§ 31. Die Hochzeitsfeier.

[283] Die auf solche Weise Gewonnene und zur Selbstwahl Verschrittene verbinde man mit sich durch den Gandharvenritus. Umgekehrt, durch den der Halbgötter usw. So ergibt sich denn »die Hochzeitsfeier«. Hierbei findet man gewöhnlich den Gandharvenritus angewendet. – Inzwischen gibt (der Verfasser) die Regel an, wie sie durch fremde Hilfe gewonnen wird:


[283] Gewöhnlich nähert man sich, wenn man, bei der Unmöglichkeit, das Mädchen allein zu sehen, ihre Milchschwester durch Liebe und Fürsorge gewinnt.


»Die Milchschwester«, d.h. die schon einen Mann hat. »Man nähert sich«, wenn man sie »durch Liebe und Fürsorge gewinnt«: man schicke sie als Bevollmächtigte in ihre Nähe.


Sie gewinne jene, indem sie den Liebhaber nicht zu kennen vorgibt, durch seine Vorzüge; sie schildere ihr ganz besonders die herrlichen Tugenden des Liebhabers; die Fehler der übrigen Freier, die ihren Gefühlen widerstreiten, ziehe sie ans Licht: den Mangel am Verständnis für Vorzüge seitens der Eltern, ihre Habgier und den Leichtsinn der Verwandten. Sie erzähle ihr von den anderen, ebenbürtigen Mädchen, der Śakuntalā usw., die nach eigner Wahl einen Gatten fanden und der Liebeslust teilhaftig wurden, während man in feinen Familien Frauen findet, die unter der Rivalität der Nebenbuhlerinnen zu leiden haben, Abneigung empfinden, unglücklich sind und verlassen werden. Sie schildere seine Zukunft, das ununterbrochene Glück, da sie allein bleiben wird, und seine Zuneigung zu der Geliebten. Wenn sie Verlangen empfindet, beseitige sie ihre Gefahr, Ängstlichkeit und Scham mit Gründen und führe alle Geschäfte einer Botin. Sie bemerke: »Der Liebhaber wird dich mit Gewalt gewinnen, gleich als wüßtest du nichts davon«; so dürfte es wohlgetan sein.


»Sie«, der sich der Mann genähert hat. »Indem sie den Liebhaber nicht zu kennen vorgibt«, um eine verkehrte Ausführung zu vermeiden. »Durch seine«, des Liebhabers, »Vorzüge«. – »Die ihren Gefühlen widerstreiten«: d.h. so, daß sie sie nicht wünscht. – »Mangel am Verständnis für Vorzüge und Habgier«: ›Deine Eltern verstehen nichts von Vorzügen und sind habgierig, daß sie einen tugendreichen Mann aufgeben und einem andern, reichen, an Tugenden armen nachjagen.‹ – Indem sie denken: »Dieser entspricht mir nicht«, entschließen sie sich »nach eigner Wahl«, nicht nach dem Wunsche der Eltern. Mit Bezug darauf erzähle sie Geschichten, wie sie sich mit Śakuntalā usw. begeben haben. Als Kauśika die Apsarase Menakā erblickt hatte, welche von Indra abgeschickt worden war, um seine Bußübungen unschädlich zu machen, erwachte[284] seine Leidenschaft und er genoß sie. Da sie seinen Samen aufgenommen hatte, gebar sie dort eine Tochter, ließ sie im Walde zurück und fuhr gen Himmel. Das von einem Vogelschwarme (śakunta) umgebene Mädchen nahm der große Heilige Kaṇva in seine Einsiedelei und zog es aus Erbarmen auf. Treffend gab er ihr den Namen Śakuntalā. Als sie mit der Zeit das jugendliche Alter erreicht hatte, erblickte sie den gelegentlich der Jagd dorthin gekommenen König Duṣyanta und verheiratete sich mit ihm nach eigner Wahl. – Das Wort ›usw.‹ bedeutet, daß sie auch auf andere Mädchen hinweisen soll, die die Gattinnen von Königen geworden sind. – »In feinen Familien« werden die Töchter von dem Vater aus Gewinnsucht hingegeben und haben dann bestimmt »unter der Rivalität der Nebenbuhlerinnen zu leiden«. Dann findet man, daß sie »Abneigung empfinden« gegen ihre Umgebung, »verlassen werden« und »unglücklich sind«. Darauf deute sie hin. – »Seine Zukunft«, die für später bevorstehende hohe Stellung mit Worten wie: »Es wird wirklich dahin kommen«. – »Das ununterbrochene Glück, da sie allein bleiben wird«, da sie die einzige Gattin bleiben wird, indem das Elend der Streitigkeiten der Nebengattinnen ihr fern bleiben wird, schildere sie; und die »Zuneigung« des Liebhabers. – »Wenn sie Verlangen empfindet«: sie empfindet Verlangen, aber sie sieht das Bedenkliche des Unternehmens; mit Bezug darauf sagt (der Verfasser): »Gefahr«: irgendwoher drohendes Verderben; »Ängstlichkeit«, Furcht vor den Eltern; »und Scham«, vor der Umgebung »beseitige sie mit Gründen«, listigen Mitteln und Beweisen. – »Geschäfte einer Botin«, das in dem Abschnitte über die fremden Weiber zu beschreibende Bewirken des Hintergehens. – »Gleich als wüßtest du nichts davon«: »Er wird dich mit Gewalt gewinnen, gleich als wüßtest du nichts davon«: so trifft dich keine Schuld. – »So«, auf diese Weise, dürfte es wohlgetan sein.


