§ 4. Nationalität und Kulturprestige.

[242] Die »Nationalität« teilt mit dem »Volk« im landläufigen »ethnischen« Sinn wenigstens normalerweise die vage Vorstellung, daß dem als »gemeinsam« Empfundenen eine Abstammungsgemeinschaft zugrunde liegen müsse, obwohl in der Realität der Dinge Menschen, welche sich als Nationalitätsgenossen betrachten, sich nicht nur gelegentlich, sondern sehr häufig der Abstammung nach weit ferner stehen, als solche, die verschiedenen und feindlichen Nationalitäten sich zurechnen. Nationalitätsunterschiede können z.B. trotz zweifellos starker Abstammungsverwandtschaft bestehen, nur weil Unterschiede der religiösen Konfessionen vorliegen, wie zwischen Serben und Kroaten. Die realen Gründe des Glaubens an den Bestand einer »nationalen« Gemeinsamkeit und des darauf sich aufbauenden Gemeinschaftshandelns sind sehr verschieden. Heute gilt vor allem »Sprachgemeinschaft«, im Zeitalter der Sprachenkämpfe, als ihre normale Basis. Was sie gegenüber der bloßen »Sprachgemeinschaft« inhaltlich mehr besitzt, kann dann natürlich in dem spezifischen Erfolg, auf den ihr Gemeinschaftshandeln ausgerichtet ist, gesucht werden, und dies kann dann nur der gesonderte politische Verband sein. In der Tat ist heute »Nationalstaat« mit »Staat« auf der Basis der Spracheinheitlichkeit begrifflich identisch geworden. In der Realität stehen neben politischen Verbänden, und zwar solchen modernen Gepräges auf »nationaler« Basis in diesem sprachlichen Sinn, in erheblicher Zahl solche, die mehrere Sprachgemeinschaften umschließen und meist, aber nicht immer, für den politischen Verkehr eine Sprache bevorzugen. Aber auch für das sog. »Nationalgefühl« – wir lassen es vorerst undefiniert – genügt Sprachgemeinschaft nicht – wie neben dem eben erwähnten Beispiel die Iren, Schweizer und deutschsprachlichen Elsässer zeigen, welche sich nicht, mindestens nicht in vollem Sinn, als Glieder der durch ihre Sprache bezeichneten »Nation« fühlen. Andererseits sind auch Sprachunterschiede kein absolutes Hindernis für das Gefühl einer »nationalen« Gemeinschaft: die deutschsprachlichen Elsässer fühlten sich seinerzeit und fühlen sich zum großen Teil noch als Bestandteil der französischen »Nation«. Aber doch nicht in vollem Sinne, nicht so, wie der französisch redende Franzose. Also gibt es »Stufen« der qualitativen Eindeutigkeit des »nationalen« Gemeinsamkeitsglaubens. Bei den Deutsch-Elsässern ist die unter ihnen weit verbreitete Gemeinsamkeitsempfindung mit den Franzosen neben gewissen Gemeinsamkeiten[242] der »Sitte« und gewisser Güter der »Sinnenkultur« – auf die namentlich Wittich hingewiesen hat – durch politische Erinnerungen bedingt, wie jeder Gang durch das, an jenen für den Unbeteiligten ebenso trivialen, wie für den Elsässer pathetisch gewerteten Reliquien (Trikolore, Pompier- und Militärhelme, Erlasse Louis Philippe's, vor allem Revolutionsreliquien) reiche, Kolmarer Museum zeigt. Gemeinsame politische, zugleich indirekt soziale, als Wahrzeichen der Vernichtung des Feudalismus, von den Massen hochgewertete Schicksale haben diese Gemeinschaft gestiftet, und ihre Legende vertritt die Heldensage primitiver Völker. Die »grande Nation« war die Befreierin von feudaler Knechtung, galt als Trägerin der »Kultur«, ihre Sprache als die eigentliche »Kultursprache«, das Deutsche als »Dialekt« für den Alltag, und das Attachement an die Kultursprechenden ist also eine spezifische, dem auf Sprachgemeinschaft ruhenden