§ 43. Die Skepsis der mittleren und die neuere Akademie.

[166] 1. Dem Krates (§ 26) folgte als Leiter der Akademie Arcesilaus aus Äolien (315-241), der zusammen mit dem ein Jahrhundert später lebenden Karneades von Cyrene (213-129) der Hauptvertreter der in der sogen. »mittleren« Akademie herrschenden Skepsis ist. Da auch diese Männer nichts Schriftliches hinterließen, sind wir über sie nur unvollkommen und erst durch dritte Hand, namentlich durch Ciceros philosophische Schriften, unterrichtet.[166] Nach Cicero wäre Arcesilaus in seiner Zweifelsucht so weit gegangen, daß er sogar seinen eigenen Satz, daß wir nichts wissen können, anzweifeln zu müssen glaubte. Nach Sextus Empirikus dagegen soll er damit nur seine Schüler haben auf die Probe stellen wollen, um die Begabteren dann weiter, zum Platonismus, zu führen, sodaß er von seinen stoischen Gegnern als »vorne Plato, hinten Pyrrho« verspottet wurde. Er bestritt vor allem die »festhaltende Vorstellung« der Stoiker. Für die Norm des praktischen Verhaltens erklärte er die Wahrscheinlichkeit (das eulogon).

Die skeptische Richtung des Arcesilaus wurde von den ihm folgenden Akademikern fortgesetzt, am erfolgreichsten durch den auch als Redner berühmten Karneades, der 155 v. Chr. als athenischer Gesandter (vgl. § 36) nach Rom kam. Er bekämpfte ebenfalls besonders die Stoiker, besonders Chrysipp, als die zu seiner Zeit angesehensten dogmatischen Gegner. Ihrem Beweis für das Dasein Gottes aus der zweckmäßigen Einrichtung des Alls hielt er die Übel in der Welt und andere Widersprüche entgegen. Ja, er leugnete die Möglichkeit einer strengen Beweisführung überhaupt, da die Voraussetzung selbst doch wieder durch einen »Beweis« dargetan werden müßte. Vielleicht nur zur praktischen Illustration dieser Sätze, soll er, nach dem Kirchenvater Laktantius, zu Rom an dem einen Tage eine Rede für, am folgenden eine gegen die Gerechtigkeit gehalten haben. Dennoch beschränkte er sich nicht auf bloße Verneinung, sondern stellte – soviel wir wissen, zuerst – eine Theorie der Wahrscheinlichkeit auf. Er unterschied drei Grade derselben: 1. Vorstellungen, die nur für sich allein betrachtet wahrscheinlich sind, 2. solche, die wahrscheinlich sind und zugleich bestimmten anderen nicht widerstreiten, 3. allseitig bestätigte.

2. Nach Karneades wandte sich die platonische Schule als »neuere« Akademie wieder mehr der dogmatischen Richtung, namentlich der Stoa, zu. So behauptete z.B. Philo von Larisa († 80 v. Chr. zu Athen), den Cicero 87 in Rom hörte, zwischen Karneades und den Stoikern vermittelnd, ein »augenscheinliches« Wissen (enargeia). Antiochus von Askalon endlich († 68, Ciceros Lehrer zu Athen 79/ 78) gab die Skepsis als sich selbst widersprechend ganz auf und führte statt dessen einen flachen Eklektizismus ein. Die Wahrheit liege in dem, worin alle wahren Philosophen übereinstimmten. Dies aber sei bezüglich[167] aller Hauptpunkte bei Platonikern, Peripatetikern und Stoikern der Fall. In der Ethik stellte er, ebenso schwächlich vermittelnd und philisterhaft, den Satz auf: die Tugend allein reiche zwar nicht zum »glücklichsten«, wohl aber zu einem »glücklichen« Leben hin.

Mit diesem theoretischen und praktischen Eklektizismus sind wir, der Zeit wie der Sache und zum Teil auch schon dem Schauplatz nach, in eine neue Periode des antiken Philosophierens eingetreten, die wir, entsprechend den unterdessen veränderten politischen Verhältnissen, als die römische bezeichnen können.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 166-168.
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