§ 3. Die sexuellen Beziehungen in der Hausgemeinschaft.

[218] Wir kehren nun zunächst zur Hausgemeinschaft, als dem urwüchsigsten nach außen »geschlossenen« Gemeinschaftshandeln, zurück. Der typische Entwicklungsgang vom alten vollen Hauskommunismus aus ist der gerade umgekehrte gegenüber demjenigen in dem vorhin erwähnten Beispiel der Erhaltung der Ertragsgemeinschaft trotz äußerer Trennung der Haushalte: innere Lockerung des Kommunismus, Fortschreiten also der »Schließung« der Gemeinschaft auch nach innen bei Fortbestand der äußerlichen Einheit des Hauses.

Die frühesten tiefgreifenden Abschwächungen der ungebrochenen kommunistischen Hausgewalt gehen nicht direkt von ökonomischen Motiven, sondern offenbar von der Entwicklung exklusiver sexueller Ansprüche der Hausteilhaber an die der gemeinsamen Hausautorität unterworfenen Frauen aus, die zu einer, gerade bei sonst wenig rationalisiertem Gemeinschaftshandeln oft höchst kasuistischen, immer aber sehr streng innegehaltenen Regulierung der Geschlechtsverhältnisse geführt hat. Auch Sexualgewalten zwar finden sich gelegentlich »kommunistisch« (polyandrisch). Aber wo sie vorkommen, stellen diese polyandrisch geteilten Rechte in allen bekannten Fällen nur einen relativen Kommunismus dar: einen nach außen exklusiven Mitbesitz eines bestimmt begrenzten Personenkreises (Brüder oder Insassen eines »Männerhauses«) kraft gemeinsamen Erwerbs einer Frau.

Nirgends, auch nicht wo Sexualverhältnisse zwischen Geschwistern als anerkannte Institution bestehen, findet sich eine ordnungsfremde amorphe sexuelle Promiskuität innerhalb des Hauses. Wenigstens nie der Norm nach. Im Gegenteil ist gerade das im Güterbesitz kommunistische Haus diejenige Stätte, aus welcher kommunistische Freiheit des Geschlechtsverkehrs am vollständigsten verbannt ist. Die Abschwächung des Sexualreizes durch das Zusammenleben von Kind aufgab die Möglichkeit und Gewöhnung daran. Die Durchführung als bewußter »Norm« lag dann offensichtlich im Interesse der Sicherung der Solidarität und des inneren Hausfriedens gegen Eifersuchtskämpfe. Wo durch die gleich zu erwähnende »Sippenexogamie« die Hausgenossen verschiedenen Sippen zugewiesen wurden, so daß Geschlechtsverkehr innerhalb des Hauses nach sippenexogamen Grundsätzen zulässig wäre, müssen gerade die betreffenden Mitglieder des Hauses einander persönlich meiden: die Hausexogamie ist gegenüber der Sippenexogamie die ältere, neben ihr fortbestehende Institution. Vielleicht ist die Durchführung der Hausexogamie durch Frauentauschkartelle von Hausgemeinschaften und den durch deren Teilung entstehenden Sippengemeinschaften der Anfang der regulierten Exogamie gewesen. Jedenfalls besteht die konventionelle Mißbilligung des Sexualverkehrs auch für solche nahe Verwandte, welche nach dem Blutsbandekodex der Sippenstruktur davon nicht ausgeschlossen sind (z.B. sehr nahe väterliche Verwandte bei ausschließlicher Mutterfolge in der Sippenexogamie). Die Geschwister- und Verwandtenehe als Institution dagegen ist normalerweise auf sozial prominente Geschlechter, speziell Königshäuser, beschränkt. Sie dient dem Zusammenhalt der ökonomischen Machtmittel des Hauses, daneben, wohl dem Ausschluß politischer Prätendentenkämpfe, endlich auch der Reinerhaltung des Bluts, ist also sekundär. – Das durchaus normale ist also: wenn ein Mann ein von ihm erworbenes Weib in seine Hausgemeinschaft zieht oder wenn er, weil er die Mittel dazu nicht hat, seinerseits zu einem Weibe in dessen Hausgemeinschaft eintritt, so erwirbt er die sexuellen Rechte an der Frau für seinen exklusiven Gebrauch. Tatsächlich ist oft genug auch diese sexuelle Exklusivität prekär gegenüber dem autokratischen Inhaber der Hausgewalt: die Befugnisse, welche sich z.B. der Schwiegervater innerhalb einer russischen[218] Großfamilie bis in die Neuzeit herausnahm, sind bekannt. Trotzdem gliedert sich die Hausgemeinschaft innerlich normalerweise in sexuelle Dauergemeinschaften mit ihren Kindern. Die Gemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern bildet mit persönlicher Dienerschaft, allenfalls der einen oder anderen unverehelichten Verwandten, den bei uns normalen Umfang der Hausgemeinschaft. Die Hausgemeinschaften älterer Epochen sind keineswegs immer sehr große Gebilde. Im Gegenteil zeigen diese namentlich, wenn die Art des Nahrungserwerbs zur Zerstreuung nötigte, oft kleine Hauseinheiten. Allerdings aber weist die Vergangenheit massenhafte Hausgemeinschaften auf, welche zwar auf Eltern- und Kindesverhältnissen als Kern ruhen, aber weit darüber hinausgreifen durch Einbeziehung von Enkeln, Brüdern, Vettern, gelegentlich auch Blutsfremden in einem heute bei Kulturvölkern mindestens sehr seltenen Umfang (»Großfamilie«). Sie herrscht einerseits, wo Arbeitskumulation angewendet wird – daher beim arbeitsintensiven Ackerbau –, außerdem aber da, wo der Besitz im Interesse der Behauptung der sozialen und ökonomischen Machtstellung zusammengehalten werden soll, also in aristokratischen und plutokratischen Schichten.

Abgesehen von dem sehr frühen Ausschluß des Geschlechtsverkehrs innerhalb der Hausgemeinschaft, ist die Sexualsphäre gerade bei sonst wenig entfalteter Kultur sehr häufig besonders stark eingeengt durch soziale Gebilde, welche die Hausgewalt derart durchkreuzen, daß man sagen kann: die erste entscheidende prinzipielle Durchbrechung ihrer Schrankenlosigkeit liege gerade auf diesem Gebiet. Der Begriff der Blutschande greift mit steigender Beachtung des »Blutsbandes« über das Haus hinaus auf weitere Kreise aushäusiger Blutsverwandter und wird Gegenstand kasuistischer Regulierung durch die Sippe.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 218-219.
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