§ 20. Hume (1711-1776).

A. Leben, Schriften und Erkenntnislehre.

  • [110] Literatur: F. Jodl, Leben und Philosophie David Humes. Halle 1872. E. Pfleiderer, Empirismus und Skepsis usw. 1874. Huxley, Hume, London 1879. Meinong, Hume-Studien. Wien 1877-82. R. Hönigswald. Die Lehre Humes von der Realität der Außendinge. 1904. W. B. Elkin. Hume. Neu-York 1904. R. Richter, Der Skeptizismus, Bd. II, S. 235-428. A. Thomsen, David Hume (aus dem Dänischen), Bd. I. 1912. Vgl. auch in A. Riehls Geschichte des philosophischen Kritizismus (1908) Kap. 2: Humes kritischer Positivismus (a. a. O. S. 101-207). Über Humes Ethik vgl. G. v. Gizycki, Breslau 1878. Quelle für sein Leben: Humes einige Monate vor seinem Tode geschriebene Selbstbiographie; vgl. dazu das eingehende Werk von Burton, Life and Correspondence of David Hume. 2 Bde. 1846.

1. Leben und Schriften. In David Hume, dem zweitältesten Sohn eines schottischen Gutsbesitzers, 26. April 1711 zu Edinburg geboren, erwachte schon früh die Leidenschaft für Literatur und Philosophie. Nach kurzer Zeit kaufmännischer Tätigkeit, die ihn nicht befriedigte, reiste er nach Frankreich und verfaßte dort in ländlicher Zurückgezogenheit[110] sein ausführliches Erstlingswerk: Abhandlung (Treatise) über die menschliche Natur, das in drei Teilen den Verstand, die Leidenschaften, die Moral behandelt, von ihm selbst als »ein Versuch« bezeichnet, »die experimentelle Methode auch auf dem geistigen Gebiete einzuführen«. Das Buch hatte jedoch nach seiner Veröffentlichung zu London (1739-40) nicht den mindesten Erfolg. Es blieb nach Humes eigenem Bekenntnis ein »totgeborenes Kind«. Dagegen fanden eine Reihe, zunächst anonym erschienener, Moralischer, politischer und literarischer Essays (1741 f.) nicht bloß in England, sondern auch in Frankreich viel Beifall und Verbreitung. 1747 und 1748 war er Gesandtschaftssekretär in Wien und Turin. Er begann nun sein Jugendwerk umzuarbeiten. Als erster Teil seines Systemes erschien jetzt (1748) die leichter und allgemeinverständlicher als der Treatise geschriebene erkenntnistheoretische Hauptschrift Untersuchung (Enquiry) über den menschlichen Verstand. 1751 folgte die Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 1752 seine vielgelesenen politischen Diskurse, 1753-57 eine Anzahl kleinerer Abhandlungen über verschiedene Gegenstände, 1757 außerdem eine Natürliche Geschichte der Religion, daneben noch von 1754 bis 1761 die umfangreiche Geschichte Englands, zu der ihm seine Anstellung als Bibliothekar der Juristenfakultät zu Edinburg die Hilfsmittel gab. Seitdem veröffentlichte er nichts mehr, da er zunächst in den Strom des großen politischen und gesellschaftlichen Lebens gezogen wurde. So war er 1763-66 Gesandtschaftssekretär in Paris, am Hofe als konservativer Politiker, in den Salons als geistreicher Freidenker gefeiert; 1767-69 führte er als Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amts die ganze diplomatische Korrespondenz. Die letzten acht Jahre seines Lebens genoß der mittlerweile berühmt und wohlhabend gewordene Philosoph, seinen Neigungen entsprechend, ein ruhig behagliches Leben im Kreise auserwählter Freunde zu Edinburg, bis er nach längerem, mit vollendeter Ruhe und Heiterkeit ertragenen Kranksein am 25. August 1776 starb.

Hume war eine heiter liebenswürdige, aber auch ziemlich kühle und nüchterne Natur, milde trotz seines Scharfsinns, offenherzig und gutmütig trotz seiner Menschenkenntnis, praktisch und doch beschaulich, ohne andere Leidenschaften als die des Erkenntnistriebs und des literarischen Ehrgeizes. Sein Freund Adam Smith (s. § 22) gab nach Humes Tode dessen Selbstbiographie (1777) und[111] ein Neffe die kühnen, schon 1751 verfaßten Dialoge über natürliche Religion 1779 heraus. Seine Anschauungen haben am meisten in Frankreich, weniger in England gewirkt, in Deutschland hauptsächlich erst durch Kant. Die beste englische Ausgabe seiner philosophischen Werke ist die von Green u. Grose 1898, 4 Bde. Ins Deutsche sind fast alle seine Schriften schon im 18. Jahrhundert übersetzt worden, neuerdings der Treatise (mit Anmerkungen) von Th. Lipps 1895, 1904 und 1906, die Enquiry von Raoul Richter (6. Aufl. 1907, auch als 3. Band von Meiners Volksausgaben), die Dialoge von Paulsen, 3. Aufl. 1905 (die beiden letzteren bilden Bd. 35 und 36 der Philos. Bibl.), die Naturgeschichte der Religion von W. Bolin, Leipzig 1909. Humes Schreibart ist einfach und lichtvoll; als Schotte ist er nicht so sehr in die dem Engländer leicht anhaftende Breite verfallen. Seine Stärke besteht im verstandesmäßigen Zergliedern; er fühlt sich als »Anatom«, nicht als »Maler« der menschlichen Seele.

2. Erkenntnistheorie. Hume zieht die Konsequenzen aus Lockes und Berkeleys Sensualismus. Wie Locke bezeichnet auch er es als erste Aufgabe der Philosophie, die Natur unseres Verstandes dadurch festzustellen, daß wir den Ursprung unserer Vorstellungen untersuchen. Wie Locke und Berkeley, unterscheidet auch er in seiner Weise Sensation und reflection, nämlich: 1. die starken und lebhaften Empfindungen oder Eindrücke (impressions), welche die Sinneswahrnehmungen in uns hervorrufen, wozu aber außer dem Hören, Sehen und Fühlen auch das Hassen, Wünschen und Wollen gehören; 2. die matteren und dunkleren Vorstellungen (ideas) oder Gedanken (thoughts), die in der Erinnerung an jene »Eindrücke« bestehen, deren »Nachbilder« (Kopien) sie sind. Ohne vorhergegangenen Eindruck keine Vorstellung. Selbst zu den scheinbar abstraktesten Vorstellungen muß das Original in den impressions aufgesucht werden. Auch für die geometrischen Gebilde z.B. sind letzter Maßstab die Sinne und die Einbildungskraft. Die ganze schöpferische Kraft der Seele besteht nur in der Fähigkeit, den durch die Sinne und die Erfahrung gewonnenen Stoff zu verbinden, umzustellen, zu erweitern oder zu vermindern. Selbst die Vorstellung von Gott ist nur eine Steigerung der menschlichen Eigenschaften der Güte und Weisheit ins Unbegrenzte. Ein Blinder kann sich keine Farben, ein Tauber keine Töne vorstellen. Die Eindrücke sind die wahren »angeborenen Ideen«.[112]

Aber stärker als Locke ist Hume für die Kritik des Erkennens interessiert, namentlich in der Enquiry, während der Treatise noch vorzugsweise Erkenntnispsychologie getrieben hatte. Er fragt daher weiter: Auf welche Weise erfolgt jene Verbindung (association), jene notwendige Verknüpfung der Vorstellungen oder Gedanken, die sich, wenn auch in losester Weise, selbst in unseren Träumen findet, und durch die allein Erkenntnis möglich wird? Auf dreierlei Art, durch: a) Ähnlichkeit, b) räumlich-zeitliche Berührung, c) kausalen Zusammenhang. Im Mittelpunkt des Humeschen Philosophierens steht das Problem des letzteren, der Kausalität. Eine Klasse von Vorstellungen wird dabei, wenigstens in der Enquiry, ausgeschieden: die Sätze der Mathematik. Denn sie enthalten lediglich an und für sich, d.h. durch Anschauung oder durch Demonstration, gewisse Beziehungen der Vorstellungen aufeinander; wenn auch völlige Exaktheit nur den Schlußfolgerungen der Arithmetik zugesprochen werden kann. Alle anderen Erkenntnisse dagegen sind solche von Tatsachen, wie z.B. der Gedanke, daß morgen die Sonne aufgehen wird. Wie steht es mit deren Gewißheit? Sie beruht, wenn wir näher nachforschen, auf der Erkenntnis von Ursache und Wirkung. Diese aber stammt lediglich aus der – Erfahrung. Ohne Hilfe von Beobachtung und Erfahrung ist es unmöglich, irgendeine Wirkung oder Ursache bestimmen zu können. Die Vernunft vermag weiter nichts, als die einzelnen Erfahrungsregeln auf größere Einfachheit, auf wenige »allgemeine« Ursachen wie z.B. Elastizität, Schwere, Kohäsion, Stoßbewegung u. ä. zurückzuführen, welche die letzten Gründe der Dinge nicht enthüllen. Auch die vollkommenste Philosophie der Natur schiebt unsere Unwissenheit nur ein kleines Stück zurück; ebenso die Metaphysik und Moralphilosophie. So ist »menschliche Schwäche und Blindheit das Ergebnis aller Philosophie«. Auch das reine Denken in der Geometrie vermag der Naturwissenschaft nicht zur Kenntnis der letzten Ursachen zu verhelfen, sondern setzt die durch die Erfahrung entdeckten Naturgesetze voraus und hilft ihr nur bei der »Auffindung« [besser: genaueren Formulierung] und Anwendung der letzteren. Daß in jenem »kleinen Stück« aller Wert menschlicher Wissenschaft liegt, daß er selbst mit seinen Erfahrungs-»regeln«, seinen »allgemeinen« Ursachen, seiner »Hilfe« bei der Auffindung und Anwendung der Naturgesetze[113] die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit zugibt, merkt Hume in seinem sensualistisch-empirischen Eifer gegen das Denken a priori gar nicht.

Alle Erfahrungsbeweise scheinen ihm vielmehr darauf hinauszulaufen, daß man von ähnlichen Ursachen ähnliche Wirkungen erwartet, kurz: auf die Macht der Gewohnheit und das daraus entspringende Glauben. Gewohnheit »ist die große Führerin im Leben«. Sie allein »macht uns unsere Erfahrung nützlich und läßt uns in der Zukunft einen gleichen Lauf der Ereignisse erwarten; wie in der Vergangenheit geschehen«. Sie ist ein »Prinzip« und eine wirkende Kraft unserer geistigen Natur. Man merkt überall, daß Hume nicht von der mathematisch-physikalischen Wissenschaft ausgeht. Die »mathematischen« Wissenschaften scheinen ihm nur deshalb vor den »moralischen« (heute: Geisteswissenschaften) im Vorteil zu sein, weil ihre Vorstellungen wahrnehmbar und deswegen (!) immer »klar und deutlich« (Descartes) sind; anderseits erfordern sie freilich längere und verwickeltere Schlußketten. In dem Treatise hatte er auch ihre Gewißheit bezweifelt; in der Enquiry tut er das zwar nicht mehr, schließt sie aber dafür ganz von seinem Hauptprobleme aus, verwendet sie nicht zu der Begründung der Physik, die nach ihm vielmehr auf den gewohnheitsmäßigen Wahrnehmungen von Sukzessionen und deren bloßer Verbindung (Assoziation) durch den Verstand beruht. Auch der Begriff des Raumes oder der Ausdehnung ist nur aus oft wiederholten sinnlichen Eindrücken entstanden; worin sein Wissenschaftswert besteht, fragt Hume nicht. Immerhin aber fühlt er sich doch im Laufe seiner Untersuchung, namentlich im Kapitel Über die Wunder, gedrungen, die verschiedensten Grade der Gewißheit, von der höchsten Sicherheit bis zur niedrigsten Wahrscheinlichkeit, zuzugeben. Freilich beruht dies Gewißheitsgefühl für ihn nicht auf logischen Gesetzen, sondern auf der Lebhaftigkeit und Energie der betreffenden Vorstellung. Und entscheidend für sein Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit der Natur ist schließlich sein Interesse an moralischer und religiöser Aufklärung (s. S. 118).

Der Jahrhunderte alte Streit um Freiheit und Notwendigkeit scheint unserem reinen Empiriker nur ein Streit um Worte. Die Vorstellung einer Notwendigkeit entstammt nur der Erfahrung; aus der immer wieder[114] wahrgenommenen Gleichförmigkeit der natürlichen Folgen ist die Gewohnheit ihrer Verknüpfung in unserem Vorstellen entstanden. Auf dem Willens-oder moralischen Gebiete besteht die »Notwendigkeit« in der regelmäßigen Verbindung der Handlungen mit den Beweggründen, Umständen und Charakteren, die »Freiheit« in der Macht, je nach seinem Entschluß, zu handeln oder nicht zu handeln; was mit dem soeben definierten Begriff der Notwendigkeit durchaus vereinbar ist. Denn Freiheit bedeutet den Gegensatz zum Zwang, nicht zur Notwendigkeit, sonst wäre sie = Zufall, d.h. ein rein negativer Begriff, ohne Bedeutung, wenn man ihn in strengem Sinne faßt. Die Versöhnung aber von menschlicher Freiheit und göttlicher Allwissenheit oder die Verteidigung unbedingter Ratschlüsse, wobei die Gottheit doch nicht als der Urheber des Bösen gelten soll, hält Hume für ein Gebiet, das über die Kraft der Philosophie gehe. Deren bescheidene Aufgabe bestehe in der Erforschung des »gewöhnlichen Lebens«.

3. Stellung zum Skeptizismus. Damit sind wir bei der Frage: Welche Stellung nimmt Hume zum Skeptizismus ein?, die er selbst im Schlußabschnitte der Enquiry behandelt. Ein Skeptizismus nach Art des Descartesschen Zweifels muß jedem ernsthaften Studium der Philosophie vorausgehen. Wie sollen wir die Wahrheit erkennen und zu der erstrebten Gewißheit gelangen? Sollen wir, dem ursprünglichen Naturinstinkt folgend, uns unbedingt auf die Zuverlässigkeit unserer Sinne verlassen, die uns doch z.B. ein gebrochenes Ruder unter dem Wasser vorspiegeln? Sollen wir glauben, daß unsere Empfindung oder Vorstellung der äußere Gegenstand selbst sei? Das »widerspricht offenbar der Vernunft«. Aber auf der anderen Seite ist der Widersinn des »reinen Denkens« und der »primären« Qualitäten nachgewiesen: es läßt sich keine Ausdehnung ohne die Sinne, z.B. kein Dreieck an sich vorstellen. Und Berkeley, der diese »scholastischen« Begriffe vernichtete, hat dadurch, vielleicht wider seinen Willen, am meisten von allen antiken und modernen Philosophen zum Skeptizismus angeleitet. In diesem Falle aber bleibt als Ursache und Gegenstand unserer Wahrnehmungen nur ein »unbekanntes und unsagbares Etwas« übrig, das kein Skeptiker des Streites für wert halten wird. Die unendliche Teilbarkeit des Raumes und der Zeit, die von den »strengeren Wissenschaften« der Mathematik und – Metaphysik behauptet und bewiesen wird, erscheint dem[115] »gesunden Verstande« widersinnig. Trotzdem will Hume nicht einem übertriebenen Skeptizismus (»Pyrrhonismus«) huldigen, der mit den wirklichen Tatsachen in Widerspruch steht und ohne dauernden Nutzen ist; ihn nennt er sogar eine »Krankheit«, eine »philosophische Melancholie« und »hypochondrische Laune«. Wohl dagegen einem gemäßigten Skeptizismus nach Art der »Akademie« (s. Bd. I, § 43), der mit Vorsicht, Bescheidenheit und echtem Forschersinn verbunden ist. Der Philosoph halte sich an die Tatsachen des gewöhnlichen Lebens, deren »Berichtigung« und »Regelung« seine einzige Aufgabe ist; was darüber hinausgeht, überlasse er den Dichtern und Rednern oder »den Künsten der Priester und Politiker«. »Können wir doch nicht einmal einen genügenden Grund angeben, weshalb wir nach tausend Proben glauben, daß der Stein fallen und das Feuer brennen wird! Wie können wir darum hoffen, irgendeine zufriedenstellende Erkenntnis über den Ursprung der Welt und den Zustand der Natur von Anfang bis in alle Ewigkeit zu erreichen?« Wahrheit ist nur in der Mathematik und – der Erfahrung zu finden. Ein theologisches oder metaphysisches Buch, so schließt Hume seine Schrift, das weder »eine dem reinen Denken entstammende Untersuchung über Größe oder Zahl« noch »eine auf Erfahrung sich stützende Untersuchung über Tatsachen und Dasein« enthält, werfe man getrost ins Feuer, »denn es kann nur Spitzfindigkeiten und Blendwerk enthalten«.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 110-116.
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