13. Rücksicht auf die Fassungskraft

[205] Es war einmal ein Mann, der kam zu einem Philosophen und beklagte sich also: »Ich wohne in meiner Heimat, und niemand fragt nach mir, denn es heißt, ich kümmere mich nicht um meine Geschäfte; in schwierigen Zeiten fragt niemand nach mir, denn es heißt, ich sei feige. Aber es ist mir eben in meinem Feld noch nie ein gutes Jahr zuteil geworden, und im Dienst des Fürsten habe ich die rechte Zeit nicht gefunden. So bin ich ein Fremdling in meiner Heimat und ausgestoßen aus der Gesellschaft. Womit habe ich gegen den Himmel gesündigt, daß ich ein solches Los verdiene?«

Der Philosoph sprach: »Habt Ihr denn noch nie vernommen, wie der höchste Mann sein Leben führt? Er vergißt seinen Leib und kümmert sich nicht um seine Sinne. Ziellos schwebt er jenseits des Staubes der Welt und wandelt im Beruf des Nichts-Tuns. Das heißt: handeln, ohne sich darauf zu verlassen, herrschen, ohne den Herrn zu spielen. Daß Ihr Euren gesunden Leib habt und alle Eure Glieder beisammen, daß Ihr nicht in der Blüte Eurer Jahre ein vorzeitiges Ende[205] gefunden habt oder taub und blind, lahm und hinkend geworden seid, sondern es darin ebensogut habt wie die andern, ist das nicht auch ein Glück? (Wenn Ihr das bedenkt), was habt Ihr da noch Muße, Euch über den Himmel zu beklagen? Geht weiter, Herr!«

Der Mann ging weg und der Philosoph zog sich in sein Zimmer zurück. Da saß er eine Weile still. Dann blickte er zum Himmel auf und seufzte.

Da fragten ihn seine Jünger und sprachen: »Meister, warum seufzt Ihr?«

Der Weise sprach: »Da kam eben einer zu mir, und ich redete mit ihm über das LEBEN des höchsten Menschen. Ich fürchte nun, daß er einen Schrecken bekommt und auf diese Weise irre wird!«

Seine Jünger sprachen: »Nicht also! Wenn er recht hatte in dem, was er sagte, und Ihr Unrecht hattet, so wird das Unrecht doch sicher das Recht nicht in Verwirrung bringen können. Hatte er aber unrecht und Ihr hattet recht, so war er ja schon in Verwirrung, als er kam. Was Übles hättet Ihr ihm da getan?«

Der Meister aber sprach: »Nicht also! Es kam einmal ein Vogel, der ließ sich nieder auf dem Anger vor der Hauptstadt von Lu. Der Fürst von Lu hatte eine Freude an ihm und brachte Schlachtopfer dar, um ihn zu füttern, und ließ herrliche Musik machen, um ihn zu ergötzen. Aber der Vogel wurde traurig und blickte ins Leere. Er aß nicht und trank nicht. Das kommt davon, wenn man einen Vogel hegen will nach seinem eigenen Geschmack. Will man einen Vogel hegen nach dem Geschmack des Vogels, so muß man ihn nisten lassen in tiefen Wäldern, man muß ihn schwimmen lassen auf Flüssen und Seen, ihn fressen lassen nach seinem Belieben und ihn frei lassen auf der Ebene. Nun kam da dieser Mann zu mir, ein unbegabter und unwissender Mensch, und ich habe mit ihm gesprochen über das LEBEN des höchsten Menschen. Das ist, wie wenn man eine Spitzmaus im Pferdewagen führen oder eine Wachtel mit Glocken und Pauken ergötzen wollte. Der Mann muß notwendig einen Schrecken bekommen.«

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Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 205-206.
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