Gemeinschaftsgefühl ersichtlich verwandte, aber doch nicht mit ihm identische, sondern auf partieller »Kulturgemeinschaft« und politischer Erinnerung ruhende innere Haltung. Bei den oberschlesischen Polen ferner war im allgemeinen bis vor kurzem11 kein bewußtes polnisches »Nationalgefühl« in dem Sinne verbreitet – wenigstens nicht in relevantem Maße –, daß sie sich im Gegensatz zu dem, wesentlich auf der Basis einer deutschen Sprachgemeinschaft stehenden, preußischen politischen Verband gefühlt hätten. Sie waren loyale, wenn auch passive, »Preußen«, so wenig sie auch am Bestand des nationalen politischen Verbands des »Deutschen Reichs« irgendwie interessierte »Deutsche« waren, und hatten, in ihrer Masse wenigstens, kein bewußtes oder doch kein starkes Bedürfnis der Absonderung von deutschsprachlichen Mitbürgern. Hier fehlte also das auf dem Boden der Sprachgemeinschaft sich entwickelnde »Nationalgefühl« gänzlich, und von »Kulturgemeinschaft« konnte bei dem Kulturmangel noch keine Rede sein. Bei den baltischen Deutschen ist weder »Nationalgefühl« im Sinne einer positiven Wertung der Sprachgemeinschaft mit den Deutschen rein als solcher, noch die Sehnsucht nach politischer Vereinigung mit dem »Deutschen Reich« verbreitet, die sie vielmehr überwiegend perhorreszieren würden. Dagegen sondern sie sich, teils und zwar sehr stark aus »ständischen« Gegensätzen heraus, teils aus Gründen der Gegensätzlichkeit und gegenseitigen »Unverständlichkeit« und Mißachtung der beiderseitigen »Sitten« und Kulturgüter, von der slavischen Umwelt, einschließlich speziell auch der russischen, sehr schroff ab, obwohl und sogar zum Teil weil sie überwiegend eine intensive loyale Vasallentreue gegenüber dem Herrscherhause pflegen und an der Machtstellung der von diesem geleiteten, von ihnen selbst mit Beamten versorgten (und wiederum ihren Nachwuchs ökonomisch versorgenden) politischen Gemeinschaft sich so interessiert gezeigt haben, wie irgendein »Nationalrusse«. Hier fehlt also ebenfalls alles, was man im modernen, sprachlich oder auch kulturell orientierten Sinn »Nationalgefühl« nennen könnte. Es ist hier, wie bei den rein proletarischen Polen: Loyalität gegenüber der politischen Gemeinschaft in Verschmelzung mit einem auf die innerhalb dieser vorhandene lokale Sprachgemeinschaft begrenzten, aber stark »ständisch« beeinflußten und modifizierten Gemeinschaftsgefühl verbreitet. Auch ständisch ist freilich keinerlei Einheitlichkeit mehr vorhanden, wenn die Gegensätze auch nicht so krasse sind, wie sie innerhalb der weißen Bevölkerung der amerikanischen Südstaaten waren. Die inneren ständischen und Klassengegensätze treten aber vorerst, gegenüber der gemeinsamen Bedrohung der Sprachgemeinschaft, zurück. Und schließlich gibt es Fälle, wo der Name nicht recht passen will, wie schon bei dem Gemeinschaftsgefühl der Schweizer und Belgier oder etwa der Luxemburger und Liechtensteiner. Nicht die quantitative »Kleinheit« des politischen Verbandes ist dafür maßgebend, daß wir den Namen auf ihn anzuwenden Bedenken tragen: – die Holländer sind uns eine »Nation« –, sondern der bewußte Verzicht auf die »Macht«, den jene »neutralisierten« politischen Gemeinwesen vollzogen haben, läßt uns unwillkürlich jenes Bedenken auftauchen. Die Schweizer sind keine[243] eigene »Nation«, wenn man auf die Sprachgemeinschaft oder auf die Kulturgemeinschaft im Sinne der Gemeinsamkeit literarischer oder künstlerischer Kulturgüter sehen will. Das