10. Herrschaftsfremde Verbandsverwaltung und Repräsentanten-Verwaltung.

[169] § 19. Verbände können bestrebt sein, die – in einem gewissen Minimalumfang unvermeidlich – mit Vollzugsfunktionen verbundenen Herrschaftsgewalten tunlichst zu reduzieren (Minimisierung der Herrschaft), indem der Verwaltende als lediglich nach Maßgabe des Willens, im »Dienst« und kraft Vollmacht der Verbandsgenossen fungierend gilt. Dies ist bei kleinen Verbänden, deren sämtliche Genossen örtlich versammelt werden können und sich untereinander kennen und als sozial gleich werten, im Höchstmaß erreichbar, aber auch von größeren Verbänden (insbesondere Stadtverbänden der Vergangenheit und Landbezirksverbänden) versucht worden. Die üblichen technischen Mittel dafür sind

a) kurze Amtsfristen, möglichst nur zwischen je zwei Genossenversammlungen,

b) jederzeitiges Abberufungsrecht (recall),

c) Turnus- oder Los-Prinzip bei der Besetzung, so daß jeder einmal »daran kommt«, – also: Vermeidung der Machtstellung des Fach- und des sekretierten Dienstwissens,

d) streng imperatives Mandat für die Art der Amtsführung (konkrete, nicht: generelle, Kompetenz), fest gestellt durch die Genossenversammlung,

e) strenge Rechenschaftspflicht vor der Genossenversammlung,

f) Pflicht, jede besondersartige und nicht vorgesehene Frage der Genossenversammlung (oder einem Ausschuß) vorzulegen,

g) zahlreiche nebengeordnete und mit Sonderaufträgen versehene Aemter, – also:

h) Nebenberufs-Charakter des Amtes.

[169] Wenn der Verwaltungsstab durch Wahl bestellt wird, dann erfolgt sie in einer Genossenversammlung. Die Verwaltung ist wesentlich mündlich, schriftliche Aufzeichnungen finden nur soweit statt, als Rechte urkundlich zu wahren sind. Alle wichtigen Anordnungen werden der Genossenversammlung vorgelegt.

Diese und diesem Typus nahestehende Arten der Verwaltung sollen »unmittelbare Demokratie« heißen, solange die Genossenversammlung effektiv ist.


1. Die nordamerikanische town-ship und der schweizerische Kleinkanton (Glarus, Schwyz, beide Appenzell usw.) stehen bereits der Größe nach an der Grenze der Möglichkeit »unmittelbar demokratischer« Verwaltung (deren Technik hier nicht auseinandergesetzt werden soll). Die attische Bürgerdemokratie überschritt tatsächlich diese Grenze weit, das parliamentum der frühmittelalterlichen italienischen Stadt erst recht. Vereine, Zünfte, wissenschaftliche, akademische, sportliche Verbände aller Art verwalten sich oft in dieser Form. Aber sie ist ebenso auch übertragbar auf die interne Gleichheit »aristokratischer« Herren-Verbände, die keinen Herrn über sich aufkommen lassen wollen.

2. Wesentliche Vorbedingung ist neben der örtlichen oder personalen (am besten: beiden) Kleinheit des Verbandes auch das Fehlen qualitativer Aufgaben, welche nur durch fachmäßige Berufsbeamte zu lösen sind. Mag auch dies Berufsbeamtentum in strengster Abhängigkeit zu halten versucht werden, so enthält es doch den Keim der Bureaukratisierung und ist, vor allem, nicht durch die genuin »unmittelbar demokratischen« Mittel anstellbar und abberufbar.

3. Die rationale Form der unmittelbaren Demokratie steht dem primitiven gerontokratischen oder patriarchalen Verband innerlich nahe. Denn auch dort wird »im Dienst« der Genossen verwaltet. Aber es besteht dort a) Appropriation der Verwaltungsmacht, – b) (normal:) strenge Traditionsbindung. Die unmittelbare Demokratie ist ein rationaler Verband oder kann es doch sein. Die Uebergänge kommen sogleich zur Sprache.


§ 20. »Honoratioren« sollen solche Personen heißen, welche

1. kraft ihrer ökonomischen Lage imstande sind, kontinuierlich nebenberuflich in einem Verband leitend und verwaltend ohne Entgelt oder gegen nominalen oder Ehren-Entgelt tätig zu sein, und welche

2. eine, gleichviel worauf beruhende, soziale Schätzung derart genießen, daß sie die Chance haben, bei formaler unmittelbarer Demokratie kraft Vertrauens der Genossen zunächst freiwillig, schließlich traditional, die Aemter inne zu haben.

