§ 40. Der Inhalt des Sittengesetzes. Seine Anwendung auf die psychologische Beschaffenheit: des Menschen.

1. Der Inhalt des Sittengesetzes.

[231] In der Begründung und Formulierung des Sittengesetzes hat sich die Notwendigkeit einer formalen Ethik ergeben. Aber bleibt dieselbe nicht leer, abstrakt, inhaltlos, wie ihre Gegner von jeher behauptet haben? Demgegenüber kann aus der weiteren Entwicklung von Kants ethischer Systematik gezeigt werden, welch reichen Inhalt dieses scheinbar von aller Erfahrung losgelöste, rein formale Sittengesetz in sich birgt.

1. Die allgemeine Gesetzgebung und die Idee der Menschheit. Es enthält zunächst den Gedanken: Es gibt eine »allgemeine Gesetzgebung«, der alle Einzelmaximen weichen müssen. Und sie gilt »jederzeit«: von aller Ewigkeit her bis in alle Zukunft, solange vernünftige Wesen existieren47. Die Vorstellung der »bloßen Form« einer allgemeinen Gesetzgebung soll uns leiten; aller besondere[231] Inhalt von Gütern, Tugenden oder Pflichten bleibt (als material) vorläufig ausgeschlossen, oder, wie die Kritik der Urteilskraft später sagt, »der innere moralische Wert einer Handlung besteht allein in ihrer formalen Beschaffenheit, nämlich in ihrer Unterordnung unter das Prinzip der Allgemeingültigkeit«. Mit der Vorstellung einer allgemeinen Gesetzgebung aber hängt unmittelbar die Idee der Menschheit zusammen, »die der Mensch als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele tragt«, und die auch wohl geradezu mit dem »Gesetz« identifiziert wird; sie, die uns, wie wir noch sehen werden, in jeder Person die Menschheit achten lehrt. Denn das Sittengesetz ist als allgemeines Gesetz für den Menschen als Vernunftwesen (s. vorige Anmerkung) gegeben. Und da der Mensch als vernünftiges Wesen im Zusammenhange mit anderen vernünftigen Wesen derselben Gattung lebt, so entsteht aus diesem Wechselverhältnis der Gedanke einer »systematischen Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze«, d.h. eines »Reichs der Sitten«. Indem nun im formalen Sittengesetz die Vorstellung dieses »idealen« Reiches zur »Maxime« unseres Willens wird, übt sie auf unser Herz »einen so viel mächtigeren Einfluß als alle anderen Triebfedern, die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihrer Meister werden kann«.

2. Der Autonomie-Gedanke und die Idee der Persönlichkeit. Aber der Mensch ist nicht bloß Objekt, sondern auch Subjekt, d. i. Schöpfer des Sittengesetzes »vermöge der Autonomie seines Willens«. Er bringt den reinen Willen durch die Vorstellung jener bloßen Form einer allgemeinen Gesetzgebung selbst erst hervor. Aus einem bloßen Untertan ist er jetzt zum »jederzeit und allgemein« gesetzgebenden Mitglied jenes Reichs der Sitten geworden. Der Selbstzwang, den er sich auferlegt, ist ein »freier«, das Gesetz findet »von selbst im Gemüte Eingang«, »sein Joch ist sanft« und »seine Last leicht«; ja, das Gefühl der Freiheit in der Wahl des Endzwecks macht die Gesetzgebung sogar »liebenswürdig«. Auch die Einfachheit und Selbstverständlichkeit des Sittengesetzes hängt mit dem Prinzip der Selbstgesetzgebung zusammen; was nach ihm zu tun sei, ist »für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen«, während die Heteronomie, d.h. fremde Maßstäbe, »Weltkenntnis« und »viel Klugheit« erfordern.[232]

Diese Einfachheit mag »in Vergleichung mit den großen und mannigfaltigen Forderungen, die daraus gezogen werden können«, befremden, und doch eröffnet gerade der in dem Grundsatz der Autonomie positiv gewendete Gedanke der transzendentalen Freiheit das »ganze Feld« der »praktischen Erkenntnisse«, das sich im Reiche der Sitten vor uns auftut. Die Idee der Menschheit wird nun, indem sie auf die eigene Person des autonomen Gesetzgebers zurückbezogen wird, zur Idee der »Menschheit in mir«, d.h. der Persönlichkeit. Das formale Sittengesetz enthüllt dem Menschen sein »eigentliches Selbst«, seine »bessere Person«, seine »Würde«. Die moralische Persönlichkeit ist im Unterschiede von der bloß psychologischen Person »die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen«. Sie bildet in gewissem Sinne den Gipfelpunkt von Kants Ethik, denn sie ist die Antwort auf deren letzte Frage (pr. V. 105). Sie offenbart mir »ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben«, eine »Bestimmung, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht« (ebend. Beschluß).

Der Gedanke der allgemeinen und der »Selbst« Gesetzgebung, die Ideen der Menschheit und der Persönlichkeit verschmelzen sich endlich noch mit dem uns bereits aus § 37 bekannten, aber nun aufs Moralische angewandten Zweckgedanken.

3. Das Reich der Zwecke und der Endzweck. »Ordnung der Zwecke« ist das eigentümliche Gebiet der Vernunft, die Ethik (im umfassendsten Sinne) »das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft«. Indem wir die endlose Reihe der Bedingungen unseres Wollens, d.h. eben der Zwecke durchmustern, erhebt sich immer ein neues Wozu? Jeder Zweck erweist sich in dieser »Kausalität des Wollens (K. nach Zwecken, K. der Freiheit)« immer wieder als auf einen anderen bezüglich, sonach als Mittel. Nur vor dem formalen Sittengesetze selbst erreicht dieser »Progressus« ein Ende, denn hier hat er das Unbedingte erreicht, das nicht mehr zu erklären ist; wir begreifen nur seine Unbegreiflichkeit (Schluß der Grundlegung), wir stehen beim Selbst– oder Endzweck. Daß dieser Endzweck, nämlich das unbedingte praktische Gesetz, seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht weiter begreiflich gemacht werden kann, ist ein Vorwurf, »den man der menschlichen Vernunft überhaupt machen[233] müßte«. So existiert denn »die vernünftige Natur« oder, was dasselbe ist, der Mensch als »vernünftiges Wesen« (s. o.) als Zweck an sich selbst. »In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Wesen ist Zweck an sich selbst.« Daher muß die Menschheit in unserer Person, die sogar von der Gottheit niemals bloß als Mittel gebraucht werden kann, ohne zugleich einen Zweck darzustellen, uns »heilig« sein, und das Sittengesetz erhält nunmehr (Grundlegung 53 f.) die weitere Formulierung: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«

In den Worten »in der Person eines jeden anderen« ist bereits die Mehrheit vernünftiger Wesen (Personen) als Selbstzweck mitgedacht. Das »Reich der Sitten« kann somit genauer bestimmt werden als ein »Reich der Zwecke«, weil die Gesetze desselben »die Beziehung vernünftiger Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben«. Freilich ist ein solches Reich »nur ein Ideal«, aber doch eine »brauchbare und erlaubte Idee«, deren Verwirklichung wir anstreben sollen. »Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee zur Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zustande zu bringen« (Grundlegung 62 A.). Das Naturgesetz wird so zum »Typus« des Sitten- oder Freiheitsgesetzes, die Natur der Sinnenwelt zum Typus der intelligibelen gemacht (wie dies die Typik der reinen praktischen Urteilskraft näher ausführt), damit das Gesetz der Freiheit auf Handlungen als »Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen und also sofern zur Natur gehören« angewandt werden kann.

Damit kommen wir von der reinen oder formalen Ethik, welche uns nunmehr die ganze sittliche Welt in ihrer Unermeßlichkeit erschlossen hat, zu ihrer


II. Anwendung auf den empirischen Menschen.

1. Unentbehrlichkeit einer angewandten Ethik. Ohne die Möglichkeit ihrer Anwendung hätte die reine[234] Ethik keinen Sinn. Eine angewandte Ethik oder »moralische Anthropologie«, wie Kant gewöhnlich statt dessen sagt, kann »nicht entbehrt«, sie darf nur nicht vor jener vorausgeschickt oder mit ihr »vermischt« werden; aber sie gehört »zur Vollständigkeit der Darstellung des Systems«. Ja, die Ethik hat sogar vor der »Transzendental-Philosophie« (der theoretischen Vernunft) den Vorteil, daß sie »ihre Grundsätze insgesamt auch in concreto, zusamt den praktischen Folgen, wenigstens in möglichen Erfahrungen geben kann« (Kr. 453). Schon methodisch liegt in dem Begriff des Sollens die Möglichkeit des Wirkens. »Die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen.« Der Mensch kann, was er soll, und wenn auch zwischen dem Naturbegriff und dem Freiheitsbegriff, der Welt des Sinnlichen und des Übersinnlichen »eine unübersehbare Kluft befestigt ist«, so »soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen«. Die Beziehung auf die psychologische Beschaffenheit, die seelisch-körperliche Organisation des Menschen mußte bei der Begründung der reinen Ethik abgelehnt werden, um ihr eine desto fruchtbarere Anwendung zu ermöglichen.

Schon die Tatsache, daß Kants eigene literarische Tätigkeit sich nicht auf die Begründung der reinen Ethik beschränkt, sondern sich, sogar mit Vorliebe, der angewandten Ethik zugewandt hat, sollte ihn vor dem Verdachte bewahren, als ob er die Unentbehrlichkeit der letzteren verkannt hätte. Ehe wir indes einen Blick auf die besonderen Anwendungen, d.h. seine Tugend- und Rechtslehre, seine Pädagogik, Geschichts- und Religionsphilosophie werfen (§ 41), haben wir noch einige allgemeine Begriffe seiner angewandten Ethik zu kennzeichnen.

2. Der kategorische Imperativ, das Gefühl der Achtung und der Begriff der Pflicht. a) Wir haben einen sehr bekannten Begriff der Kantischen Ethik bisher noch gar nicht erwähnt: den kategorischen Imperativ. Das Sittengesetz kleidet sich in die Befehlsform (»Handle usw.«), weil es sich an den empirischen. Menschen mit allen seinen, zum Teil widerstrebenden, Gefühlen und Neigungen wendet. »Imperative sind Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses[235] oder jenes vernünftigen Wesens, z.B. des menschlichen Willens, auszudrücken.« Sie gehören daher in das Gebiet der angewandten Ethik und werden deshalb in der Grundlegung ausführlich, in der Kr. d. pr. V. nur beiläufig behandelt. Von den hypothetischen oder bedingten Imperativen, die nur »Vorschriften der Klugheit (Geschicklichkeit)« zur Erreichung bestimmter Zwecke, z.B. der eigenen Glückseligkeit, sind, unterscheidet sich der kategorische dadurch, daß er unmittelbar gebietet, weil er auf den unbedingten Zweck des formalen Sittengesetzes geht.

b) Alles Wollen des Menschen ist mit einem Gefühle, sei es der Lust oder der Unlust, verbunden. Indem sich nun das Sittengesetz vermittelst des kategorischen Imperativs an den Erfahrungsmenschen wendet, entsteht in diesem das merkwürdige, aus Lust und Unlust gemischte Doppelgefühl der Achtung. Der sinnliche Mensch in uns, das »pathologisch affizierte« Subjekt fühlt sich gedemütigt im Bewußtsein seiner Unangemessenheit zur Idee: das Gefühl seines Unterworfenseins unter die Strenge des Gesetzes führt ein Gefühl des Zwanges, mithin der Unlust mit sich. Der moralische Mensch in uns dagegen, unser »besseres Selbst« fühlt sich erhoben, ja hingerissen in dem Bewußtsein, daß er selbst der Schöpfer dieses Gesetzes ist (s. oben I, 2), daß er nur der Gesetzgebung seiner eigenen Vernunft gehorcht; die Unterwerfung wird nun eine »freie«, der Zwang zum »freien Selbstzwang«. Hat man bloß seinen Eigendünkel (nicht die wahre, »vernünftige Selbstliebe«) abgelegt, so kann man sich an der Herrlichkeit des Sittengesetzes »nicht satt sehen«, und die Seele »glaubt sich in dem Maße selbst zu erheben, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht«. Wir fühlen die Erhabenheit unserer Bestimmung in dem Gefühle jenes unerklärbaren Etwas in uns, »das sich getrauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen«. Achtung ist, weil sie vom Sittengesetze notwendig und unmittelbar bewirkt wird, das einzige Gefühl, das wir a priori erkennen können; sie ist das wahre »moralische Gefühl«. Der Umstand, daß wir keinem anderen Gesetze gehorchen als dem, das wir uns (als Vernunftwesen) selbst geben, verleiht uns einen inneren Wert, der unbedingt und über allen »Marktpreis« hoch erhaben ist, d.h. Würde.[236]

