15. Versuchungen

[291] Kung Dsï sprach: »Das Menschenherz ist gefährlicher als Berg und Wildbach und schwerer zu erkennen als der Himmel. Der Himmel hat doch wenigstens seine Jahres- und Tageszeiten; des Menschen Äußeres aber ist dicht verhängt, und sein eigentliches Wesen ist tief verborgen. Mancher scheint äußerlich ehrbar und ist doch ausschweifend; mancher, der fähig ist, sieht aus wie untauglich; mancher scheint den Schwätzern zuzustimmen und ist doch weise; mancher scheint stark und ist doch schwach; mancher scheint langsam und ist doch hastig; die sich der Pflicht nahen wie dürstend, lassen sie doch fahren, als hätten sie die Finger verbrannt. Darum versucht der Edle seine Leute: Er schickt sie nach auswärts, so kann er sehen, ob sie treu sind; er gebraucht sie in der täglichen Umgebung, so kann er sehen, ob sie gewissenhaft sind, er gebraucht sie in schwierigen Geschäften, so kann er sehen, ob sie Fähigkeiten haben; er fragt sie unvermittelt, so kann er sehen, ob sie Kenntnisse besitzen; er setzt ihnen eine bestimmte Frist, so kann er sehen, ob sie Wort halten; er vertraut ihnen Reichtum an, so kann er sehen, ob sie gütig sind; er schickt sie in Gefahren, so kann er sehen, ob sie Selbstbeherrschung besitzen; er macht sie trunken mit Wein, so kann er sehen, welcher Art sie sind; er bringt sie in gemischte Gesellschaft, so kann er sehen, ob sie sittlich sind. Wendet man diese neun Proben an, so findet man sicher die untauglichen Menschen heraus.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 291.
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