Unbedingte Voraussetzung der Honoratiorenstellung in dieser primären Bedeutung: für die Politik leben zu können, ohne von ihr leben zu müssen, ist ein spezifischer Grad von »Abkömmlichkeit« aus den eigenen privaten Geschäften. Diesen besitzen im Höchstmaß: Rentner aller Art: Grund-, Sklaven-, Vieh-, Haus-, Wertpapier-Rentner. Demnächst solche Berufstätige, deren Betrieb ihnen die nebenamtliche Erledigung der politischen Geschäfte besonders erleichtert: Saisonbetriebsleiter (daher: Landwirte), Advokaten (weil sie ein »Bureau« haben) und einzelne Arten anderer freier Berufe. In starkem Maß auch: patrizische Gelegenheitshändler. Im Mindestmaß: gewerbliche Eigenunternehmer und Arbeiter. Jede unmittelbare Demokratie neigt dazu, zur »Honoratiorenverwaltung« überzugehen. Ideell: weil sie als durch Erfahrung und Sachlichkeit besonders qualifiziert gilt. Materiell: weil sie sehr billig, unter Umständen geradezu: kostenlos, bleibt. Der Honoratiore ist teils im Besitz der sachlichen Verwaltungsmittel bzw. benutzt sein Vermögen als solches, teils werden sie ihm vom Verband gestellt.


1. Als ständische Qualität ist die Kasuistik des Honoratiorentums später zu erörtern. Die primäre Quelle ist in allen primitiven Gesellschaften: Reichtum, dessen Besitz allein oft »Häuptlings«-Qualität gibt (Bedingungen s. Kap. IV). Weiterhin kann, je nachdem, erbcharismatische Schätzung oder die Tatsache der Abkömmlichkeit mehr im Vordergrund stehen.

2. Im Gegensatz zu dem auf naturrechtlicher Grundlage für effektiven Turnus eintretenden town-ship der Amerikaner konnte man in den unmittelbar demokratischen Schweizer Kantonen bei Prüfung der Beamtenlisten leicht die Wiederkehr[170] ständig derselben Namen und, erst recht, Familien verfolgen. Die Tatsache der größeren Abkömmlichkeit (zum »gebotenen Ding«) war auch innerhalb der germanischen Dinggemeinden und der zum Teil anfangs streng demokratischen Städte Norddeutschlands eine der Quellen der Herausdifferenzierung der »meliores« und des Ratspatriziats.

3. Honoratiorenverwaltung findet sich in jeder Art von Verbänden, z.B. typisch auch in nicht bureaukratisierten politischen Parteien. Sie bedeutet stets: extensive Verwaltung und ist daher, wenn aktuelle und sehr dringliche Wirtschafts- und Verwaltungsbedürfnisse präzises Handeln erheischen, zwar »unentgeltlich« für den Verband, aber zuweilen »kostspielig« für dessen einzelne Mitglieder.


Sowohl die genuine unmittelbare Demokratie wie die genuine Honoratiorenverwaltung versagen technisch, wenn es sich um Verbände über eine gewisse (elastische) Quantität hinaus (einige Tausend vollberechtigte Genossen) oder um Verwaltungsaufgaben handelt, welche Fachschulung einerseits, Stetigkeit der Leitung andererseits erfordern. Wird hier nur mit dauernd angestellten Fachbeamten neben wechselnden Leitern gearbeitet, so liegt die Verwaltung tatsächlich normalerweise in den Händen der ersteren, die die Arbeit tun, während das Hineinreden der letzteren wesentlich dilettantischen Charakters bleibt.


Die Lage der wechselnden Rektoren, die im Nebenamt akademische Angelegenheiten verwalten, gegenüber den Syndikern, unter Umständen selbst den Kanzleibeamten, ist ein typisches Beispiel dafür. Nur der autonom für längeren Termin gekorene Universitätspräsident (amerikanischen Typs) könnte – von Ausnahmenaturen abgesehen – eine nicht nur aus Phrasen und Wichtigtuerei bestehende »Selbstverwaltung« der Universitäten schaffen, und nur die Eitelkeit der akademischen Kollegien einerseits, das Machtinteresse der Bureaukratie andererseits sträubt sich gegen das Ziehen solcher Konsequenzen. Ebenso liegt es aber, mutatis mutandis, überall.


Herrschaftsfreie unmittelbare Demokratie und Honoratiorenverwaltung bestehen ferner nur so lange genuin, als keine Parteien als Dauer gebilde entstehen, sich bekämpfen und die Aemter zu appropriieren suchen. Denn sobald dies der Fall ist, sind der Führer der kämpfenden und – mit gleichviel welchen Mitteln – siegenden Partei und sein Verwaltungsstab herrschaftliches Gebilde, trotz Erhaltung aller Formen der bisherigen Verwaltung.


Eine ziemlich häufige Form der Sprengung der »alten« Verhältnisse.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 169-171.
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