Die Erlangte, an geeigneter Stelle Befindliche heirate der Liebhaber, nachdem er aus dem Hause eines Brahmanen Feuer geholt, heiliges Gras gestreut, nach Vorschrift geopfert und dreimal herumgegangen ist. Darauf melde er es der Mutter und dem Vater. Heiraten nämlich, die angesichts des Feuers geschlossen werden, sind unlöslich: so lautet die Überlieferung der Meister.
[285]

»Die Erlangte«, die Gewonnene, am einsamen Orte Weilende. »Eines Brahmanen«, da das dortige Feuer geheiligt ist. – »Nach Vorschrift«, nach der Regel seines Gṛhya. – »Dreimal herumgegangen«, um das Feuer geschritten. – »Er melde es« durch einen Diener, daß sie von dem Liebhaber geheiratet worden ist. – »Sind unlöslich«: das bedeutet, daß sie von keinem anderen geheiratet werden kann. Bei rechtmäßigen Heiraten ist das Vorhandensein von Feuer erforderlich.


Nachdem er sie befleckt hat, teile er es langsam seinen Angehörigen mit. Er wirke dahin, daß die Verwandten unter Vermeidung häuslichen Ungemaches und aus Furcht vor der Strafe sie ihm geben. Darauf gewinne er ihre Verwandten durch liebevolles Umschmeicheln und Zuneigung. So handele man nach dem Gandharvenritus.


»Nachdem er sie befleckt hat«, d.h. nachdem er sie beschlafen hat, nicht bloß geheiratet: »teile er es langsam seinen Angehörigen mit«, damit sie sie aufnehmen; und damit die Eltern sie in diesem Zustande sogar hergeben, sagt (der Verfasser): »Die Verwandten« der Geliebten. – »Unter Vermeidung häuslichen Ungemaches«: daß sie von dem Liebhaber heimlich gewonnen worden ist, bildet ein Ungemach, einen Makel: wird sie ihm nicht überlassen, so leidet die Familie Schaden. – »Und aus Furcht vor der Strafe«: wenn der König hört, daß sie so handeln, dann dürfte er über sie Strafe verhängen. – »Ihm«, eben dem Liebhaber.

Mit Bezug auf ein Mädchen, welches daheim festgehalten wird, sagt (der Verfasser):


Wenn sie ihre Einwilligung nicht gibt, gewinne er eine andere, dort aus und ein gehende anständige Frau, die von früher bekannt ist und ihm wohl will, und lasse jene durch sie unter dem Vorgeben eines anderen Zweckes an einen zuträglichen Ort bringen. Darauf hole er aus dem Hause eines Brahmanen Feuer, ganz wie oben.