c) Indem nun das Sittengesetz vermittelst des Gefühls der Achtung zur »Triebfeder« unserer Handlungen wird, entsteht in uns das Bewußtsein der Pflicht. Es ist methodisch bezeichnend, daß Kant, während er in der von der populären sittlichen Weltweisheit ausgehenden Grundlegung (1785) das Sittengesetz noch von der Pflicht ableitet, bereits in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) den Pflichtbegriff von dem »System der reinen Sittlichkeit« ausschließt (ebd. S. 29); in der Kritik der praktischen Vernunft erscheint er dann ganz deutlich als Grundbegriff der angewandten Ethik. Bekannt ist die Strenge, mit welcher Kant diesen seinen Pflichtbegriff aller Neigungsmoral entgegensetzt. »Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun«, aber das ist noch nicht »die echte moralische Maxime unseres Verhaltens... Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnis zum moralischen Gesetze geben müssen«. »Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigentümliches Gesetz... und wenn man beide auch noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleichsam als Arzneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst.« Solche Stellen, deren noch viele angeführt werden könnten, haben Kant vielfach den Vorwurf des »Rigorismus« zugezogen; ungerechtfertigterweise, soweit er sich auf Kants sittliche Gesamtanschauung bezieht. Methodisch aber ist diese Strenge vollständig gerechtfertigt; denn die formale Ethik muß auch in ihrer Anwendung frei gehalten werden von allem Eudämonismus. »Um ihn ganz rein zu haben, muß der Mensch sein Verlangen nach Glückseligkeit völlig vom Pflichtbegriffe absondern.« Mag er auch »vielleicht nie seine erkannte und von ihm auch verehrte Pflicht ganz uneigennützig (ohne Beimischung anderer Triebfedern) ausgeübt haben; vielleicht wird auch nie einer bei der größten Bestrebung so weit gelangen. Aber... zu jener Reinigkeit hinzustreben... das vermag er: und das ist auch für seine Pflichtbeobachtung genug«. Daß dieser im Interesse der Methode notwendige »Rigorismus« oder »Formalismus« bei Kant keine »karthäuserartige Gemütsstimmung« zur Folge hatte, geht nicht bloß aus seiner ganzen sittlich-heiteren Persönlichkeit, sondern auch aus zahlreichen Stellen seiner Schriften, deren einige wir bereits oben (zu I, 2) angeführt, während wir andere[237] an anderem Orte gesammelt haben 48, mit voller Klarheit hervor. So auch aus der berühmten Apostrophe an die Pflicht (pr. V. 105), mit deren erstem Teil wir diesen Abschnitt beschließen wollen: »Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet.«


III. Das höchste Gut und die Postulate.

1. Das höchste Gut. Man könnte im Gegenteil Kant eher einer gewissen Inkonsequenz zeihen, weil er die aus den Grundbegriffen nicht nur der reinen, sondern auch der angewandten Ethik mit bewußter Absicht entfernten Begriffe der Vollkommenheit und Glückseligkeit nachträglich, wenn auch nur im Grenzgebiete von Moral und Religion, wieder zugelassen hat: durch den Begriff des höchsten Gutes. Das höchste Gut hat, wie wir sahen, in der späteren antiken Ethik, besonders bei den Stoikern und Epikureern, eine Hauptrolle gespielt. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen Sachverhalt hat nun Kant zwar mit aller Deutlichkeit sich dagegen gewandt, daß das höchste Gut zum Bestimmungsgrunde des (sittlichen) Willens gemacht werde; es dürfe vielmehr erst »weit hinterher«, nämlich nach vollständig vollzogener Begründung der formalen Ethik, »dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen als Gegenstand vorgestellt werden«. Folgerichtig müßte sein höchstes Gut lediglich ein anderer, mehr psychologisch gewandter Ausdruck für den Endzweck sein und, wie er an einer Stelle auch wirklich sagt, in der »Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen« bestehen. Ähnlich heißt es in der Vorrede zur Religion innerhalb etc. (S. 7, Anm.): »Alle Menschen könnten hieran auch genug haben, wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetz hielten. Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und[238] Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist's genug, daß sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein, und wohl gar selbst in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit niemals zusammentreffen«. Allein er wollte wohl den Rigorismus, dessen Anschein er sich durch die schroffe Ablehnung des Glückseligkeitsprinzips auch in den Augen vieler Wohlgesinnten gegeben hatte, in der Ausführung möglichst mildern und vor allem mit seinen religiösen Anschauungen in Einklang bringen. Und so läßt denn seine Dialektik der reinen praktischen Vernunft zu dem »ganzen und vollendeten« Gut, außer der Tugend als oberster Bedingung, doch »auch« die Glückseligkeit gehören. Freilich nur als notwendige Folge der ersteren, des »obersten« Gutes, und in Unterordnung unter das Sittengesetz. Denn dem letzteren oder der es erzeugenden praktischen Vernunft kommt »das Primat« über die spekulative zu, da »alles Interesse zuletzt praktisch ist«. Dieses praktische Interesse verlangt eben auch die Glückseligkeit, wenngleich nur unter der Voraussetzung und Bedingung der Glückwürdigkeit.

