieser Schranke selbst, vor allem in Ostsizilien. Dahinter lag der »wilde Westen«, wo überall an Küsten und auf Inseln, vor allem auf Sardinien,3 seetüchtige Stämme und Stammesgruppen saßen, die jeden Versuch des Eindringens durch die beiden Straßen sinnlos machten. Hier drohten unbekannte Gefahren, welche der Mangel an eigener Anschauung ins Groteske und Sagenhafte wachsen ließ.

Der geographische Horizont der Menschen im Osten war hier zu Ende und ebenso die Interessen der Handelsfahrer. Die Kafti[272] dachten gar nicht an unsinnige Abenteuer, selbst wenn ihre Vorfahren einst von hier nach Kreta gekommen sein sollten. Dergleichen vergaß sich damals schnell. Was haben selbst die Griechen der homerischen Frühzeit von der wirklichen Ankunft ihrer Großväter am Ägäischen Meer behalten? Ihre gesamte »Urgeschichte« ist freie Schöpfung der Fantasie. Geographische Neugier und Entdeckerfreude gehörten noch lange nicht zu den dämonischen Antrieben menschlicher Geister.

Daß je ein Kaftischiff nach Spanien gekommen oder, richtiger gesagt, von dort zurückgekommen sei, ist ausgeschlossen.4 Dort findet sich bis auf die deutliche Wirkung phönikischer Seefahrten seit dem 7. Jahrhundert nichts, was auf einen Verkehr mit dem östlichen Mittelmeer schließen läßt.5 Selbst wenn einmal ein paar Gegenstände aus Kreta gefunden werden sollten – wie die Kupferbarren von Serra Ilixi auf Sardinien –, so würde das nichts für Kaftifahrten hierher beweisen, sondern nur eins der zahllosen Beispiele dafür sein, wie weit einzelne kostbare und merkwürdige Dinge durch Raub oder Tausch von Hand zu Hand verschleppt werden können. Nur auf diesem Wege ist manches Ägyptische aus dem 3. Jahrtausend in die tiefsten Schichten von Knossos und Asine geraten. Wirklicher Seeverkehr bezeugt sich durch Massen von Funden in den Gegenden, wo man zu landen pflegte, und das ist in Ostsizilien der Fall, wo Seeleute aus dem ferneren Osten Scherben von Gebrauchsgeschirr in Menge fortgeworfen haben und wo sich in Thapsos und Plemmyrion Bronzeschwerter minoischer Arbeit wie die in Knossos und den Schlachtgräbern von Mykene, Schaftlochäxte wie die aus Palaikastro in Ostkreta, in Pantalica »Rasiermesser« von der Form derjenigen aus Knossos, Schmucksachen kretischer und kyprischer Art und dergleichen gefunden haben.6 Alle Stücke aus[273] Kupfer und Bronze kamen aus dem Osten hierher, ebenso das Rohkupfer.7 Erst in der späteren Kaftizeit sind auch kretische Schmiede dort eingewandert und haben ihren Schatz an Technik und Formen mitgebracht.8

Aus verkehrspolitischen und strategischen Gründen erklärt es sich nun auch, daß seit 1600 an der Süd- und Ostküste des Peloponnes »minoische« Funde plötzlich in Menge auftauchen, sehr im Gegensatz zur Kamareszeit, wo von einem Verkehr zwischen Kreta und der Argolis überhaupt nichts zu merken ist.9 Das war sicher nicht allein die Folge des Handels mit den eingebornen Stämmen, der nur einen geringen Ertrag abgeworfen haben kann, denn die Glanzzeit der Kuppelgräber und Burgen lag noch in ferner Zukunft. Es beruhte auf der schicksalschweren Tatsache, daß jemand, der hier gegenüber von Kreta eine unabhängige Macht gründete, damit seine Hand auf die Tarschischfahrt gelegt und die Stellung der Kafti unhaltbar gemacht hatte. Das ist gegen 1400 wirklich eingetreten.

Deshalb müssen die Kafti, denen man eine klare Erkenntnis dieser Lage gewiß nicht absprechen kann, hier von Anfang an politisch eingegriffen haben, indem sie Inseln, Vorgebirge und andere wichtige Punkte besetzten, die Stammeshäuptlinge ihrer Herrschaft unterstellten oder sie sonstwie in ihr Interesse zogen, durch bewaffnete Unterstützung oder reiche Geschenke. Zu diesen[274] mögen zum guten Teil die Kostbarkeiten in den Schachtgräbern von Mykene gehören. Der Rest ist Kriegsbeute. Die »ephyräischen Becher«, die Biegen in Korakou, der alten Küstensiedlung des 16. Jahrhunderts bei Korinth, gefunden hat und die auch auf Melos und in Mykene vorkommen, stammen aus der Werkstatt eines Kaftimeisters, die sich auf dem Festland befand.10 Die Insel Melos, in der Mitte zwischen Kreta und der argolischen Küste, besaß während der ganzen Kaftizeit eine größere Stadt mit einem vorzüglichen Hafen, sicher nicht allein wegen des Obsidians, der hier abgebaut und weithin verschifft wurde, sondern weil sie einen Flottenstützpunkt ersten Ranges darstellte. Nachdem die Stadt, doch sicher durch einen Piratenüberfall oder Seekrieg, zerstört worden war, wurde sie als starke Festung sofort wieder aufgebaut.

1

Die jahrhundertelangen Kämpfe der Karthager erst gegen die Griechen, dann gegen die Römer galten immer der Abwehr derjenigen Macht, die vom Osten der Insel aus die Stellung auf der Westseite bedrohte. Mit deren Verlust war Karthago strategisch keine Seemacht mehr.

2

Dazu kommt die Straße von Brindisi, welche das Adriatische Meer abschließt.

3

S. 198.

4

Auch in die Adria, die zu allen Zeiten durch die Piratenstämme der inselreichen Ostküste unsicher gemacht wurde, sind erst griechische Seemächte mit ihren schweren Schiffstypen zögernd eingedrungen.

5

Bosch-Gimpera (Klio 22 S. 350 ff.). Auch in Gades und Ibiza ist nichts Älteres gefunden worden (del Castillo, Reall. d. Vorgesch. XII S. 165).

6

C. und H. Cafici, Reall. d. Vorgesch. XII S. 199 ff.

7

Zwischen den Stämmegruppen im Osten und Westen Siziliens wird zu Lande kaum ein Verkehr bestanden haben. Vielleicht war die Inselmitte überhaupt so gut wie unbewohnt wegen der Fremdheit und Feindschaft der beiden Bevölkerungen von so verschiedener Herkunft, Sprache und Kultur. Der Westen gehörte damals so entschieden zu Sardinien und Spanien wie der Osten zu Kreta und Kypros.

8

S. 207.

9

Die Kamaresstämme müssen, nachdem sie die Ebenen von Mittelkreta erobert hatten, ein ziemlich abgeschlossenes Dasein geführt haben, denn auch auf Kypros und in Syrien findet sich wenig aus ihrer Zeit. Diese sonderbare Erscheinung tritt uns in der Geschichte öfters entgegen. Auch England, obwohl von seefahrenden Stämmen, den Angeln, Sachsen, Dänen, Normannen erobert, war seit 1066 trotz der Besitzungen seiner Könige und Ritter in Westfrankreich lange Zeit fast ohne eigenen Seehandel. Noch entschiedener war die Abschließung Japans 1614 bis 1852.

10

Reall. d. Vorgesch. I S. 37. Bilder bei Blegen, Korakou (1921).

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 271-275.
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