»Wenn sie ihre Einwilligung nicht gibt«, wenn sie nicht von selbst sich heiraten läßt. – »Dort aus und ein gehende«, vertraute, »andere anständige Frau«, mit der sie von früher verbunden ist, durch das Wohlwollen der Eltern, und die »ihm«,[286] dem Liebhaber, »wohl will«. Diese »gewinne er«, besteche er mit Geld. »Zuträglich«, geeignet. – »Lasse sie holen«, durch einen Boten, indem er einen andern Zweck angibt. – »Ganz wie oben«: d.h. wie vorher angegeben, »aus dem Hause eines Brahmanen« usw.


Wenn die Hochzeit bevorsteht, lasse sie die Mutter derselben Reue empfinden wegen der Fehler des in Aussicht genommenen Gatten. Darauf führe sie mit ihrer Erlaubnis den Liebhaber nachts in das Haus einer Nachbarin. Darauf hole sie aus dem Hause eines Brahmanen Feuer, ganz wie oben.


»Mit ihrer Erlaubnis«, mit der Einwilligung der Mutter, nachdem sie Reue bekommen hat. – »In das Haus einer Nachbarin«, indem diese durch Geld gewonnen worden ist. – Das ist die zweite Art.


Oder er umschmeichele eine recht geraume Zeit ihren gleichalterigen, an Hetären oder fremden Weibern hängenden Bruder vermittelst nicht leicht auszuführender Liebesdienste und freundlicher Aufwartungen. Schließlich teile er ihm seine Absichten mit. Gewöhnlich nämlich lassen junge Leute sogar ihr Leben für ihre Freunde von gleichem Charakter, gleichen Neigungen und gleichem Alter. Darauf lasse er sie durch ihn zu einem andern Zwecke herbeiholen; an einen zuträglichen Ort, wie oben.


»Ihren Bruder« von ähnlichem Alter, der ganz besonders anhänglich ist. »Vermittelst nicht leicht auszuführender«, schwer zu leistender, »Liebesdienste«: durch das Verschaffen von schwer zugänglichen Frauen usw. »Freundlicher Aufwartungen«, liebenswürdigen Behandelns u.a. Das ist die Regel für das Gewinnen. – »Seine Absichten«: ›Ich wünsche deine Schwester zu heiraten.‹ – »Zu einem andern Zwecke« ... d.h. unter dem Vorgeben eines andern Zweckes. Auch hierbei lasse er die Geliebte holen. – Das ist die dritte Art.

Der Ritus der Dämonen besteht in dem Erlangen eines schlafenden oder trunkenen Mädchens. Mit Bezug darauf sagt (der Verfasser):


Am Aṣṭamīcandrikā-Feste usw. lasse die Milchschwester sie einen berauschenden Trank trinken und führe sie zu dem Liebhaber an einen zuträglichen Ort, indem sie irgend einen persönlichen Grund vorgibt. Wenn er sie dort, während sie infolge[287] des berauschenden Getränkes ohne Bewußtsein ist, befleckt hat, dann wie oben.


»Am Aṣṭamicandrikā-Feste« wird am Tage unter andächtigen Übungen gefastet und in der Nacht gewacht, bis der Mond aufgeht. – Darauf »lasse die Milchschwester«, die dem Liebhaber zugetan ist, »sie einen berauschenden Trank trinken«, Schnaps usw. – »Irgend einen persönlichen Grund«: d.h. »Ich bin weggegangen, indem ich meinen Ring liegen ließ; laß uns dorthin gehen!« Unter diesem Vorwande führe sie sie hin. – »Dort«, an dem zuträglichen Orte. – »Bewußtsein«, Besinnung. – »Befleckt hat«: ›nachdem er sie befleckt hat, teile er es langsam seinen Angehörigen mit. Er wirke dahin, daß die Verwandten‹ usw. wie oben. – Das ist die eine Weise.


Wenn er die Schlafende und, nachdem er die Milchschwester entfernt hat, Alleingelassene befleckt hat, während sie ohne Bewußtsein ist, wie oben.