2. Die Postulate. So stellt Kant drei »Postulate der reinen praktischen Vernunft« auf, d.h. Sätze, die »theoretisch nicht erweislich« sind, daher auch wohl geradezu als »Glaubenssachen« bezeichnet werden, aber doch dem praktischen Gesetze »unzertrennlich anhängen«. Es sind die Dogmen der Leibniz-Wolffschen Aufklärung und zugleich der Rousseauschen Philosophie: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, mit denen sein ganzes Zeitalter geschwängert war.

a) Die Freiheit (unseres Willens) wird nur gelegentlich als Postulat bezeichnet. Und in der Tat, wie könnte sich dieser mit der Autonomie identische »Grundbegriff aller unbedingt praktischen Gesetze«, von dem das selbst nicht weiter ableitbare Sittengesetz »nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweist, die dies Gesetz als für sie verbindend anerkennen« (pr. V. 58), mit dem Geltungswerte eines bloßen Glaubenssatzes begnügen? – Deutlicher erscheint denn auch der Zusammenhang mit dem höchsten Gute und damit ihr eigentlicher Postulatcharakter bei den beiden anderen Postulaten: der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes.

b) Die oberste Bedingung des in der Welt zu verwirklichenden höchsten Gutes ist völlige Übereinstimmung[239] unserer Gesinnung mit dem Sittengesetze. Eine solche Vollkommenheit aber oder Heiligkeit ist keinem vernünftigen Wesen hienieden möglich; sie kann also nur, wenigstens annähernd, durch einen unendlichen »Progressus« der »Heiligung« erreicht werden; dazu aber ist eine unendliche Fortdauer der Persönlichkeit, mithin Unsterblichkeit der Seele die notwendige Voraussetzung. Freilich ist die Aussicht auf ein beständiges Fortschreiten in einer seligen Zukunft auch für Kant nicht Gewißheit, sondern nur »tröstende Hoffnung«.

c) Da Glückseligkeit die notwendige Folge der Sittlichkeit oder Glückwürdigkeit sein soll, es aber außer allem Vermögen des Menschen steht, dies aus eigener Kraft zu bewirken, so muß ein allmächtiges moralisches Wesen als Weltherrscher (Gott) angenommen werden, der die »genaue Übereinstimmung« der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit oder, wie es an späterer Stelle glücklicher formuliert wird, »des Reiches der Natur mit dem der Sitten« (deren beider Oberhaupt Gott ist) herzustellen imstande ist.

»Die Moral führt unausbleiblich zur Religion.« Indessen will Kant, wie er in immer neuen Wendungen betont, die Selbständigkeit der Moral gegenüber der Theologie durchaus gewahrt wissen. Die moralische Frage: Was soll ich tun? hat mit der religiösen: Was darf ich hoffen? an sich nichts zu tun. Erst wenn die Moral »vollständig vorgetragen worden«, kann »der Schritt zur Religion« geschehen, erst dann – wie der methodisch etwas bedenkliche Ausdruck lautet – die Sittenlehre »auch Glückseligkeitslehre genannt werden« (pr. V. 156).

Mit unseren letzten Betrachtungen haben wir uns bereits auf dem Grenzgebiete der Ethik und der Religionsphilosophie bewegt. Wir haben nun noch einen kurzen Blick auf die letztere sowie auf weitere Sonderanwendungen der ethischen Grundgedanken zu werfen.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 231-240.
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