§ 66. Die Opposition der Franziskaner.

Duns Scotus (Primat des Willens).

[269] 1. Schon Heinrich von Gent (1217-1293), der »Dr. sollemnis«, hatte in Anlehnung an Augustin und Plato den Primat des Willens und der Persönlichkeit (Gedächtnis, Vernunft und Wille) gegen den thomistischen Intellektualismus verfochten, und, ihm folgend, Richard von Middletown († 1300) den praktischen, »affektiven« Charakter der Theologie betont. Der Franziskaner Wilhelm de la Mare wird als der Verfasser eines Correctorium fratris Thomae genannt, das nicht weniger als fünf Gegenschriften von dominikanischer Seite hervorrief: während Siger von Brabant († 1282) sogar einen gemilderten Averroismus an der Pariser Universität zu verteidigen wagte. Und daß man um jene Zeit auch mit dem antiken Skeptizismus sich von neuem beschäftigt hat, beweist eine aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammende lateinische[269] Übersetzung der »Pyrrhonischen Skizzen« des Sextus Empirikus (s. § 45), die Bäumker ausfindig gemacht hat. Der Hauptwiderstand gegen den Thomismus ging von dem großen Rivalenorden der Dominikaner, den Franziskanern, aus. Zu voller Entfaltung kam diese Richtung in einem Manne, der als der scharfsinnigste aller mittelalterlichen Denker gilt und trotz seines frühen Todes einer weitverbreiteten Denkrichtung den Namen gab.

2. Johannes Duns Scotus, gegen 1270, der Überlieferung nach zu Dunston in Northumberland oder Dun in Irland (daher seine beiden Beinamen) geboren, ward in Oxford Magister sämtlicher Wissenschaften, überstrahlte bald alle übrigen Lehrer und zog 1308 im Triumph in Köln ein, starb aber hier bereits in demselben Jahre. Eine erschöpfende Monographie über ihn existiert noch nicht. Seine Erkenntnistheorie hat K. Werner (Wien 1877 und 1881), seine Willenslehre Kahl (1886), seine Psychologie H. Siebeck (Archiv f. Gesch. d. Philos. 1888 f., Ztschr. f. Philos. 1898), seine Theologie R. Seeberg (1900) bearbeitet. Die einzige Gesamtausgabe der philosophischen und dogmatischen Werke des »Dr. subtilis« stammt noch aus dem Jahre 1639 (Lugduni, 12 Bände, Neudruck Paris 1891-95 durch den Franziskaner-Orden).

Mit Duns Scotus beginnt die von Albert eingeleitete, von Thomas durchgeführte Verschmelzung von Aristotelismus und Kirchenlehre, Vernunft und Christentum sich bereits wieder zu lösen. Wenn man daher in dieser den Höhepunkt und das wahre Kennzeichen der Scholastik sieht, würde man im Scotismus schon (mit Erdmann u. a.) die beginnende Zersetzung der Scholastik zu erblicken haben. Doch kämpft Scotus noch so durchaus mit den Mitteln der scholastischen Methode, ihrer Terminologie und ihren Subtilitäten, und steht auch sonst noch so völlig auf dem Boden mittelalterlichen Denkens, daß wir ihn und seine Schule noch zu den Vertretern der Scholastik rechnen.

a) Glauben und Wissen. Standen für Thomas und seine Anhänger Theologie und Philosophie, Glauben und Wissen im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung, so wird bei Scotus ihr Gegensatz stärker betont. Man hat sein Verhältnis zu Thomas öfters mit dem des Kritikers Kant zu dem harmonisierenden Systematiker Leibniz verglichen. Eine gewisse Ähnlichkeit ist in der Tat vorhanden. Denn, wie wenig auch sonst der Scholastiker, der zuerst das Dogma von der unbefleckten Empfängnis verteidigt hat,[270] mit dem Philosophen der reinen Vernunft gemein haben mag, so dringt doch auch er in einer für seine Zeit bemerkenswerten Schärfe auf eine Art reinlicher Scheidung zwischen Wissen und Glauben. Mathematisch gebildet, stellt er strengere Anforderungen als seine Vorgänger an einen Beweis. Nicht bloß kirchliche Einzeldogmen, sondern auch Dinge, wie die zeitliche Schöpfung der Welt und die Unsterblichkeit der Seele, seien durch die Vernunft nicht beweisbar. Warum soll nicht auch das Unkörperliche vergehen können? Aber diese Fixierung des Gebietes strenger Wissenschaft dient ihm nicht etwa dazu, nun die Herrschaft der Theologie zu bekämpfen, sondern im Gegenteil, sie zu stärken. Der Glaube schließt zwar nicht den Zweifel überhaupt aus, wohl aber – dessen Sieg. In Glaubenssachen hat die »Dialektik« nicht mitzureden. Die Philosophi und Catholici werden häufig einander gegenübergestellt. Ja es kommt bereits der erst bei Ockham und seiner Schule (§ 68) zu größerer Bedeutung gelangte Satz vor: es könne etwas zwar für den Philosophen wahr, aber für den Theologen falsch sein. Von den ersteren hält er den Aristoteles, den er besser kennt und versteht als seine Vorgänger, zwar für den größten, aber dennoch nicht für unfehlbar, wie andere es getan.

b) Die Lehre vom Willen. Das Hauptproblem des Scotismus, das in der Gestalt des Konflikts zwischen Willensfreiheit und Naturnotwendigkeit noch heute die Geister beschäftigt, ist die Frage nach dem Vorrang des Verstandes oder des Willens. Duns beantwortet sie, im Gegensatz zu Thomas, mit voller Entschiedenheit dahin: Voluntas est superior intellectu, der Wille hat den Vorrang vor dem Verstande. Der Wille ist die Grundkraft der Seele. Das »erste Denken«, das, ähnlich wie bei Thomas, durch das Zusammenwirken von Seele und äußeren Gegenständen, d.h. durch Abbilder der letzteren zustande kommt, ist »verworren und unbestimmt«. Es wird erst dadurch zu einem bestimmten, daß der Wille seine Aufmerksamkeit auf diese verworrenen Vorstellungen richtet, sie schärfer gestaltet und ihre Intensität verstärkt, während sie im entgegengesetzten Falle schwächer werden, um schließlich zu verschwinden. Das Vorstellen ist nur Gelegenheitsursache und Diener des Wollens; die Entscheidung fällt dem letzteren anheim. In der Psychologie des Willens (vgl. Siebeck) gibt der Dr. subtilis schon manche feine Beobachtungen und scharfsinnige Unterscheidungen, z.B. die des Wollens vom Wünschen (Begehren)[271] und Nichtwollen. Nach der auch heute noch von englischen Denkern bevorzugten Weise geht er gern von der Erfahrung aus und betont den engen Zusammenhang mit den Trieben, über die sich jedoch der freie Wille zu erheben imstande ist. Die Selbständigkeit des letzteren ist so groß, daß selbst die göttliche Gnade ihm nur beizustehen, ihn nicht zu nötigen vermag! Auch durch das Gefühl der Lust und Unlust wird er – was an Kant erinnert – nicht bestimmt, sondern nur in seiner Betätigung begleitet. Ja, er steht außerhalb des Kausalzusammenhanges, des mechanischen Zwanges der Vorstellungen. Denn, wäre er von diesen abhängig, so wäre es mit der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen zu Ende.

c) Damit sind wir bei der Ethik des englischen Scholastikers angelangt. Auch das Gute wird grundsätzlich vom Willen bestimmt, der Verstand hat nur bei der Anwendung im praktischen Leben mitzusprechen. Das Gute steht höher als das Wahre, deshalb Augustin höher als Anselm und Aristoteles. Die Theologie ist vor allem eine praktische Wissenschaft. Das Gute ist gut, weil Gott es gebietet; während nach Thomas Gott das Gute gebietet, weil es gut ist (persëitas boni). Das höchste Ziel und die höchste Vollkommenheit des Menschen liegt ihm daher nicht, wie dem Thomas, im mystischen Schauen, sondern in dem ganz auf Gott gerichteten Willen, d. i. der Liebe.

d) Gotteslehre. Auch Gottes Dasein ist nicht aus bloßen Begriffen zu beweisen, sondern nur aus seinen Werken. Es muß eine alles überragende letzte Ursache geben, die zugleich letzter Zweck ist; das ist Gott. Auch auf ihn wird die Lehre vom Primat des Willens übertragen. Wie durch das liberum arbitrium des Einzelnen jedesmal eine neue Tatsache entsteht, so ist Gottes Wille die Urtatsache. Wäre nicht der Wille sein Wesen, so wäre seine Allmacht nicht, wie sie ist, unbeschränkt. So ist die Welt durch die freie Willkür Gottes geschaffen; er hätte sie auch völlig anders schaffen können. Ebenso steht es mit der Erlösung; Gott hätte sie auch auf andere Weise als durch Christus vollziehen oder hätte statt Mensch z.B. Stein werden können! (An solche Eventualfälle knüpfte die spätere Scholastik, ähnlich den Sophisten des Altertums, jene Ausgeburten haarspaltender Phantasie, durch die sie sich berüchtigt gemacht hat.)

e) Metaphysik. Gott ist das schlechthin einfache, oberste Wesen (ens), die Materie das niederste. Als erste Materie[272] (m. primo-prima, von der unseres Scholastikers Spitzfindigkeit eine m. secundo-prima und tertio-prima unterscheidet) bedeutet sie nur die ursprünglich in allen Dingen liegende Fähigkeit, zu höheren Formen, Gattungen und Arten geordnet zu werden. Jede geschaffene Substanz, auch die geistige, hat Materie. Das principium individuationis ist die Form. Das Individuellere ist das Vollkommnere. Zur Washeit (quidditas) tritt die Diesheit (haecceitas) hinzu, z.B. in dem Menschen Sokrates zur animalitas zunächst die humanitas, zu dieser die Socratitas. (Der Ausdruck haecceitas findet sich allerdings erst bei Scotus' Schülern.) Das Individuum besitzt eine selbständige Realität, ist eine weiter nicht ableitbare Tatsache. Duns' Stellung in der Universalienfrage bleibt die vermittelnde des Anselm und Thomas: Das Allgemeine ist ante res als Form im göttlichen Geiste, in rebus als deren »Washeit« oder Wesen, post res im Verstand als der von ihnen abstrahierte Begriff.

Trotz seines frühen Todes hinterließ Duns Scotus zahlreiche Schüler und Anhänger, besonders in seinem Orden. Lange tobte der scholastische Streit zwischen den scotistischen Franziskanern und den meist thomistischen Dominikanern. Und wenn seine Lehre auch innerhalb der römischen Kirche durch die der letzteren kongenialere des Aquinaten (einzelne Scotisten kommen freilich noch im 18. Jahrhundert vor) mehr und mehr zurückgedrängt worden ist, so hat er anderseits durch manche seiner Lehren (vom Primat des Willens, von den verworrenen und klaren Vorstellungen, von der Form als bleibendem Wesen u. a.) mehr als Thomas auch auf nichtkirchliche Philosophen wie Baco von Verulam, Descartes, Leibniz und andere gewirkt.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 269-273.
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