1. Erwachen zur Selbstbesinnung

Die Zeit der Herbstfluten war gekommen, hunderte von Wildbächen ergossen sich in den gelben Fluß. Trübe wälzte sich der angeschwollene Strom zwischen seinen beiden Ufern, so daß man von der einen Seite zur andern nicht mehr einen Ochsen von einem Pferd unterscheiden konnte. Darüber wurde der Flußgott hochgemut und freute sich und hatte das Gefühl, daß alle Schönheit auf der Welt ihm zu Gebote stehe. Er fuhr auf dem Strome hinab und kam zum Nordmeer. Da wandte er das Gesicht nach Osten und hielt Ausschau. Aber er entdeckte nicht das Ende des Wassers. Darüber drehte der Flußgott sich um, blickte auf zum Meergott und sagte seufzend: »Was da im Sprichwort steht: Wer hundert Wege kennt, hält sich für unvergleichlich klug, das trifft auf mich zu. Wohl habe ich schon Leute getroffen, die von menschlicher Größe nicht viel wissen wollten, aber ich habe ihnen nie recht geglaubt. Erst bei Euch jetzt sehe ich, was wirkliche Größe und Unerschöpflichkeit ist. Wäre ich nicht vor Eure Tür gekommen, so wäre ich in Gefahr, dauernd verlacht zu werden von den Meistern der großen Auskunft.«[179]

Der Gott des Nordmeers Jo sprach: »Mit einem Brunnenfrosch kann man nicht über das Meer reden, er ist beschränkt auf sein Loch. Mit einem Sommervogel kann man nicht über das Eis reden, er ist begrenzt durch seine Zeit. Mit einem Fachmann kann man nicht vom LEBEN reden, er ist gebunden durch seine Lehre. Heute bist du über deine Grenzen hinausgekommen, du hast das große Meer erblickt und erkennst deine Ärmlichkeit: so wird man mit dir von der großen Ordnung reden können. Von allen Wassern auf Erden gibt es kein größeres als das Meer. Alle Ströme ergießen sich darein, kein Mensch weiß wie lange, und doch nimmt es nicht zu. An der Sinterklippe verdunstet es, kein Mensch weiß wie lange, und doch nimmt es nicht ab. Frühling und Herbst verändern es nicht; Fluten und Dürre kennt es nicht. Darin besteht seine unermeßliche Überlegenheit über Flüsse und Ströme. Und dennoch halte ich mich nicht selbst für groß. Das kommt daher, daß ich das Verhältnis kenne, in dem meine Gestalt zu Himmel und Erde steht, daß ich meine Kraft empfange von den Urmächten des Lichten und Trüben. Ich bin inmitten von Himmel und Erde nur wie ein Steinchen oder ein Bäumchen auf einem großen Berg, das in seiner Kleinheit nur eben sichtbar ist. Wie sollte ich mich da selber für groß halten? Denkst du etwa, daß die vier Meere inmitten von Himmel und Erde nicht nur einer kleinen Erhöhung oder Vertiefung in dem großen Urmeer entsprechen? Um die Zahl aller Dinge zu bezeichnen, redet man von Zehntausenden, und der Mensch ist nur eben eines davon. Von all den vielen Menschen, die die neun Erdteile bewohnen, sich von Körnerspeise nähren und zu Schiff und Wagen miteinander verkehren, ist der Einzelmensch nur Einer. Wenn man ihn also vergleicht mit den Myriaden von Wesen, ist er da nicht wie die Spitze eines Härchens am Leibe eines Pferdes? Und nun ist alles, was die großen Männer der Weltgeschichte bewegt und bekümmert hat, nichts weiter als diese Dinge. Daß diese Leute sich selbst für so groß halten, darin gleichen sie dir, wie du soeben dein Wasser noch für das größte gehalten hast.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 177-180.
Lizenz: