§ 29. Weitere Entwicklung der deutschen Aufklärung: 1. Wollfs Schule. 2. Wichtige neue Ansätze (Euler, Lambert, Tetens). 3. Popularphilosophie (besonders Mendelssohn, Lessing).

  • [162] Literatur: Cassirer, Erkenntnisproblem, Bd. II. – A. Riehl, Geschichte des philosoph. Kritizismus, Kap. 3. – Joh. Lepsius, Lambert. Mchn. 1881 Baensch, Lamberts Philosophie und seine Stellung zu[162] Kant. 1902. – Störring, Die Erkenntnistheorie von Tetens. 1901. Schinz, Die Moralphilosophie von Tetens. 1906. Am ausführlichsten W. Uebele, Joh. Nic. Tetens usw. 1912. Uebele hat auch Tetens' Hauptwerk, die ›Philosoph. Versuche‹(s. S. 167), nebst der Abhandlung ›Über die allgemeine spekulativische Philosophie‹ (1775) neu herausgegeben (Neudrucke der Kantgesellschaft, Bd. 4 u. 5) 1913 f. – Mendelssohns Schriften zur Philosophie, Ästhetik und Apologetik, hrsg. von M. Brasch, 2 Bde. Lpz. 1880. – Ed. Zeller, Friedrich der Große als Philosoph, Berlin 1886. – Über Lessings Philosophie vgl., außer der großen Biographie von Erich Schmidt: Christ. Schrempf, Lessing als Philosoph, Stuttg. 1906 und die Ausgabe von P. Lorentz, Lessings Philosophie, 1909. (Philos. Bibl.). E. Bergmann, D. Begründung der deutschen Ästhetik durch A. Baumgarten u. G. Meier 1911. Derselbe, E. Platner und d. Kunstphilosophie des 18. Jh. Lpz. 1913.

1. Wolffs Schule.

Wolff war der erste deutsche Philosoph, der eine Schule gründete, wozu seine lehrhafte Art auch ganz wie geschaffen war. Ludovici, der eine Geschichte der Wolffschen Philosophie schrieb, zählt schon im Jahre 1737 nicht weniger als 107 schriftstellernde Wolffianer auf! Sie hatten fast sämtliche deutschen Katheder inne. Freilich blieb ihnen wenig mehr zu tun, als die Philosophie ihres Meisters in mehr oder weniger geschickten Kompendien weiter auszuarbeiten. Zu seinen treuesten Schülern gehörte der früh verstorbene Thümmig (1697-1728), dessen Institutiones philosophiae Wolfianae zahlreiche Auflagen erlebten, und Bilfinger (1693-1750), dessen Dilucidationes philosophicae lange als das beste Lehrbuch der Wolffschen Metaphysik galten. Ein anderer, mehr eklektischer Typus ist der ständige Sekretär der Berliner Akademie Samuel Formey (1711-1797), der in seiner ebenso bändereichen wie oberflächlichen La belle Wolffienne (1741 bis 53) das Wolffsche System dem gemeinen Menschenverstand anzupassen suchte. Zu Wolffs Anhängern zählten Männer und Frauen aller Stände, Orthodoxe und Freidenker, Protestanten und Jesuiten. Viele verbanden mit ihrem Wolffianismus lutherische Rechtgläubigkeit; er wurde zu einer Art protestantischer Scholastik, wie einst Melanchthons Lehre. Nur einem gelang eine wirkliche Erweiterung des Systems: Alexander Baumgarten (1714-1762).

Gerade das eine Gebiet, welches von Wolff unbearbeitet gelassen war, hatte sich inzwischen in Deutschland zu entwickeln begonnen. Da der geistige Tätigkeitstrieb im öffentlichen Leben keine Nahrung fand, warf er sich auf die Literatur und die ästhetische Kritik. Es[163] war die Zeit, wo Gottsched, der übrigens auch 1734 eine Weltweisheit im Sinne der Wolffschen Metaphysik verfaßte, der Diktator des literarischen Geschmackes in Deutschland war. Der von Gottscheds Gegnern, den Schweizern, angeregte Alexander Baumgarten, ein geborener Berliner, 1735 Dozent in Halle, seit 1740 Professor der Philosophie in Frankfurt a. O., nahm sich vor, die von Wolff in der Enzyklopädie des Wissens gelassene Lücke auszufüllen. Wie Wolffs Logik das »obere«, so soll Baumgartens Aesthetica oder »Empfindungslehre« (1750-58) das »untere« Erkenntnisvermögen, d.h. die sinnliche Wahrnehmung behandeln. Der Wahrheit als der logischen entspricht die Schönheit als die sinnliche Voll kommenheit. Freilich gilt ihm die Schönheit nur als »verworrene« Wahrheit, die Kunst besteht in der Nachahmung der Natur, und seine Wissenschaft vom Schönen ist tatsächlich nur eine weitschweifige, langweilig pedantische Poetik. Immerhin aber war das künstlerische Schaffen als ein selbständiges von der verstandesmäßigen Regelung abgesondert. Baumgarten hat übrigens unsere philosophische Begriffssprache nicht bloß mit der seit ihm herrschend gebliebenen, selbst durch Kant nicht umgestürzten Benennung »Ästhetik«, sondern auch mit einer Reihe anderer Kunstausdrücke bereichert, die dann durch seine viel gebrauchten Lehrbücher auch in die Sprache anderer Philosophen, insbesondere Kants, übergegangen sind. So ist besonders der heute geltende Gebrauch von »subjektiv« und »objektiv«, wenn er auch schon bei Leibniz vorkommt, hauptsächlich doch auf ihn zurückzuführen. Seine tausend Paragraphen zählende Metaphysica (1739, 7. Aufl. 1779) hat u. a. Kant als Handbuch für seine Vorlesungen gedient.

Als Apostel der neuen Lehre, die allmählich den Begriff der »Dichtkraft« auch über die Poesie hinaus zu erweitern suchte, wirkte Baumgartens ältester Schüler G. F. Meier (1718-1777) in Halle, der gegen Gottsched für die Schweizer (Bodmer, Breitinger) und Klopstock eintrat, in der Psychologie zu Lockes Empirismus hinneigte und eine Menge von Lehrbüchern verfaßt hat.


2. Neue, selbständigere Ansätze (Euler, Lambert, Tetens).

Die pedantische Strenge der strengeren Wolffianer rief denn doch bei manchen, selbständiger gearteten Köpfen[164] eine gewisse Gegnerschaft hervor, die sich zunächst als Eklektizismus äußerte und einen Teil von Wolffs Anhängern zu sich herüberzog. Thomasius' Prinzip der Systemlosigkeit fand Anhänger, so z.B. in dem Philosophiehistoriker Brucker (I, S. 7). Einer der Hauptgegner Wolffs war Rüdiger (1673-1731) in Leipzig, der die philosophische Wahrheit für eine höhere als die bloß logische erklärte, demgemäß die geometrische Methode, die nur nach der Möglichkeit, nicht nach der Wirklichkeit der Dinge frage, bekämpfte und eine empiristische Erkenntnistheorie aufstellte, wonach die sinnlichen Wahrnehmungen, zu denen auch die mathematische Anschauung gehört, für uns das höchste Prinzip der Gewißheit darstellen. Noch bedeutender war sein Schüler und Nachfolger Crusius (1712-1775), der gleichfalls aus dem Wolffschen Logizismus herauszukommen suchte. Er erklärte, die sinnliche Wahrnehmung könne durchaus »klar und deutlich« sein, und unterschied von dem Erkenntnisgrund den Realgrund der Dinge. Wir müssen nicht von den leeren Begriffen der Ontologie, sondern von der sinnlichen Erfahrung ausgehen, aus deren Bearbeitung schließlich die einfachen Begriffe und notwendigen Vernunftwahrheiten gewonnen werden können. Aus dem »ganz leeren« Satze des Widerspruchs, neben den er die zwei weiteren Sätze des »nicht zu Trennenden« und »nicht zu Verbindenden« stellt, lasse sich das Kausalprinzip nicht ableiten, aus bloßen Begriffen nicht auf die Existenz eines Dinges schließen; so bestreitet er u. a. die Gültigkeit des ontologischen Gottesbeweises. Er betont ferner kräftig die Freiheit des menschlichen Willens, ohne jedoch daraus die Konsequenz seiner vollen Selbständigkeit zu ziehen, hat sich auch eingehend mit dem Problem der historischen Wahrscheinlichkeit beschäftigt. Crusius ist von Einfluß auf Mendelssohn, Lambert und Kants vorkritische Periode gewesen.

Es bildete sich überhaupt neben dem Dogmatismus der Wolffschen Schule ein kleiner Kreis von skeptisch-kritisch-methodologischen Denkern, die das Bedürfnis nach einer neuen Grundlegung der Philosophie empfanden. Zu ihnen gehört, abgesehen von dem vorkritischen Kant selber, von der naturwissenschaftlichen Seite zunächst

a) der berühmte Mathematiker Leonhard Euler (1707 bis 1783), der als klassischer Vertreter des Geistes der mathematischen Naturwissenschaft (Newtons) in Deutschland bezeichnet werden kann. In seiner Mechanik (1736 ff.),[165] seinen Réflexions sur l'espace et le temps (1748) und seiner Theorie der Bewegung (1765) sprach er es offen aus, daß die Naturphilosophie sich nach den realen Prinzipien der Mechanik zu richten habe, nicht umgekehrt diese nach den spekulativen Einbildungen jener; und daß der reine Raum und die absolute Zeit keine Dinge, sondern unentbehrliche mathematisch-physikalische Postulate seien, wenn er auch als echter empirischer Forscher der Materie unbedingte Realität zuspricht. Es sei eine »elende Chikane« der Philosophen, schreibt er in seinen populärer gehaltenen (natürlich französisch geschriebenen !) Briefen an eine deutsche Prinzessin (Petersburg 1768-72), den wirklichen Körpern ihre wichtigsten, d.h. mathematischen Eigenschaften abzustreiten, weil die Mathematik nicht in das »Wesen der Dinge« einzudringen vermöge. Eine große Gesamtausgabe von Eulers Werken hat die Berliner Akademie der Wissenschaften in Angriff genommen.

b) Ferner gehört zu diesen selbständigeren Denkern der von Kant außerordentlich hoch geschätzte, gleichfalls gründlich mathematisch und naturwissenschaftlich gebildete Joh. Heinr. Lambert (1728-1777). In den Kosmologischen Briefen (1761) ist er der Kant- Laplaceschen Weltentstehungshypothese schon ganz nahe. In seinem philosophischen Hauptwerk, dem Neuen Organon (1764), definierte er die Metaphysik als »die Wissenschaft von den Formbeziehungen des Seins und des Denkens«. Er unterschied nämlich von dem durch die Wahrnehmung gegebenen Inhalt oder Stoff des Denkens dessen in den logischen und mathematischen Gesetzen zu findende Form; keines von beiden sei schlechtweg aus dem anderen abzuleiten, wie es der Logizismus Wolffs und sein Gegenpol, Lockes Sensualismus, wollten. Eine Vorarbeit dazu bietet die deutsch geschriebene Abhandlung vom Criterium veritatis (hrsg. von K. Bopp, Berl. 1918). Ein einheitliches Prinzip freilich für die Formen der Erfahrung vermochte Lambert noch nicht zu finden, wie seine Architektonik (1771) und sein mit Kant, der ihm sein kritisches Hauptwerk widmen wollte, geführter Briefwechsel zeigen. Er sieht zwar die streng apriorischen Disziplinen der Geometrie, Chronometrie und Phoronomie als den festen Maßstab an, mit dem wir die physikalischen und astronomischen Tatsachen zur Wissenschaft machen, wie er denn einmal geäußert hat: »Was nicht gewogen und berechnet werden kann, davon verstehe ich nichts«; aber der letzte Vermittler zwischen Begriff und Wirklichkeit bleibt ihm doch – die Gottheit.[166]

c) Wie Lambert, unterscheidet auch der bedeutendste Psychologe der Zeit, der Schleswiger Joh. Nik. Tetens (1736-1807, Professor in Kiel, starb als Staatsrat in Kopenhagen), Form und Inhalt der Erkenntnis. Schon als 24 jähriger hatte er in einer besonderen Schrift untersucht, »warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind«. Seine Philosophischen Versuche über die menschliche Natur (1776/77) stehen bereits unter dem Einfluß der Kantschen Dissertation von 1770. Der Inhalt stammt aus der Empfindung, die Form aus der Denktätigkeit; erstere ist rezeptiv, letztere spontan. Alle bewußte Auffassung Ist Auffassung eines Verhältnisses. Die Akte des Denkens erweisen sich, in ihrer Anwendung als Naturgesetze des Denkens, als aus dem Wesen der Seele stammende »subjektivische Notwendigkeiten«. Wir nehmen aber nur die Erscheinungen wahr, das Wesen der Dinge bleibt uns bei dem beschränkten Umfange und den Grenzen des menschlichen Verstandes unerkennbar. Tetens' Hauptverdienst besteht in der feinen psychologischen Analyse, die er übt, und die sich bei ihm mit scharfer Beobachtungsgabe, wissenschaftlichem Interesse an ihrer physiologischen Unterlage sowie einer genauen Kenntnis dessen paart, was Franzosen, Engländer und deutsche Leibnizianer auf diesem, Felde geleistet haben. Kant verdankt ihm in sachlicher wie namentlich in terminologischer Beziehung mancherlei. Tetens setzt u. a. die dann durch Kant allgemein üblich gewordene psychologische Dreiteilung der »Seelenvermögen« in Erkenntnis-, Beziehungs- und Gefühlsvermögen an Stelle der Wolffschen Zweiteilung in Vorstellen und Wollen. Auch die Einteilung der Einbildungskraft in perzeptive, produktive und reproduktive u.a.m. stammt von ihm. Selbst die heutige Psychologie kann noch manches von Tetens lernen. Aber er vermag sich nicht von den psychologischen Grundlagen zu lösen. Er dringt allerdings bis zu der transzendentalen Fragestellung vor: Nach welchen Grundregeln und auf welchem »unerschütterlichen Fundamente« errichtet die menschliche Denkkraft ihre allgemeinen Theorien, die »reellen und feststehenden Kenntnisse« der Geometrie, der Optik, der Astronomie? Allein er gibt keine Antwort darauf. Er vertritt gegenüber Lossius, der in seinen Physischen Ursachen des Wahren (1776) den Satz des Widerspruchs und damit die Wahrheit auf das »angenehme Gefühl aus der Zusammenstimmung der Schwingungen der Fibern im Gehirn« zurückzuführen suchte, die Notwendigkeit einer allgemeingültigen,[167] unveränderlichen, »objektivischen« anstatt der veränderlichen »subjektivischen« Erkenntnis, aber er gelangt über die Forderung nicht hinaus. Das war erst Kants Kritizismus vorbehalten, bis zu dessen Grenze Tetens führt.


3. Popularphilosophie.

Neben solchen selbständigeren Ansätzen geht der breite Strom der Popularphilosophie einher. Die Wolffsche Schule hatte sich durch ihre Pedanterie und Rubrizierungswut, um mit Goethe zu reden, »ungenießbar und endlich entbehrlich« gemacht und räumte der Philosophie »des gesunden Menschenverstandes« den Platz, die durch die gleichzeitigen Strömungen in England (Schottland) und Frankreich Anregung und Unterstützung erhielt. Da wir keine allgemeine Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland zu schreiben haben, genügt es, von diesen Vertretern der deutschen Aufklärung einige Richtungen und Männer kurz zu charakterisieren.

a) Die platt-teleologische Betrachtung der Natur nimmt überhand, und im Zusammenhang damit die Betonung von Gottes Güte und Weisheit, die sich auf die kleinsten Dinge erstreckt, z.B. daß er die erquickenden Kirschen in der Hitze des Sommers, nicht in der kalten Winterszeit habe reifen lassen (Sulzer). Die physikotheologische Denkweise versteigt sich zu der Geschmacklosigkeit, von Stein-, Pflanzen-, Fisch-, Insekten- u. a. Theologien zu reden ! Damit verbinden sich die verschiedensten theologischen Standpunkte, von offenbarungsgläubiger Orthodoxie bis zu dem Naturalismus eines Dr. Bahrdt. Neben dem Dasein Gottes ist die persönliche Unsterblichkeit, genauer unsere endlose Vervollkommnung im Jenseits der wichtigste Glaubensartikel der deutschen Aufklärung. Die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit ist alleiniger Zweck und Aufgabe der Philosophie, die damit zur schalen Moralpredigt herabsinkt. Daneben wird die empirische Psychologie ein Lieblingsfeld derer, die sich von der französischen und englischen (besonders Lockes) Erfahrungsphilosophie angezogen fühlen. Es ist die klassische Zeit der Empfindsamkeit, des Wühlens in den Seelenzuständen, der Selbstbeobachtungen und Selbstbekenntnisse der Tagebücher, der zärtlichen Freundschaften, der Gefühlsseligkeit.

Für die Wissenschaft fällt dabei naturgemäß sehr wenig ab. Sulzer (1720-1779, aus Zürich, früh nach Berlin) suchte die Lehre vom Gefühl und den Empfindungen, die er aus Leibniz' dunklen Vorstellungen herleitete,[168] weiter auszubilden. Er unterscheidet die ästhetischen von den sinnlichen, intellektuellen und moralischen Empfindungen. Dennoch werden sie noch nicht in ihrer Selbständigkeit erkannt, seine Ästhetik bleibt teils verstandesmäßig teils moralisierend. Der Geschmack ist »eine notwendige Folge von Erkenntnis und Einsicht«; daher werden die Zeitgenossen Bodmer und Pope über Homer und Lukrez gestellt! Anderseits hat die Kunst, wie alle Philosophie, dem höheren Zwecke der menschlichen Glückseligkeit zu dienen. Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-74) galt lange Zeit als ästhetische Autorität, die sich bei den »Schweizern« wie den Gottschedianern gleicher Beliebtheit erfreute.

An die französischen und englischen Vorbilder reichen die meisten der deutschen Aufklärer nicht heran. Neben feineren Naturen wie dem geistreichen Physiker Lichtenberg in Göttingen, dem zur Skepsis neigenden und auch als Ästhetiker nicht unwichtigen Leibnizianer Platner (Hauptschrift: Philosophische Aphorismen 1776 ff.) in Leipzig, dem Philosophiehistoriker Tiedemann in Marburg, dem sinnigen Menschenbeobachter Garve in Leipzig stehen philosophisch so oberflächliche Naturen wie der Dichter Wieland, der »Philosoph für die Welt« Engel, die vermittlungseligen Eklektiker und Vielschreiber Feder und Meiners in Göttingen und, um von den dii minorum gentium zu schweigen, das bekannte Muster aufklärerischer Seichtigkeit und Plattheit, der Berliner Buchhändler Nicolai, dessen verdienstlicher Kampf gegen Vorurteile aller Art, namentlich in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek (1765-1805), darüber jedoch nicht vergessen werden darf. Ebenso hat Basedow, dessen Praktische Philosophie das trivialste Zeug enthält, wenigstens einen kräftigen Anstoß zur Reform des Unterrichts in Deutschland gegeben.

b) Ernsteren Charakter trägt der Wolff näher stehende theologische Rationalismus der Zeit, der sich in Männern wie Spalding, Semler, dem Begründer der historischen Bibelkritik, und besonders H. S. Reimarus (Gymnasialprofessor in Hamburg, 1694-1768) zu achtungswerten Gestalten erhob. Reimarus, ein ehrlicher und folgerichtiger Denker, verteidigt zwar gegen den Materialismus (La Mettrie) und Pantheismus (Spinoza) die Grundsätze der natürlichen Religion (Gott und Unsterblichkeit), bekämpft aber um so entschiedener den Glauben an übernatürliche Offenbarungen, und deshalb auch die biblischen[169] Lehren, die ihm als ein Gemisch von Irrtum und Betrug erscheinen. Seine in diesem Sinne gehaltene, umfangreiche Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes konnte er unter solchen Umständen nicht herauszugeben wagen. Erst nach seinem Tode veröffentlichte Lessing eine Reihe Untersuchungen daraus, die als Wolffenbüttler Fragmente so großes Aufsehen erregten, und erst D. F. Strauß hat in seinem Buche über Reimarus (1862) eine ausführliche Zergliederung der gesamten Schrift gegeben.

c) Die edleren Züge der Aufklärung vereinigt in sich Moses Mendelssohn (1729-1786), Sohn eines armen jüdischen Lehrers aus Dessau, der früh nach Berlin kam, sich unter den größten Schwierigkeiten und Entbehrungen seine wissenschaftliche Bildung er warb und auch als berühmter Schriftsteller seine kaufmännische Stellung beibehielt. Klarheit des Stils, warme Empfindung, reine Humanität zeichnen ihn aus, dagegen fehlt philosophische Kraft und Tiefe. Extreme sind ihm verhaßt, die Wahrheit liegt in der Mitte, wie er selbst auch in der Mitte zwischen Wolff und Locke, Schul- und Popularphilosophie steht; außerdem hat namentlich Shaftesbury auf ihn gewirkt. Auch seine Hauptdogmen sind die Unsterblichkeit der Seele, die er in seinem Phädon (1767) durch einen ganz unhistorischen Sokrates verkünden läßt, und das Dasein eines persönlichen Gottes, das er in seinen Morgenstunden (1785) unumstößlich bewiesen zu haben meinte. Natur- und Geschichtsforschung liegen ihm gänzlich fern. Die Philosophie soll auch nach ihm nur das behandeln, was auf die Glückseligkeit der Menschen Bezug hat. Lust und Unlust hat Mendelssohn zuerst als »Empfindungen« bezeichnet (1755) und dafür ein besonderes Vermögen des »Gefühls« angenommen, das er später »Billigungsvermögen« nannte. Als die Kritik des »alles zermalmenden« Kant erschienen war, fühlte der bescheidene Mann, der 1763 noch mit seiner Preisschrift über die Evidenz in der Metaphysik den Sieg über seinen Mitbewerber Kant davongetragen hatte, selbst, daß seine und seiner Gesinnungsgenossen Rolle in der Geschichte der Philosophie ausgespielt sei.

d) Ungleich selbständiger und bedeutender als seine Berliner Freunde Nicolai und Mendelssohn, bedeutender auch als der »Philosoph von Sanssouci«, Friedrich II., nach dem man wohl das ganze Zeitalter der Aufklärung benannt hat, und der doch philosophisch über seine französischen Vorbilder (Voltaire, d'Alembert) nicht hinausgekommen[170] ist, ist der Neubegründer unserer klassischen Literatur, G. E. Lessing (1729-1781). Zwar wurzelt auch seine Bildung in der Aufklärung, aber seine tiefere Natur führt ihn an verschiedenen Punkten über dieselbe hinaus. Einmal, in der historischeren Auffassung der Dinge, die ihn in der Erziehung des Menschengeschlechtes die Umrisse einer den Entwicklungsgedanken vertretenden Geschichtsphilosophie entwerfen läßt, von ihm allerdings nur auf das religiöse Gebiet angewandt. Alttestamentliches Judentum und neutestamentliches Christentum sind bloße Entwicklungsstufen in dem göttlichen Erziehungsplan der Menschheit. Freilich auf die Historie selbst können sich Religion und Philosophie nicht gründen. »Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« Das Ziel der Entwicklung ist auch ihm die natürliche Religion, das »Christentum der Vernunft«, das jedoch dem »vernünftigen Christentum« seiner Zeit nicht gleichgesetzt werden will, und dessen Kern »das Testament Johannis«, – die Liebe ist. Einzelne Dogmen, wie Dreieinigkeit und Erbsünde, sucht er philosophisch auszulegen. Philosophisch steht er wohl Leibniz am nächsten, dessen Nouveaux essais er auch übersetzen wollte. Wie weit die von Jacobi für Lessings letzte Zeit behauptete Übereinstimmung mit Spinoza gegangen sei, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen; wir werden auf den daraus entstandenen literarischen Streit, der Mendelssohns letzte Tage verbitterte, bei Jacobi (s. § 45) zurückkommen. Das wesentlichste aber von Lessings Verdiensten ist sein kritischer Standpunkt. Der Mann, der das Suchen nach der Wahrheit höher stellte als den vermeintlichen Besitz derselben, war freilich nicht zum Systematiker geschaffen, konnte sich aber auch nicht bei der selbstgefälligen Weisheit der deutschen Durchschnittsaufklärer beruhigen. Seine Größe als Schriftsteller und ästhetischer Kritiker zu würdigen, ist hier nicht des Orts; auch sein Kampf gegen die Orthodoxie enthält kaum philosophische Momente im engeren Sinne. Seine philosophische Bedeutung beruht allerdings mehr in seinen allgemeinen Tendenzen als in einzelnen Leistungen; vor allem in der Sorgfalt, mit der er auf reinliche Scheidung der Begriffe und Gebiete der Erkenntnisdrang. Hierin, wie in seiner Religionsauffassung, hat er einem Größeren vorgearbeitet. Im Todesjahr Lessings erscheint Kants Kritik der reinen Vernunft.[171]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 162-172.
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