§ 22. Platos Begründung des Idealismus.

b) Verhältnis der Ideen zu der Sinnenwelt.

Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Mathematik.

  • [98] Literatur: H. Cohen, Platos Ideenlehre und die Mathematik. 1879. Kilb, Platos Lehre von der Materie. Diss. Marb. 1887. Natorp, a. a. O.

Sollte wirklich eine so unausfüllbare Kluft bestehen zwischen den Ideen und den Sinnendingen, wie viele Plato-Darsteller meinen?

Vor Erörterung dieser Frage ist zunächst das Vorurteil zu entfernen, als habe Plato die Welt der Erfahrung mißachtet. Das haben erst Spätere, die sich auf seinen Namen beriefen, insbesondere die Neuplatoniker, getan und dadurch den Idealismus in Verruf gebracht. Plato selbst ist, als echter Idealist, so weit von solcher Verachtung entfernt, daß er die gründliche Kenntnis der Erfahrungstatsachen vielmehr als die notwendige Vorbereitung zu der Ideenerkenntnis betrachtet, und von den »Hütern« seines Idealstaats verlangt, sie sollen an »Empirie« hinter niemandem zurückstehen. So ist denn von vornherein zu erwarten, daß er eine Verknüpfung der nur scheinbar in krassem Dualismus auseinanderklaffenden Welten gesucht habe, daß seine »hohe Sprache« auch hier »einer milderen Auslegung fähig« sei. Dem entspricht denn auch der urkundliche Befund.[98]

Unser Philosoph spricht an zahlreichen Stellen von einem Teilhaben (metechein) der Sinnendinge an den Ideen, von einer Gemeinschaft (koinônia) beider. An anderen wird das Verhältnis als Nachahmung (mimêsis) oder Ähnlichkeit, eigentlich Verähnlichung (homoiôsis) bezeichnet. Die Idee heißt weiter das Ur-oder Musterbild (paradeigma), dessen Abbilder (eidôla, homoiômata) die Dinge sind, in denen sie gegenwärtig ist. Wie ist ein solches Teilhaben (methexis), ein solches Gemeinschaftbesitzen (koinônein), Eine solche »Gegenwart« (parousia) zu fassen? Von denjenigen freilich nicht, welche mit Aristoteles die Ideen außer uns als starre Wesenheiten an irgendeinem »überhimmlischen« Orte suchen. Dagegen lösen sich alle vermeintlichen Schwierigkeiten und Widersprüche leicht durch unsere (§ 21) Deutung der Idee als Gedanke. Das Urbild thront eben nicht außerhalb, sondern in der Seele des Schauenden; und das Sinnending »nimmt teil« an den Ideen und erhält »Gemeinschaft« mit ihnen, insofern es in seiner begrifflichen Reinheit gedacht wird. Ein Gegenstand wird z.B. dadurch schön, daß er als teilnehmend an der Idee, d. i. dem Wesen, dem Gesetz des Schönen gedacht wird. Übrigens finden sich neben den überschwenglichen Schilderungen von der Majestät der Ideen auch ganz nüchterne, man möchte fast sagen hausbackene Ableitungen, die mitten in die Erfahrung hinein führen: die Idee des Tisches z.B. ist der gute Tisch, die Idee des Messers das gute Messer, also das Muster oder Modell, das dem Tischler bezw. Messerschläger vor Augen steht. Wie die sinnliche Erscheinung der Idee bedarf, um durch sie zum reinen Gedanken geläutert zu werden, so bedarf die letztere der ersteren, um eben in »Erscheinung« treten zu können; wenn auch nie völlig, was die oben aufgeführten Wendungen bezeichnen. Wo anders sollte auch die Idee zur Geltung und Wirksamkeit gelangen können als eben in der Erfahrung? Sein und Dasein werden nur deshalb erkenntniskritisch scharf geschieden, damit sie sich nachher um so inniger verbinden. Nur am Dasein und Werden läßt sich das Sein aufzeigen; das »An sich« fordert sein Werden in der Erscheinung, das Eine die Vielen. Von der Idee des Gleichen z.B. wird (Phaedo 75 A) gesagt, daß sie sich nirgendwo anders vorstellen lasse, als bei dem Sehen oder Berühren oder irgendeiner anderen Wahrnehmung. Freilich nicht durch sie, wohl aber anläßlich derselben entsteht die Idee (vgl. Staat 526D. 527B.). Kurz, die Ideen bekommen Sinn und Geltung erst dadurch, daß[99] sie sich in Erfahrung umsetzen lassen, am letzten Ende auf Sinnendinge beziehen. So gibt es denn auch Ideen von allen möglichen Dingen: konkreten (Mensch, Tisch, Bett) wie abstrakten (Große, Gesundheit, Stärke, Hauptwort, Einheit, Vielheit), Gutem und Schlechtem, Hohem und Niedrigem, Kunst- wie Naturerzeugnissen. In den späteren Dialogen werden neben den ethisch wertvollen die mathematischen Bestimmungen bevorzugt: das Große und Kleine, Gerade und Ungerade, Doppelte und Einfache usw. Damit kommen wir zu einem erst neuerdings nach Verdienst gewürdigten Momente in Platos Begründung des Idealismus: der methodischen Bedeutung der Mathematik.

Platos Verdienste um die Förderung einzelner mathematischer Probleme wie der Mathematik als Wissenschaft überhaupt sind von den Historikern der letzteren (Cantor, Hankel, S. Günther) sowie in Einzeluntersuchungen (von Blass, Friedlein, Görland, Rothlauf u. a.) anerkannt. Außer der Verschärfung der Definitionen und Verbesserung der Fachausdrücke verdankt man ihm namentlich die wichtige Unterscheidung des analytischen und synthetischen Beweisverfahrens. Und wie eifrig die Mathematik in seiner Schule gepflegt ward, davon zeugte nicht nur das Wort, das über dem Eingang der Akademie gestanden haben soll: Mêdeis ageômetrêtos eisitô, sondern auch die praktischen Leistungen seiner Schüler Theätet, Speusippos und Xenokrates. Uns geht jedoch nur die methodisch-philosophische Bedeutung an, die Plato der Mathematik nach dem Zeugnis des Aristoteles zuwies, indem er das mathematische Denken (die dianoia) »in die Mitte stellte« zwischen die sinnliche Wahrnehmung und das vernunftgemäße Denken. In der Tat erscheint bei ihm die Mathematik als das Bindeglied zwischen den Sinnendingen und den Ideen, insbesondere im Meno und im 7. Buch (Abschnitt 521 bis 535) der Politeia.

Welche Wissenschaft, fragt Plato bei Erörterung der Erziehung im Idealstaate, führt vom Werdenden zum Seienden? Zunächst, lautet die Antwort, die Arithmetik. Es gibt (ebd. 523) »in den Wahrnehmungen einiges, was das reine Denken (die noêsis) gar nicht zur Betrachtung herbeiruft, weil eben die Wahrnehmung als Maßstab genügt, anderes aber, was es auf alle Weise dazu auffordert«, da die Wahrnehmung allein dabei »nichts Gesundes« ausrichtet. Dieser Wecker zum reinen Denken ist die Zahlenkunst. Deshalb sollen die künftigen Philosophen sie auch[100] genau ergründen, bis sie in ihrem Denken zur »Schau« (thea, wie bei den Ideen!) und dem Wesen (physis) der Zahlen vorgedrungen sind, und zwar nicht um des banausischen und technischen Nutzens, sondern rein um der Erkenntnis willen. Desgleichen die Geometrie, denn diese ist »die Erkenntnis des beständig Seienden« (526) und zieht die Seele zur Wahrheit empor. Die Mathematiker bedienen sich der sichtbaren Gestalten (eidê) nur als Beispiele und Schatten, indem sie, von dem Viereck selbst und der Diagonale selbst ihre Beweise führend, »auf jenes Selbst hinschauen (idein), was man nicht wohl anders sehen kann als mit dem Verstande« (510). In bedingtem Maße sind auch die Stereometrie und die Astronomie beteiligt; sie sind jedoch, namentlich die erstere, als Wissenschaften noch nicht genug entwickelt (528). Wenn also gefragt wird, wie ein Zusammenhang zwischen der sinnlichen Wirklichkeit und dem ganz unsinnlichen, nur im Denken bestehenden Sein der Ideen möglich sei, so ist hinzuweisen auf die geometrischen Gebilde und Zahlen, als die Vermittler zwischen Idee und Erscheinung. An anderer Stelle (Staat X, 602) werden nicht minder bestimmt Maß, Zahl und Gewicht als die vortrefflichsten wissenschaftlichen Mittel bezeichnet, unsere Wahrnehmungen über den Wandel bloß sinnlicher Empfindungen zu erheben. Auch Phädo und Protagoras weisen ähnliche Stellen auf, und im Meno (87 ff.) wird dem mathematischen Wissen derselbe Ursprung, wie dem dialektischen, in der anamnêsis (s. oben) zuerkannt.

