§ 20. Die platonischen Schriften.

  • [88] Literatur: Aus der nachgerade fast unübersehbar gewordenen Literatur über die platonischen Schriften – in der 10. Auflage von Überweg füllen allein die Büchertitel nicht weniger als 151/2 große, enggedruckte Seiten – heben wir als die wichtigsten hervor:
    [88] Tennemann, System der platonischen Philosophie, 4 Bde., 1796. Schleiermachers Einleitungen zu seiner Plato-Übersetzung (s. u.) K. Fr. Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie. Heidelberg 1839. E. Munk, Die natürliche Ordnung der platonischen Schriften. Berlin 1856. Ueberweg, Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge platonischer Schriften. Wien 1861. H. Bonitz, Platonische Studien 1858-60, 3. Aufl. 1886. H. v. Stein, Sieben Bücher nur Geschichte des Platonismus. Göttingen 1864. G. Grote, Platon and the other companiom of Socrates 1865, 2. Aufl. 1885. Schaarschmidt, Die Sammlung der platonischen Schriften. Bonn 1866. Außerdem vergl. besonders die betr. Abschnitte der großen Werke von Brandis, der im allgemeinen Schleiermacher folgt, und Zeller. Neuerdings: Lutoslawski, The origin and growth of Plato's logic. London 1897. 3. Aufl. 1905. Die kurze (190 S.) Monographie »Platon« (Frommanns Klassiker IX) von W. Windelband, (4. Aufl. 1910) ist sehr anregend geschrieben, aber auch stark subjektiv gefärbt. Am gründlichsten von allen Natorp, Platos Ideenlehre in genetischer Darstellung, Leipzig 1903.

Als Werke Platos sind uns aus dem Altertum 35 Dialoge und eine Sammlung Briefe überliefert, von dem alexandrinischen Grammatiker Aristophanes von Byzanz (um 200 v. Chr.) in Trilogien, von dem Neupythagoreer Thrasyllos (zu Tiberius' Zeit) in 9 Tetralogien geordnet. Indessen ist die Echtheit, namentlich aber die Abfassungszeit vieler von ihnen so zweifelhaft, daß sich in der Altertumswissenschaft neben der »homerischen« allmählich eine platonische »Frage« herausgebildet hat, die einer völlig präzisen und endgültigen Lösung vielleicht für immer entbehren wird.

Wie in manchen anderen philosophiegeschichtlichen Fragen, gab Fr. Schleiermacher auch hier den Anstoß zur Erörterung, indem er seine neue Anschauung von der Reihenfolge der platonischen Schriften und damit von der philosophischen Entwicklung ihres Autors aufstellte. Plato, sagte er, habe seine Schriften nach einem einheitlichen schriftstellerischen Plane ausgearbeitet. »Der wahre Philosoph hebt nicht mit etwas Einzelnem an, sondern mit einer Ahnung wenigstens vom Ganzen.« Von diesem Gesichtspunkt aus unterschied Schleiermacher: 1. propädeutische oder elementare, 2. anwendende oder vermittelnde, 3. darstellende oder konstruktive Dialoge; außerdem: Hauptwerke, Nebenwerke und Gelegenheitsschriften. Schleiermachers Hypothese ist fruchtbar und anregend, aber doch nur eine geistreiche Konstruktion. Demgegenüber hob K. Fr. Hermann mit Recht hervor: Hatte Plato eine solche Absicht, warum verhüllte er sie[89] dann so, daß erst Schleiermacher sie entdecken mußte? Und was sollte ihn bewegen, dem Leser statt ausgereifter Gedanken seine eigene Entwicklungsgeschichte vorzuführen? Hermann legte vielmehr den historischen Gesichtspunkt in erster Linie zugrunde und unterschied: 1. die Zeit des Umgangs mit Sokrates, 2. die Zeit der Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen (von der Übersiedlung nach Megara bis zur Gründung der Akademie), 3. die Zeit der Reife. Munk wollte. Schleiermachers Hypothese noch überbietend, in Platos Schriften eine idealisierte Entwicklungsgeschichte des Sokrates (!) sehen und ihre Ordnung durch das in den Dialogen allmählich anwachsende Lebensalter des Sokrates bestimmt wissen. Andere, vermittelnde Hypothesen übergehend, erwähnen wir noch die in neuerer Zeit in den Vordergrund getretene stylometrische oder sprachstatistische Methode, wonach aus einer aufgestellten oder vielmehr (im Anschluß an das geplante internationale Unternehmen eines großen Platolexikons an Stelle des längst veralteten von Ast, Leipzig 1834 ff.) erst aufzustellenden genauen Statistik des Sprachgebrauchs auf die Abfassungszeit der verschiedenen Dialoge geschlossen werden soll. Nachdem der Schotte Campbell (1867) und der Deutsche Dittenberger (1881, Hermes 16. Bd.) mit ähnlichen Untersuchungen begonnen hatten, wurde diese Methode neuerdings besonders von Lutoslawski gefordert und geübt, der in seinem Werke (s. oben S. 89) nicht weniger als 500 platonische Spracheigentümlichkeiten mit etwa 50000 einzelnen Fällen behandelt hat, vergl. den Bericht von P. Meyer in Zeitschr. f. Philos. 110, 171-217, auch die Untersuchungen P. Natorps im Archiv f. Gesch. d. Philos. Bd. XI – XIII (1898-1900). Die wichtigsten und zuverlässigsten bisherigen Ergebnisse dieser noch nicht abgeschlossenen »stylometrischen« Untersuchungen werden wir bei unserem eigenen Endergebnis (Ende des §) berücksichtigen.

Wie die Frage der Abfassungszeit, so hat auch diejenige der Echtheit die verschiedensten Beurteilungen gefunden, von dem Konservatismus Grotes an, der sämtliche von Thrasyllos bezeugte Schriften für echt, bis zu Schaarschmidt, der sie alle mit Ausnahme von neunen für unecht hielt. Von beiden Extremen ist man längst zurückgekommen. Ein maßgebendes Kriterium bildet die Erwähnung bei Platos unmittelbarem Schüler Aristoteles. Dieser bezeichnet ausdrücklich als platonische Werke: den Staat, die Gesetze und den Timäus; mit deutlicher[90] Beziehung auf ihn nennt er Phädo, Symposion, Phädrus und Gorgias; mit Namensnennung Platos zitiert er Sätze aus Theätet und Philebus. Diese neun Dialoge sind demnach als sicher echt anzunehmen: was selbstverständlich auch bei anderen, von Aristoteles zufällig nicht genannten der Fall sein kann. Dahin gehören so gut wie sicher die Jugendschriften: Apologie, Krito, Euthyphro, Laches, Lysis und Protagoras. Unecht oder doch höchst zweifelhaft sind: Theages, Menexenos, Alcibiades I und II, Hippias maior, einige kleinere (Ion) und die meisten Briefe. Andere, wie Parmenides, Sophistes und Politikus, stammen, wenn sie nicht von Plato selbst herrühren, so doch sicher aus dem platonischen Kreise. Der Grundstock des überlieferten ist echt, und wir besitzen in ihm erfreulicherweise alles, was Plato – soviel wir wissen – geschrieben hat.

Ausgaben und Übersetzungen. Die Geschichte der platonischen Schriften ist mit dem Einfluß ihres Verfassers auf die philosophische Entwicklung, den wir noch kennen lernen werden, eng verwachsen. In der Zeit der Renaissance gehörte Plato zu den ersten antiken Autoren, deren Werke gedruckt wurden: zuerst in der lateinischen Übersetzung des Marsilius Ficinus 1483f., dann griechisch 1513 bei Aldus Manutius in Venedig. Zitiert wird noch heute nach den Seitenzahlen der Pariser Ausgabe von Stephanus (1578). Von den neueren Gesamtausgaben nennen wir die von Stallbaum 1821 ff., K. F. Hermann, (Teubner) 1851 ff. und die neueste, noch nicht abgeschlossene kritische von M. Schanz (in 12 Bänden), Leipzig 1875 ff. – Von deutschen Übersetzungen die von Schleiermacher 1804 ff., 1817 ff. (nicht alle Dialoge umfassend, einzelne davon abgedruckt bei Reclam), von Hieronymus Müller, mit Einleitungen von Steinhart (Leipzig 1850-66), von Kaßner und anderen im Verlage von E. Diederichs (Jena), 1904 ff., und als neueste die Neuausgabe der Philos. Bibl. mit guten Einleitungen (die meisten von O. Apelt). Auch ins Französische (von Cousin), Englische und Italienische sind Platos Werke übersetzt worden.


Wir verzichten unter den oben angegebenen Umständen auf eine Entwicklungsgeschichte der platonischen Philosophie, die überdies, auch wenn sie herstellbar wäre, in den Rahmen unserer Geschichte der Philosophie nicht passen würde. Statt dessen geben wir im folgenden eine[91] selbständig aufgestellte Gruppierung der platonischen Dialoge, die das nach Berücksichtigung aller aufgeführten Momente, insbesondere auch der stylometrischen Untersuchungen mit annähernder Sicherheit Feststehende zusammenfaßt. Zugleich bezeichnen wir kurz das Thema der einzelnen Gespräche. Eine solche kurze Inhaltsbezeichnung wird dem Leser um so willkommener sein, als wir später auf den Inhalt der einzelnen Dialoge nicht mehr zurückkommen, vielmehr eine Darstellung der platonischen Philosophie vom systematischen Gesichtspunkte aus geben. Auf eine genaue Chronologie innerhalb der einzelnen Gruppen macht die folgende Zusammenstellung um so weniger Anspruch, als die Meinungen der bedeutendsten Fachgelehrten über diesen Punkt noch vielfach auseinandergehen


I. Jugendwerke:

  • a) Zur Charakterisierung des Sokrates: Apologie (die von Plato fingierte Verteidigungsrede des Sokrates), Krito (Sokrates' Gesetzestreue).

  • b) Die kleineren ethischen Dialoge: Euthyphro (Frömmigkeit), Lackes (Tapferkeit), Charmides (Besonnenheit), Lysis (Freundschaft und Liebe).

II. Zur Auseinandersetzung mit den Sophisten.

Euthydem (übermütige Verspottung der sophistischen Trugschlüsse), Kratylos (gegen die sprachlichen Untersuchungen der Sophisten), Gorgias (gegen falsche Rhetorik), Protagoras (Überlegenheit der Philosophie gegenüber der Sophistik überhaupt), Meno (Lehrbarkeit der Tugend; »Wiedererinnerung«). Seinem Inhalt nach gehört in diesen Zusammenhang auch das I. Buch der Politeia (Dialog über die Gerechtigkeit).


III. Zeit der Reife (Ideenlehre).

Phaidros (Ideenlehre; Dreiteilung der Seele), Theaetet (Ideenlehre, bes. Erkenntnistheoretisches), Symposion (bei Aristoteles »die Liebesrede«, schildert den Eros als den philosophischen Grundtrieb), Phaidon (von der wahren Unsterblichkeit), Politeia II – X (der beste Staat; Buch V bis VII sind wahrscheinlich am spätesten verfaßt), Parmenides (die Ideen und das Eine).
[92]


IV. Alterswerke.

Sophistes [?] (Wesen des Sophisten), Politikos [?] (Begriff des Staatsmanns), Philebos (die Idee des Guten, im Gegensatz zu der Lust), Timaios (Naturphilosophie), Kritias (geschichtsphilosophisches Fragment, vom Urzustand der Menschheit), Gesetze (der zweitbeste Staat).


Zum Schluß noch ein Wort über den platonischen Stil. Plato ist nicht bloß Denker, sondern auch Künstler, oder vielmehr beides aufs innigste verschmolzen. Seine Dialoge, wenigstens die seiner Jugend- und Reifezeit, sind daher kleine Kunstwerke, die In plastischer Anschaulichkeit und dramatischer Lebendigkeit Personen und Meinungen darstellen, mit dichterischem Schwung in reicher Bildersprache geschrieben. Kein Wunder daher, wenn eine nüchternere, nur auf das begriffsmäßige Denken gerichtete Natur wie Aristoteles in der Ideenlehre bloß »leeres Gerede« und »dichterische Metaphern« sah. Plato konnte als echt hellenische Künstlernatur gar nicht anders als die vollgestaltig in ihm lebenden Gedanken farbenfrisch und markig ausgestalten. Zu seiner poetischen Anlage kam noch hinzu, daß er die ganze wissenschaftliche und politische, literarische und künstlerische Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen hatte, daß sein Genius befruchtet war von Homer und den großen Tragikern, von dem Zeus des Phidias wie von dem hochragenden Tempel der jungfräulichen Göttin seiner Stadt. Mit welchen Schwierigkeiten hatte überdies die für die Höhe und völlige Neuheit seiner Gedanken vielfach noch nicht voll entwickelte Sprache zu ringen! So mußte er Bilder zu Hilfe nehmen, mitunter auch in der Sprache des Mythos reden, um auch geringeren Geistern das sonst Unfaßbare faßbar zu machen. Den höchsten ästhetischen Genuß, weil den eines künstlerischen Ganzen, gewähren wohl Phaidros, Symposion und Phaidon, am großartigsten und ethisch am tiefsten wirkt seine umfangreichste Schöpfung, die 10 Bücher der Politeia, zum Eindringen in seine Erkenntnislehre möchte Theaetet am geeignetsten sein. Erst in seinen letzten Werken, dem Timaios und den Gesetzen, macht sich in der Abschwächung der Form wie des Inhalts das Alter bemerkbar.

Wir wenden uns nun sofort zu dem Neuen und Eigensten der platonischen Philosophie, der Ideenlehre. Die sokratische Vorstufe seines Denkens wird, soweit nötig, gelegentlich von selbst zur Erwähnung kommen.[93]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 88-94.
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