»Die Schlafende und Alleingelassene«: die auf dem Schöße Eingeschlafene. Das ist die zweite Art. Hierbei findet kein Herbeiholen von Feuer usw. statt, da der Ritus ungesetzlich ist.

Der Ritus der Teufel besteht in dem gewaltsamen Raube: mit Bezug darauf sagt (der Verfasser):


Wenn der Liebhaber erfahren hat, daß sie nach einem andern Dorfe oder nach einem Garten steh begibt, so verjage oder töte er die Wächter, mit Freunden wohl umgeben, und raube das Mädchen. – Das ist die Hochzeitsfeier.


»Nach einem andern Dorfe«: aus dem einen Dorfe in ein anderes. »Mit Freunden wohl umgeben«, indem er viele wohlgerüstete Freunde bei sich hat. – »Die Wächter«, die Beschützer des Mädchens. – »Er verjage sie«, daß sie sie im Stiche lassen und fliehen; »oder töte sie«, mit Schwerthieben »und raube das Mädchen«, wie Kṛṣṇa die Rukmiṇī. Auch hierbei findet kein Herbeiholen von Feuer usw. statt, da dieser Ritus ungesetzlich ist. – »Die Hochzeitsfeier«, das Gebiet des Gandharvenritus usw.

Welche unter den acht Hochzeitsarten ist nun die beste und wonach entscheidet man das? – Darauf antwortet (der Verfasser):


[288] Immer der vorangehende Hochzeitsritus dürfte der beste sein, da er zu Recht besteht; wo aber von einem vorangehenden keine Rede sein kann, wähle man immer den folgenden.


»Da er zu Recht besteht«, d.h. da er nach den Satzungen des Rechtes zustande kommt. Hierbei sind die vier vorangehenden die gesetzlichen. Nach dieser Auffassung sind der Brahma-Ritus usw. besser als der Gandharvenritus. Hier sagen einige: »Immer der vorangehende«, je nach dem mehr oder meist. Nach der einen Auffassung gibt es nur sechs Arten und davon ist der Gandharvenritus besser als der der Halbgötter, und diese beiden gelten noch für gesetzlich; trotzdem ist aber auch hierin je nach der Reihenfolge der Rang ein verschiedener: so gut wie der Gandharvenritus ist eben der der Halbgötter nicht! Einige sagen: »Der Ritus der Halbgötter ist besser als der der Dämonen, da dieser gesetzwidrig ist; und auch der Ritus der Dämonen ist besser als der der Teufel, wiewohl er gesetzwidrig ist, da der Ritus der Teufel in Gewalttätigkeit besteht. ›Immer der Folgende‹, ist anders infolge der anderen Ausführung.«

Der Gandharvenritus ist der beste: so sagt (der Verfasser):


Da der Lohn der Feier der Hochzeiten die Zuneigung ist, so steht der Gandharvenritus, mag er auch der mittelste sein, doch in hohem Ansehen als treffliche Verbindung.


»Feier«, Schließung. Der »Lohn« ist die »Zuneigung«. Sonst wäre ja die Heirat nutzlos, wenn die Zuneigung ausbliebe. »Mag er auch der mittelste sein«: wenn man nach der einen Ansicht nur sechs annimmt. »Treffliche Verbindung«: hierbei findet eine herrliche, in Zuneigung bestehende Verbindung statt; und wegen dieser trefflichen Verbindung heißt er der Gandharvenritus.

Da es sich so verhält, ist er der beste. So sagt (der Verfasser):


Da der Gandharvenritus Wonne bringt, ohne viel Mühe vorgenommen werden kann und ohne Freien geschieht, sein Wesen aber in der Zuneigung besteht, so gilt er als der allerbeste.


»Da er Wonne bringt«, die Ursache von Wonne ist, »ohne viel Mühe vorgenommen werden kann«, gewöhnlich: d.h. im allgemeinen ist er mühelos auszuführen; »und ohne Freien geschieht«, indem kein Freien dabei stattfindet.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 283-289.
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