2. Groß und Klein

[180] Der Flußgott sprach: »Geht es dann an, wenn ich Himmel und Erde als groß und die Spitze eines Haars als klein bezeichne?«

Jo vom Nordmeer sprach: »Nein, innerhalb der Welt der wirklichen Dinge gibt es keine begrenzten Maßstäbe, gibt es keine ruhende Zeit, gibt es keine dauernden Zustände, gibt es kein Festhalten von Ende und Anfang. Wer daher höchste Weisheit besitzt, der überschaut in der gleichen Weise das Ferne und das Nahe, so daß das Kleine für ihn nicht gering und das Große nicht wichtig erscheint; denn er erkennt, daß es keine festbegrenzten Maßstäbe gibt. Er durchdringt mit seinem Blick Vergangenheit und Gegenwart, so daß er dem Vergangenen nicht nachtrauert und ohne Ungeduld die Gegenwart genießt; denn er erkennt, daß es keine ruhende Zeit gibt. Er hat erforscht den ständigen Wechsel von Steigen und Fallen, so daß er sich nicht freut, wenn er gewinnt, noch trauert, wenn er verliert; denn er erkennt, daß es keine dauernden Zustände gibt. Er ist im klaren über den ebenen Pfad, so daß er nicht glücklich ist über seine Geburt noch unglücklich über seinen Tod; denn er erkennt, daß Ende und Anfang sich nicht festhalten lassen.

Wenn man bedenkt, daß das, was der Mensch weiß, nicht dem gleichkommt, was er nicht weiß; daß die Zeit seines Lebens nicht gleichkommt der Zeit, da er noch nicht lebte: so ist klar, daß, wer mit jenen kleinen Mitteln zu erschöpfen trachtet diese ungeheuren Gebiete, notwendig in Irrtum gerät und nicht zu sich selbst zu kommen vermag. Betrachte ich die Dinge von hier aus, woher will ich dann wissen, daß die Spitze eines Haares klein genug ist, um letzte Kleinheit durch sie zu bestimmen? Woher will ich wissen, daß Himmel und Erde groß genug sind, um letzte Größe dadurch zu bestimmen?«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 180-181.
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