Im Meno findet sich auch eine weitere, wichtige Bezeichnung der Idee, die der mathematischen Methode entlehnt ist: als Hypothese (hypothesis), nicht in der heutigen abgeschwächten Bedeutung als unsicherer Annahme, sondern in dem bestimmten Sinne, den die eben von Plato erst recht an das Licht gestellte analytische Methode der Mathematik damit verbindet: als einer Voraussetzung, die das Gesuchte vorläufig als gefunden annimmt, um es dann durch die aus ihr gezogenen Folgerungen und deren Verknüpfung wiederzufinden. Auf die Idee angewandt, bedeutet also die Hypothesis die sichere Voraussetzung oder Grundannahme, von der aus sich eine befriedigende Erklärung der Erfahrungswelt gewinnen läßt. So bezeichnet sie im Parmenides (128 D, 137 B) den Kern und obersten Satz eines philosophischen Systems, der den Schlüssel und die Erklärung zu dessen einzelnen Sätzen gibt. Besonders deutlich bezeichnet Plato[101] im Phädo, gerade bei der Einführung in seine Ideenlehre, das hypothetische Verfahren ausdrücklich als seine eigene Methode, als »gar nichts Neues, sondern, was ich sonst immer, so auch in der eben durchgeführten Rede gar nicht aufgehört habe zu sagen«, indem ich »jedesmal den Vernunftgrund zugrunde lege (hypothemenos), den ich für den stärksten halte und, was mir mit diesem übereinzustimmen scheint, als wahrhaft seiend setze« (99 ff., ähnlich Staat IV, 437 A). So tritt auch in dieser neuen Bezeichnung der undingliche, vielmehr erkenntnistheoretische Charakter der Idee klar hervor. Sie ist die letzte Voraussetzung, Unterlage, selbst unbedingte (anypotheton) Bedingung alles wissenschaftlichen Denkens oder der »Grundsatz« im eigentlichsten Sinne des Wortes.

Die Wissenschaft von den reinen Ideen nennt Plato die Dialektik, weil die in der Unterredung mit anderen gemeinsam erfolgende Erzeugung der Begriffe zum Reiche der Ideen führt. Sie ist gleichsam der Sims über den Wissenschaften, die höchste Gabe der Götter, das wahre Feuer des Prometheus; sie hat die Aufgabe, durch Zurückführen des Mannigfaltigen auf einen Gattungsbegriff (synagôgê) und dann wieder Zerlegung des letzteren in seine Arten (dihairesis), die richtige Vorstellung (S. 94) durch Abstreifung alles Schwankenden und Subjektiven zur Objektivität, Realität und Einheitlichkeit der Idee zu läutern. Nur der »zusammenschauen kann« (synoptikos), also der Systematiker, ist der wahre Dialektiker (Staa 537 C).

Wenn nun Plato so die Welt der Sinne und des ewigen Wechsels zum Sein und Geltungswert der Idee, d.h. mit modernem Ausdruck: des Gesetzes, zu erheben strebt, was bleibt da von der sinnlichen Erscheinung noch als Rest übrig? Man antwortet gewöhnlich mit Aristoteles: die Materie als eine Art regellosen Chaos oder als das Nichtseiende (mê on). Nun findet sich aber das Wort für die Aristotelische Materie (hylê), wie Zeller selbst nachweist, noch nicht bei Plato, und das mê on erscheint im »Sophisten« nur als Idee des Andersseins oder der Verschiedenheit, steht also zur Idee selbst keineswegs im Gegensatz. Vielleicht dürfte auch auf die vielumstrittene platonische Auffassung der Materie von seiten des Mathematischen ein neues Licht fallen. Zuvor aber haben wir zu verfolgen, wie sich eine Steigerung der Wertschätzung der Mathematik als methodischen Faktors in Platos[102] spätesten Dialogen vollzieht. Die vielfach noch nicht geklärten Beziehungen zur pythagoreischen Zahlenspekulation im Timaeus lassen wir hierbei zur Seite. Uns interessiert nur das für die Begründung des Idealismus wichtige Moment.

Schon der ›Politikos‹ (283-285) macht das Werden und Bestehen der Sinnendinge als zweckmäßiger Daseinsgebilde davon abhängig, daß sie nach festen, »im Hinblick auf die Idee« gesetzten Maßbestimmungen meßbar (metria) sind. Und in dem in dieser Hinsicht noch nicht hinreichend gewürdigten Philebos (55 ff.) wird der Wert der technischen Künste in bezug auf Sicherheit, Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit nach dem Maße bestimmt, in dem sie sich der Mathematik bedienen; die Musik z.B. wird von der Baukunst bei weitem an Genauigkeit übertroffen, die letztere wieder von der Rechenkunst, Meßkunst und Statik. Die tiefere Begründung dieser grundlegenden Bedeutung der Mathematik ist in einem früheren Abschnitte des Philebos (23 ff.) gegeben worden. Plato unterscheidet dort drei Klassen des sinnlichen Seins (der Naturdinge): 1. das Unbestimmte oder Unbegrenzte (apeiron), z.B. das Warme und Kalte, Trockene und Feuchte, Schnelle und Langsame, Hohe und Tiefe u. ä. Dieses Unbestimmte harrt seiner Bestimmung durch die 2. Gattung des Seienden: die Bestimmung oder die Grenze (peras), deren mathematische Natur unverkennbar aus den von Plato gewählten Beispielen hervorgeht. Aus der Vereinigung des mathematisch Bestimmbaren und der Zahl- und Meßbestimmungen selbst entsteht als Resultat 3. das aus beiden Gemischte, d. i. die zweck»mäßig« eingerichtete Natur. Die Bedeutung des rechten Maßes (metrion), das ja überhaupt im hellenischen Charakter lag, findet sich also schon bei Plato, nicht erst in der aristotelischen Ethik. Auch hier erscheint die Mathematik als die Brücke zwischen den Ideen und der Sinnenwelt.

Das 'Apeiron ist zunächst gar nichts weiter als das mathematisch Bestimmbare, aber noch Unbestimmte, keinesfalls Materie im physikalischen Sinne, sondern höchstens der Stoff unserer Gefühls-, Gehörs- und übrigen Sinnesempfindungen, wenn man das Warme, Hohe und Schnelle so nennen will. Anders im Timäus, wo Plato nach eigenem Eingeständnis (s. S. 104) keine streng wissenschaftliche, sondern nur eine »wahrscheinliche« Erklärung des organischen und anorganischen Werdens und Vergehens zu geben beabsichtigt. Die als Grundlage für[103] diese chemischen Veränderungen hypothetisch angenommene Materie steht also außerhalb des eigentlichen Systems. Das »unsichtbare, gestaltlose, alles aufnehmende, auf merkwürdige Weise an dem Geistigen teilnehmende, schwer einzufangende« Ding von Materie wird daher auch als ein »kaum glaubhaftes« bezeichnet. Doch damit stehen wir schon in der platonischen Physik oder Naturphilosophie, von der seine Psychologie nur einen besonderen Teil bildet.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 98-104.
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