11. Unheilvolles Glück

[258] Meister Ki hatte acht Söhne.

Er stellte sie vor sich auf, berief den Kiu Fang Yin und sprach: »Wahrsage mir aus den Gesichtszügen meiner Söhne, welcher der glücklichste sein wird!«

Kiu Fang Yin sprach: »Dein Sohn Kun wird der glücklichste sein.«

Meister Ki blinzelte vergnügt und sprach: »Wieso?«

Jener antwortete: »Dein Sohn Kun wird einst mit einem Landesfürsten die Speisen teilen sein Leben lang.«

Meister Ki verzog das Gesicht, brach in Tränen aus und sprach: »Was hat mein Sohn getan, daß er in dieses Elend kommen soll?«

Kiu Fang Yin sprach: »Wenn einer am Tisch eines Landesfürsten sitzt, so hat die ganze Verwandtschaft den Segen davon, wieviel mehr erst seine Eltern! Nun brachet Ihr in Tränen aus, als Ihr davon hörtet; damit widerstrebt Ihr Eurem Glück. So steht Eurem Sohn Glück bevor und Euch selbst Unglück.«[258]

Meister Ki sprach: »Du kannst das nicht verstehen. Was du als Glück meines Sohnes bezeichnest, ist nichts weiter als Wein und Fleisch. Das sind Dinge, die zur Nase und zum Mund eingehen, aber du bist nicht imstande zu erkennen, auf welche Weise diese Dinge ihm zuteil werden sollen. Wenn mir, der ich kein Schäfer bin, ein Schaf in der Südwestecke meines Hauses werfen würde, wenn mir, der ich kein Jäger bin, eine Wachtel in der Nordwestecke meines Hauses brüten würde, das wären doch sicher üble Vorzeichen? Nun pflege ich mit meinen Söhnen zu wandern in der freien Natur. Ich freue mich mit ihnen des Himmels und genieße mit ihnen die Gaben der Erde. Ich habe mich nicht mit ihnen in weltliche Geschäfte gestürzt, ich habe nie mit ihnen Pläne geschmiedet, ich habe nie mit ihnen Wunderlichkeiten gesucht, sondern ich habe mich mit ihnen gehalten an die Wahrheit von Himmel und Erde, ohne daß wir uns von den Dingen der Welt verwirren ließen. Ich habe mit ihnen die Freiheit gesucht in dem Einen, was not ist, und habe mich nie durch die Pflichten weltlicher Geschäfte binden lassen. Und nun soll uns zum Lohn das Glück der Welt zuteil werden? Ein wunderliches Vorzeichen hat sicher eine wunderliche Erfüllung. So droht uns denn Gefahr. Aber es ist nicht die Schuld von mir und meinen Söhnen, sondern es ist wohl vom Himmel so bestimmt. Darum bin ich in Tränen ausgebrochen.«

Nicht lange darnach sandte er seinen Sohn ins Ausland. Räuber fingen ihn unterwegs. Sie überlegten sich, daß sie ihn leichter verkaufen könnten, wenn sie ihm erst die Füße abhackten, als wenn sie ihn unversehrt ließen. Darum hackten sie ihm die Füße ab und verkauften ihn im Staate Tsi. Dort wurde er der Straßenaufseher eines vornehmen Mannes und bekam Fleisch zu essen sein ganzes Leben lang.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 258-259.
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