trotzdem, auch trotz aller neuerdings auftauchenden Lockerungen, bei ihnen verbreitete starke Gemeinschaftsgefühl ist aber nicht nur durch Loyalität gegen das politische Gemeinwesen motiviert, sondern auch durch Eigenart der »Sitten«, die – gleichviel, welches der objektive Sachverhalt sein mag – subjektiv als weitgehend gemeinsam empfunden werden und ihrerseits sehr stark durch die sozialen Strukturgegensätze, namentlich gegen Deutschland, überhaupt aber gegen jedes »große« und daher militaristische politische Gebilde mit seinen Konsequenzen für die Art der inneren Herrschaftsstruktur, bedingt, daher auch durch die Sonderexistenz allein garantiert erscheinen. Die Loyalität der kanadischen Franzosen gegenüber der englischen politischen Gemeinschaft ist heute ebenfalls vor allem bedingt durch die tiefe Antipathie gegen die ökonomischen und sozialen Strukturverhältnisse und Sitten in der benachbarten amerikanischen Union, denen gegenüber die Zugehörigkeit zu Kanada als Garantie der überkommenen Eigenart gewertet wird. Die Kasuistik ließe sich leicht vermehren und müßte von jeder exakten soziologischen Untersuchung weiter vermehrt werden. Sie zeigt, daß die mit dem Sammelnamen »national« bezeichneten Gemeinsamkeitsgefühle nichts Eindeutiges sind, sondern aus sehr verschiedenen Quellen gespeist werden können: Unterschiede der sozialen und ökonomischen Gliederung und der inneren Herrschaftsstruktur mit ihren Einflüssen auf die »Sitten« können eine Rolle spielen, müssen es aber nicht – denn innerhalb des Deutschen Reichs sind sie so verschieden wie nur möglich –, gemeinsame politische Erinnerungen, Konfession und endlich Sprachgemeinschaft können als Quellen wirken und endlich natürlich auch der rassenmäßig bedingte Habitus. Dieser oft in eigentümlicher Weise. Ein gemeinsames »Nationalgefühl« verbindet in den Vereinigten Staaten, von der Seite des Weißen aus gesehen, diesen mit dem Schwarzen schwerlich, während die Schwarzen ein amerikanisches »Nationalgefühl« zum mindesten in dem Sinn hatten und haben, als sie das Recht darauf prätendierten. Und doch ist z.B. bei den Schweizern das stolze Selbstbewußtsein auf ihre Eigenart und die Bereitschaft, sich rückhaltlos für sie einzusetzen, weder qualitativ anders geartet noch quantitativ unter ihnen weniger verbreitet als bei irgendeiner quantitativ »großen« und auf »Macht« abgestellten »Nation«. Immer wieder finden wir uns bei dem Begriff »Nation« auf die Beziehung zur politischen »Macht« hingewiesen, und offenbar ist also »national« – wenn überhaupt etwas Einheitliches – dann eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer durch Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtgebildeorganisation verbindet, und zwar je mehr der Nachdruck auf »Macht« gelegt wird, desto spezifischer. Dieser pathetische Stolz auf die besessene oder dies pathetische Sehnen nach der abstrakten politischen »Macht« der Gemeinschaft als solcher kann in einer quantitativ »kleinen« Gemeinschaft – wie der Sprachgemeinschaft der heutigen Ungarn, Tschechen, Griechen – weit verbreiteter sein als in einer andern, qualitativ gleichartigen und dabei quantitativ weit größeren [Gemeinschaft], z.B. der Deutschen vor anderthalb Jahrhunderten, die damals ebenfalls wesentlich Sprachgemeinschaft war, aber keinerlei »nationale« Machtprätention hatte.[244]


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 242-245.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon