4. Die streitenden Reiche

[266] König Yung von We hatte mit dem Fürsten Mau aus dem Hause Tiën einen Vertrag geschlossen. Aber der Fürst Mau aus dem Hause Tiën hatte den Vertrag gebrochen. Da ergrimmte der König und wollte ihn erdolchen lassen.

Als der Kriegsminister davon hörte, da schämte er sich dessen und sprach: »Ihr seid ein mächtiger Fürst und wollt durch einen gemeinen Kerl Eure Rache ausüben. Ich bitte, mir zweihunderttausend Bewaffnete zu geben, dann will ich ihn für Euch angreifen. Ich will seine Leute gefangennehmen und ihm seine Ochsen und Pferde wegführen und will ihm heiß machen, daß ihm's zum Rücken herausschlägt. Dann will ich ihm sein Reich wegnehmen, und wenn er voll Schrecken flieht, so will ich ihm den Rücken zerbläuen und ihm die Knochen zerbrechen.«

Der Minister Gi hörte davon und schämte sich. Er sprach: »Wenn man eine Mauer baut zehn Klafter hoch und man wollte, wenn die Mauer eben zehn Klafter erreicht hat, sie wieder zerstören, so würden die Fronarbeiter schwer darunter leiden. Nun haben wir seit sieben Jahren keinen Krieg mehr gehabt, das ist die Grundlage zur Weltherrschaft. Der Kriegsminister bringt nur Verwirrung, man darf nicht auf ihn hören.«

Der Minister Hua hörte es, war unzufrieden darüber und sprach: »Wer tüchtig zu reden weiß darüber, daß man den Staat Tsi angreifen solle, der schafft Verwirrung; wer tüchtig zu reden weiß darüber, daß man ihn nicht angreifen soll, der schafft ebenfalls Verwirrung. Und wenn einer behauptet, daß ihn angreifen oder nicht angreifen Verwirrung schaffe, der schafft auch Verwirrung.«[266]

Der Fürst sprach: »Was ist aber dann zu tun?«

Jener sprach: »Wir müssen den SINN zu erfassen suchen, das ist alles.«

Hui Dsï hörte davon und führte einen Weisen ein.

Der Weise sprach: »Es gibt ein Tier, das man die Schnecke nennt. Kennt Ihr das?«

Der Fürst sprach: »Ja.«

Jener fuhr fort: »Es liegt ein Reich auf dem linken Horn der Schnecke, das heißt das Reich des Königs Anstoß. Es liegt ein Reich auf dem rechten Horn der Schnecke, das heißt das Reich des Königs Roheit. Fortwährend kämpfen diese beiden Reiche miteinander um ihr Landgebiet. Nach ihren Schlachten liegen die Gefallenen zu Zehntausenden umher. Sie verfolgen einander fünfzehn Tage lang, ehe sie zurückkehren.«

Der Fürst sprach: »Ei, was für ein leeres Gerede!«

Jener sprach: »Darf ich die Erfüllung geben? Könnt Ihr Euch eine Grenze vorstellen, wo der Raum aufhört?«

Der Fürst sprach: »Er ist grenzenlos.«

Jener sprach: »Wenn man von den Gedanken des Grenzenlosen zurückkehrt zu einem Reich mit festen Grenzen, so ist das der Unendlichkeit gegenüber doch fast wie nichts?«

Der Fürst sprach: »Ja.«

Jener fuhr fort: »Inmitten der Endlichkeit da ist ein Land namens We. Inmitten von We da ist eine Stadt namens Liang. Inmitten von Liang seid Ihr, o König. Ist nun ein Unterschied zwischen Euch und dem König Roheit?«

Der König sprach: »Es ist kein Unterschied.«

Da ging der Gast hinaus, und der Fürst saß da, verwirrt, als hätte er etwas verloren.

Als der Fremdling gegangen war, trat Hui Dsï ein.

Der Fürst sprach zu ihm: »Jener Fremde ist ein großer Mann. Auch der größte König könnte ihm nichts schenken.«

Hui Dsï sprach: »Wenn man auf einer Röhre bläst, so gibt es einen Ton; wenn man auf einem Schwertring bläst, so gibt es ein Gezisch und weiter nichts. Yau und Schun werden[267] gerühmt von allen Menschen; aber wenn man von ihnen reden wollte in Anwesenheit jenes Mannes, so wären sie nur ein Gezisch.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 266-268.
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