§ 57. Ausgang der Patristik:

Christlicher Neuplatonismus – Kompendienverlasser.

[234] a) Neuplatonismus und Mystik in der griechischen Kirche (Dionysius Areopagita).

Ein Zeit- und Amtsgenosse des Augustin, aber von ganz entgegengesetzter Sinnesart, war der schon S. 202 erwähnte Bischof Synesios von Kyrene (370-412). Ein Schüler von Hypatia, blieb er auch als Bischof mehr Neuplatoniker als Christ, in Hymnen die unaussprechliche »Monade der Monaden« verherrlichend, die kirchlichen Dogmen dagegen teils für Allegorien, teils für Mythen erklärend, deren das Volk bedürfe, das die hüllenlose Wahrheit nicht ertragen könne (vgl. R. Volkmann, Jena 1897). Ähnlich wie Synesios, lehrte Nemesios, Bischof von Emesa (Phönizien), im Widerspruch mit der Kirchenlehre, dagegen im Anklang an Plato, die Präexistenz der Seele und die ewige Fortdauer der Welt im Anschluß an Aristoteles die Freiheit des menschlichen Willens, während andere ihren Neuplatonismus dem christlichen Dogma unterordneten.

Noch inniger als bei Synesios verschmelzen sich der neuplatonische und der christliche Gedankenkreis in den sogenannten areopagitischen Schriften, die unter dem Namen »Dionysios des Areopagiten«, angeblich ersten[234] Bischofs von Athen und unmittelbaren Apostelschülers, gingen und als dessen Geheimlehre sich gaben, in Wirklichkeit aber erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts abgefaßt worden sind. Der unbekannte Verfasser schrieb für Gemüter, die sich durch das kirchliche Dogmen- und Zeremonienwesen nicht befriedigt, nach religiöser Hingabe, mystischer Vereinigung mit der Gottheit sehnten. Erhalten sind, abgesehen von zehn Briefen, folgende von seinen Schriften: 1. Über die göttlichen Namen, 2. Von der himmlischen Hierarchie, 3. Von der kirchlichen Hierarchie, 4. Von der mystischen Theologie. Gott ist der unaussprechliche Weltgrund und Urquell alles Seienden, der Namenlose oder auch »Allnamige«. Die Vermittlung zwischen ihm und uns erfolgt – ganz wie bei den späteren Neuplatonikern (§ 50) – durch eine in Dreiheiten abgeteilte »himmlische Hierarchie« von Engeln, von den alttestamentlichen Seraphim und Cherubim bis herab zu den Erzengeln und einfachen Engeln. Dieser himmlischen entspricht auf Erden die kirchliche Hierarchie, von dem obersten Priester bis zu den Mönchen und dem Volke. Lehrt uns die bejahende Theologie diese absteigende Linie vom Himmel zu uns, so erhebt uns die höhere, verneinende, oder mystische mit Hilfe des uns mit göttlicher Kraft erfüllenden Logos, durch die aufeinander folgenden Stufen der Reinigung, Erleuchtung, Weihung myêsis und Gottähnlichkeit homoiôsis bis zur völligen »Vergottung« theôsis. Dem namenlosen Gotte allein kommt positives Sein zu; das Böse ist nur Mangel und Schwäche, ein vorübergehendes und zu überwindendes Moment der in sich harmonischen göttlichen Weltordnung.

Die tiefsinnigen Schriften des »Areopagiten« – die zu seiner Zeit allerdings nicht als Fälschung empfundene Fiktion ist erst in der Zeit der Renaissance entdeckt worden – haben eine bedeutende Einwirkung auf die Spekulation des gesamten Mittelalters geübt, in erster Linie auf Johannes Eriugena (§ 59) und die Mystiker, als deren Grundbuch; dann aber auch auf die Scholastik, z.B. Thomas von Aquino. Hierzu trug nicht wenig bei die mehr kirchliche Auslegung derselben durch den 580-662 lebenden Abt Maximus Confessor. Das Hinaufsteigen der Seele zu Gott und dessen Hinabsteigen zu uns gelten diesem als bewußte Akte der Liebe.

b) Kommentar- und Kompendienschreiber.

Während die Genannten den in der griechischen Kirche von jeher heimischen Mystizismus vertreten, gehört[235] der letzte hier zu Nennende, der bereits im 8. Jahrhundert lebende Mönch Johannes von Damaskus einer Richtung an, die jetzt, wo die Dogmenbildung im wesentlichen abgeschlossen war und eine Art allgemeiner geistiger Erschlaffung durch die christliche Welt ging, zur alleinherrschenden wird: den auf das Zusammenstellen und Ordnen des vorhandenen kirchlichen Wissensstoffes sich beschränkenden Kommentatoren und Kompendien-Verfassern. Johannes Damascenus' Quelle der Erkenntnis, ein noch heute im christlichen Orient in Ansehen stehendes Buch, will nach seiner eigenen ausdrücklichen Erklärung nichts Eigenes vorbringen, sondern nur zusammenfassen, »was die Philosophen definiert, die Peripatetiker eingeteilt, die Kirchenväter angewandt haben, welche Ketzereien aufgekommen sind, welche Lehren als orthodox gelten«: was er mit oft recht geistlosem Sammelfleiß ausgeführt hat. Apologetik und Polemik (die sich bei J. D. schon gegen den Islam richtet) ist das einzige, was die griechische Kirche seitdem hervorbringt.

Aber auch um die abendländische Kirche war es in jenen traurigsten Jahrhunderten der Geschichte Europas nicht besser bestellt. Es ist die Zeit des untergehenden Römerreichs, der Merowinger, des Siegeszuges der Araber. Jedes selbständige geistige Leben scheint erloschen. Abgesehen von den noch eine Zeitlang fortgehenden Streitigkeiten zwischen Pelagianern, Semipelagianern und Anhängern Augustins über den freien Willen und des gallischen Presbyters Claudianus Mamertus (um 450) Beweis für die Unkörperlichkeit der menschlichen Seele, dem sich auch der gleich zu nennende Cassiodor anschließt, ist uns keine einzige selbständige Produktion bekannt. Man ergab sich auch hier fast durchaus dem Kompendienschreiben. So gab um 430 Marcianus Capella sein in den Schulen des Mittelalters viel gebrauchtes, aus Quintilian, Plinius und Varro zusammengeschriebenes Lehrbuch der Septem artes liberales heraus (M. C. selbst soll noch nicht Christ gewesen sein). Den Römer Boethius haben wir schon Kap. XV (§ 50, Schluß) erwähnt. Auf ihm fußend, schrieb auch Cassiodor, der sich um 540 aus dem ostgotischen Staatsdienst in die Muße des Klosters zurückzog, ein Kompendium über die sieben »freien Künste und Wissenschaften«, das sogenannte trivium: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, und das quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Was Cassiodor für Italien, tat später Isidor von Sevilla († 636) für Spanien durch sein viel[236] ausgeschriebenes großes Realwörterbuch (Etymologiarum l. XX), in dem er eine staunenswerte Belesenheit entfaltet. Außerdem stellte er in seinen 3 Büchern Sentenzen die orthodoxe Kirchenlehre in Aussprüchen der Kirchenväter dar. Isidors Werk ist dann wieder von dem Angelsachsen Beda († 735), beide von Alkuin († 804), dem bekannten Lehrer und Freunde Karls des Großen, benutzt worden, dem sich endlich der Begründer des deutschen Schulwesens, Abt Hrabanus Maurus von Fulda († 866 als Erzbischof von Mainz), anschließt.

Das Verdienst aller dieser Männer besteht in der Übermittlung der Reste antiker Bildung an die noch ungelehrten Germanenstämme. Philosophisch sind sie ohne jede Bedeutung. Die »Philosophie« ist nunmehr endgültig als Schulsache in den Dienst der Kirche getreten. Das Reich der Scholastik beginnt.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 234-237.
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