§ 3. Verhältnis zur politischen Gemeinschaft. »Stamm« und »Volk«.

[240] Eindeutig wird der »Stamm« nach außen natürlich da begrenzt, wo er Unterabteilung eines politischen Gemeinwesens ist. Aber dann ist diese Abgrenzung auch[240] meist künstlich von der politischen Gemeinschaft her geschaffen. Schon die runden Zahlen, in denen er aufzutreten pflegt, weisen darauf hin, z.B. die schon erwähnte Einteilung des Volkes Israel in 12 Stämme, ebenso die drei dorischen und die an Zahl verschiedenen »Phylen« der übrigen Hellenen. Sie wurden bei Neugründung oder Neuorganisation des Gemeinwesens künstlich neu eingeteilt, und der »Stamm« ist hier also, obwohl er alsbald die ganze Symbolik der Blutsgemeinschaften, insbesondere den Stammeskult, attrahiert, erst Kunstprodukt der politischen Gemeinschaft. Die Entstehung eines spezifischen, blutsverwandtschaftsartig reagierenden Gemeingefühls für rein künstlich abgegrenzte politische Gebilde ist noch heute nichts Seltenes. Die allerschematischsten politischen Gebilde: die nach Breitengraden quadratisch abgegrenzten »Staaten« der amerikanischen Union z.B., zeigen ein sehr entwickeltes Sonderbewußtsein: daß Familien von New York nach Richmond reisen, nur damit das erwartete Kind dort geboren und also ein »Virginier« werde, ist nicht selten. Das Künstliche solcher Abgrenzungen schließt nun gewiß nicht aus, daß z.B. die hellenischen Phylen ursprünglich einmal irgendwo und irgendwie selbständig vorhanden gewesen waren und dann jene Poliseinteilung bei ihrer ersten Durchführung schematisierend an sie angeknüpft hatte, als sie zu einem politischen Verband zusammengeschlossen wurden. Aber dann ist der Bestand jener vor der Polis existierenden Stämme (sie werden dann auch nicht »Phylen«, sondern »Ethnos« genannt) entweder identisch mit den entsprechenden politischen Gemeinschaften gewesen, die sich sodann zur »Polis« vergesellschafteten, oder, wenn dies nicht der Fall war, so lebte doch in vermutlich sehr vielen Fällen der politisch unorganisierte Stamm als geglaubte »Blutsgemeinschaft« von der Erinnerung daran, daß er früher einmal Träger eines politischen Gemeinschaftshandelns, meist wohl eines nur gelegentlichen, eine einzelne erobernde Wanderung oder Verteidigung dagegen in sich schließenden, gewesen war, und dann waren eben diese politischen Erinnerungen das prius gegenüber dem »Stamm«. Dieser Sachverhalt: daß das »Stammesbewußtsein« der Regel nach primär durch politisch gemeinsame Schicksale und nicht primär durch »Abstammung« bedingt ist, dürfte nach allem Gesagten eine sehr häufige Quelle »ethnischen« Zusammengehörigkeitsglau bens sein. Nicht die einzige: denn die Gemeinsamkeit der »Sitte« kann die verschiedensten Quellen haben und entstammt letztlich in hohem Grade der Anpassung an die äußeren Naturbedingungen und der Nachahmung im Kreise der Nachbarschaft. Praktisch aber pflegt die Existenz des »Stammesbewußtseins« wiederum etwas spezifisch Politisches zu bedeuten: daß nämlich bei einer kriegerischen Bedrohung von außen oder bei genügendem Anreiz zu eigener kriegerischer Aktivität nach außen, ein politisches Gemeinschaftshandeln besonders leicht auf dieser Grundlage, also als ein solches der einander gegenseitig subjektiv als blutsverwandte »Stammesgenossen« (oder »Volksgenossen«) Empfindenden entsteht. Das potentielle Aufflammen des Willens zum politischen Handeln ist demnach nicht die einzige, aber eine derjenigen Realitäten, welche hinter dem im übrigen inhaltlich vieldeutigen Begriff von »Stamm« und »Volk« letztlich steckt. Dieses politische Gelegenheitshandeln kann sich besonders leicht auch trotz des Fehlens jeder darauf eingestellten Vergesellschaftung zu einer als »sittliche« Norm geltenden Solidaritätspflicht der Volks-oder Stammesgenossen im Fall eines kriegerischen Angriffes entwickeln, deren Verletzung, selbst wenn keinerlei gemeinsames »Organ« des Stammes existiert, den betreffenden politischen Gemeinschaften danach das Los der Sippen der Segestes und Inguiomer (Austreibung aus ihrem Gebiet) zuzieht. Ist aber dieses Stadium der Entwicklung erreicht, dann ist der Stamm tatsächlich eine politische Dauergemeinschaft geworden, mag diese auch in Friedenszeiten latent und daher natürlich labil bleiben. Der Uebergang vom bloß »Gewöhnlichen« zum Gewohnten und deshalb »Gesollten« ist auf diesem Gebiet auch unter günstigen Verhältnissen ganz besonders gleitend. Alles in allem finden wir in dem »ethnisch« bedingten Gemeinschaftshandeln Erscheinungen vereinigt, welche eine wirklich exakte soziologische Betrachtung – wie sie hier gar nicht versucht wird – sorgsam[241] zu scheiden hätte: die faktische subjektive Wirkung der durch Anlage einerseits, durch Tradition andererseits bedingten »Sitten«, die Tragweite aller einzelnen verschiedenen Inhalte von »Sitte«, die Rückwirkung sprachlicher, religiöser, politischer Gemeinschaft, früherer und jetziger, auf die Bildung von Sitten, das Maß, in welchem solche einzelnen Komponenten Anziehungen und Abstoßungen und insbesondere Blutsgemeinschafts- oder Blutsfremdheitsglauben wecken, dessen verschiedene Konsequenzen für das Handeln, für den Sexualverkehr der verschiedenen Art, für die Chancen der verschiedenen Arten von Gemeinschaftshandeln, sich auf dem Boden der Sittengemeinschaft oder des Blutsverwandtschaftsglaubens zu entwickeln, – dies alles wäre einzeln und gesondert zu untersuchen. Dabei würde der Sammelbegriff »ethnisch« sicherlich ganz über Bord geworfen werden. Denn er ist ein für jede wirklich exakte Untersuchung ganz unbrauchbarer Sammelname. Wir aber treiben nicht Soziologie um ihrer selbst willen und begnügen uns daher, in Kürze aufzuzeigen, welche sehr verzweigten Probleme sich hinter dem vermeintlich ganz einheitlichen Phänomen verbergen.

Der bei exakter Begriffsbildung sich verflüchtigende Begriff der »ethnischen« Gemeinschaft entspricht nun in dieser Hinsicht bis zu einem gewissen Grade einem der mit pathetischen Empfindungen für uns am meisten beschwerten Begriffe: demjenigen der »Nation«, sobald wir ihn soziologisch zu fassen suchen.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 240-242.
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