§ 11. Religiöse Ethik und »Welt«.

[348] Die Spannung religiöser Gesinnungsethik zur Welt S. 348. – Nachbarschaftsethik als Grundlage religiöser Ethik S. 350. – Religiöse Verwerfung des Zinsnehmens S. 352. – Spannung zwischen religiös-ethischer und ökonomischer Rationalisierung des Lebens S. 353. – Religiöser Liebesakosmismus und politische Gewaltsamkeit S. 355. – Wechselnde Stellung des Christentums zum Staat S. 359. – »Organische« Berufsethik S. 360. – Religiosität und Sexualität S. 362. – Brüderlichkeitsethik und Kunst S. 365.


Die Erlösungsreligiosität bedeutet, je systematischer und »gesinnungsethisch« verinnerlichter sie geartet ist, eine desto tiefere Spannung gegenüber den Realitäten der Welt. Solange sie einfach rituelle oder Gesetzesreligiosität ist, tritt diese Spannung in wenig prinzipieller Art hervor. Sie wirkt in dieser Form wesentlich ebenso wie die magische Ethik. Das heißt, allgemein gesprochen: sie gibt erst den von ihr rezipierten Konventionen die unverbrüchliche Weihe, weil auch hier an der Vermeidung des göttlichen Zornes, also an der Bestrafung des Uebertretens der Normen, die Gesamtheit der Anhänger des Gottes als solche interessiert ist. Wo daher einmal ein Gebot die Bedeutung einer göttlichen Ordnung erlangt hat, steigt es damit aus dem Kreise veränderlicher Konventionen zum Rang der Heiligkeit auf. Es hat nun, wie die Ordnungen des Kosmos, von jeher gegolten und wird für immer gelten, es kann nur interpretiert, nicht geändert werden, es sei denn, daß der Gott selbst ein neues Gebot offenbart. Wie der Symbolismus in bezug auf bestimmte inhaltliche Kulturelemente und [wie] die magischen Tabuvorschriften in bezug auf konkrete Arten von Beziehungen zu Menschen und Sachgütern stereotypierend wirken, so die Religion in diesem Stadium auf das gesamte Gebiet der Rechtsordnung und der Konventionen. Die heiligen Bücher sowohl der Inder wie des Islâm, der Parsen wie der Juden und ebenso die klassischen Bücher der Chinesen behandeln Zeremonial- und Ritualnormen und Rechtsvorschriften völlig auf gleicher Linie. Das Recht ist »heiliges«[348] Recht. Die Herrschaft religiös stereotypierten Rechtes bildet eine der allerwichtigsten Schranken für die Rationalisierung der Rechtsordnung und also der Wirtschaft. Auf der anderen Seite kann die Durchbrechung von stereotypierten magischen oder rituellen Normen durch ethische Prophetie tiefgreifende – akute oder allmähliche – Revolutionen auch der Alltagsordnung des Lebens und insbesondere der Wirtschaft nach sich ziehen. In beiden Richtungen hat selbstverständlich die Macht des Religiösen ihre Schranken. Bei weitem nicht überall, wo sie mit Umgestaltung Hand in Hand geht, ist sie das treibende Element. Sie stampft insbesondere nirgends ökonomische Zustände aus dem Boden, für welche nicht mindestens die Möglichkeiten, oft sehr intensive Antriebe in den bestehenden Verhältnissen und Interessenkonstellationen gegeben waren. Und ihre konkurrierende Gewalt ist mächtigen ökonomischen Interessen gegenüber auch hier begrenzt. Eine allgemeine Formel für die relative inhaltliche Macht der verschiedenen Entwicklungskomponenten und der Art ihrer »Anpassung« aneinander ist nicht zu geben. Die Bedürfnisse des ökonomischen Lebens machen sich entweder durch Umdeutung der heiligen Gebote geltend oder durch ihre kasuistisch motivierte Umgehung, zuweilen auch durch einfache praktische Beseitigung, im Wege der Praxis der geistlichen Buß- und Gnadenjurisdiktion, die z.B. innerhalb der katholischen Kirche eine so wichtige Bestimmung wie das Zinsverbot in bald zu erwähnender Weise auch in foro conscientiae völlig ausgeschaltet hat, ohne es doch – was unmöglich gewesen wäre – ausdrücklich zu abrogieren. Dem ebenso verpönten »Onanismus matrimonialis« (Zweikindersystem) dürfte es ebenso ergehen. Die Konsequenz der an sich naturgemäß häufigen Vieldeutigkeit oder des Schweigens religiöser Normen gegenüber neuen Problemen und diesen Praktiken ist das unvermittelte Nebeneinanderstehen absolut unerschütterlicher Stereotypierungen einerseits mit außerordentlicher Willkür und völliger Unberechenbarkeit des davon wirklich Geltenden andererseits. Von der islâmischen Scharî'a ist im Einzelfall kaum angebbar, was heute noch in der Praxis gilt, und das gleiche trifft für alle heiligen Rechte und Sittengebote zu, welche formal ritualistisch-kasuistischen Charakter haben, vor allem auch für das jüdische Gesetz. Demgegenüber schafft nun gerade die prinzipielle Systematisierung des religiös Gesollten zur »Gesinnungsethik« eine wesentlich veränderte Situation. Sie sprengt die Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der »sinnhaften« Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilsziel. Sie kennt kein »heiliges Recht«, sondern eine »heilige Gesinnung«, welche je nach der Situation verschiedene Maximen des Verhaltens sanktionieren kann, also elastisch und anpassungsfähig ist. Statt stereotypierend kann sie, je nach der Richtung der Lebensführung, die sie schafft, von innen heraus revolutionierend wirken. Aber sie erkauft diese Fähigkeit um den Preis einer wesentlich verschärften und »verinnerlichten« Problematik. Die innere Spannung des religiösen Postulats gegen die Realitäten der Welt nimmt in Wahrheit nicht ab, sondern zu. An Stelle des äußerlichen Ausgleichspostulats der Theodizee treten mit steigender Systematisierung und Rationalisierung der Gemeinschaftsbeziehungen und ihrer Inhalte die Konflikte der Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Lebenssphären gegenüber dem religiösen Postulat und gestalten so die »Welt«, je intensiver das religiöse Bedürfen ist, desto mehr zu einem Problem; dieses müssen wir zunächst an den Hauptkonfliktspunkten uns verdeutlichen.

Die religiöse Ethik greift in die Sphäre der sozialen Ordnung sehr verschieden tief ein. Nicht nur die Unterschiede der magischen und rituellen Gebundenheit und der Religiosität entscheiden hier, sondern vor allem ihre prinzipielle Stellung zur Welt überhaupt. Je systematisch-rationaler diese unter religiösen Gesichtspunkten zu einem Kosmos geformt wird, desto prinzipieller kann ihre ethische Spannung gegen die innerweltlichen Ordnungen werden, und zwar um so mehr, je mehr diese selbst ihrerseits nach ihrer Eigengesetzlichkeit systematisiert werden. Es entsteht die weltablehnende religiöse Ethik, und dieser fehlt, eben als solcher, der stereotypierende[349] Charakter der heiligen Rechte. Gerade die Spannung, welche sie in die Beziehungen zur Welt hineinträgt, ist ein starkes dynamisches Entwicklungsmoment.

Soweit die religiöse Ethik lediglich die allgemeinen Tugenden des Weltlebens übernimmt, bedürfen diese hier keiner Erörterung. Die Beziehungen innerhalb der Familie, daneben Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Achtung fremden Lebens und Besitzes, einschließlich desjenigen an Weibern, versteht sich von selbst. Aber der Akzent der verschiedenen Tugenden ist charakteristisch verschieden. So die ungeheure Betonung der Familienpietät im Konfuzianismus, magisch motiviert infolge der Bedeutung der Ahnengeister, praktisch geflissentlich gepflegt von einer patriarchalen und patrimonialbürokratischen politischen Herrschaftsorganisation, welcher, nach einem Ausspruch des Konfuzius, »Insubordination schlimmer als gemeine Gesinnung« gilt und daher die Subordination den Familienautoritäten gegenüber, wie dies ebenfalls ausdrücklich gesagt wird, auch als Merkmal der gesellschaftlichen und politischen Qualitäten gelten mußte. Im polaren Gegensatz dazu die Sprengung aller Familienbande durch die radikalere Form der Gemeindereligiosität: wer nicht seinen Vater hassen kann, kann nicht Jesu Jünger sein. Oder etwa die strengere Wahrheit[spflicht] der indischen und zarathustrischen Ethik gegenüber der des jüdisch-christlichen Dekalogs (Beschränkung auf die gerichtliche Zeugenaussage) und andererseits das völlige Zurücktreten der Wahrheitspflicht gegenüber den zeremoniellen Schicklichkeitsgeboten in der Standesethik der konfuzianischen chinesischen Bürokratie. Oder das, über das ursprünglich durch die antiorgiastische Stellung des Zarathustra bedingte Tierquälereiverbot seiner Religion weit hinausgehende, in animistischen (Seelenwanderungs-) Vorstellungen begründete, absolute Verbot der Tötung irgendeines lebenden Wesens (ahimsâ) bei aller spezifisch indischen Religiosität im Gegensatz zu fast allen anderen.

Im übrigen ist der Inhalt jeder, über magische Einzelvorschriften und die Familienpietät hinausgehenden, religiösen Ethik zunächst bedingt durch die beiden einfachen Motive, welche das nicht familiengebundene Alltagshandeln bestimmen: gerechte Talion gegen Verletzer und brüderliche Nothilfe für den befreundeten Nachbarn. Beides ist Vergeltung: der Verletzende »verdient« die Strafe, deren Vollziehung den Zorn besänftigt, ebenso wie der Nachbar die Nothilfe. Daß man den Feinden Böses mit Bösem vergelte, versteht sich für die chinesische, vedische und zarathustrische Ethik ebenso wie bis in die nachexilische Zeit für die der Juden. Alle gesellschaftliche Ordnung scheint ja auf gerechter Vergeltung zu beruhen, und daher lehnt die weltanpassende Ethik des Konfuzius die in China teils mystisch, teils sozialutilitarisch motivierte Idee der Feindesliebe direkt als gegen die Staatsräson gehend ab. Akzeptiert wird sie von der jüdischen nachexilischen Ethik im Grunde, wie Meinhold ausführt, auch nur im Sinn einer um so größeren, vornehmen Beschämung des Feindes durch eigene Guttaten und vor allem mit dem wichtigen Vorbehalt, den auch das Christentum macht: daß die Rache Gottes ist und er sie um so sicherer besorgen wird, je mehr der Mensch sich ihrer enthält. Den Verbänden der Sippe, der Blutsbrüder und des Stammes fügt die Gemeindereligiosität als Stätte der Nothilfepflicht den Gemeindegenossen hinzu. Oder vielmehr, sie setzt ihn an die Stelle des Sippengenossen: wer nicht Vater und Mutter verlassen kann, kann nicht Jesu Jünger sein, und in diesem Sinn und Zusammenhang fällt auch das Wort, daß er gekommen sei, nicht um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Daraus erwächst dann das Gebot der »Brüderlichkeit«, welches der Gemeindereligiosität – nicht etwa aller, aber doch gerade ihr – spezifisch ist, weil sie die Emanzipation vom politischen Verbande am tiefsten vollzieht. Auch in der frühen Christenheit, z.B. bei Clemens von Alexandrien, gilt die Brüderlichkeit in vollem Umfang nur innerhalb des Kreises der Glaubensgenossen, nicht ohne weiteres nach außen. Die brüderliche Nothilfe stammt, sahen wir17, aus dem Nachbarverband. Der »Nächste« hilft dem Nachbarn, denn auch er kann seiner einmal bedürfen. Erst eine starke[350] Mischung der politischen und ethnischen Gemeinschaften, und die Loslösung der Götter als universeller Mächte vom politischen Verband führt zur Möglichkeit des Liebesuniversalismus. Gegen die fremde Religiosität wird sie gerade bei Hervortreten der Konkurrenz der Gemeindereligiositäten und dem Anspruch auf Einzigkeit des eigenen Gottes sehr erschwert. Die Jainamönche wundern sich in der buddhistischen Ueberlieferung, daß der Buddha seinen Jüngern geboten hat, auch ihnen Speise zu geben.

Wie nun die Gepflogenheiten nachbarschaftlicher Bittarbeit und Nothilfe bei ökonomischer Differenzierung auch auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten übertragen werden, so schon sehr früh auch in der religiösen Ethik. Die Sänger und Zauberer als die ältesten vom Boden gelösten »Berufe« leben von der Freigebigkeit der Reichen. Diese preisen sie zu allen Zeiten, den Geizigen aber trifft ihr Fluch. In naturalwirtschaftlichen Verhältnissen nobilitiert aber überhaupt, sehen wir später18, nicht der Besitz als solcher, sondern die freigebig gastfreie Lebensführung. Daher ist das Almosen universeller und primärer Bestandteil auch aller ethischen Religiosität. Die ethische Religiosität wendet dies Motiv verschieden. Das Wohltun an den Armen wird noch von Jesus gelegentlich ganz nach den Vergeltungsprinzipien so motiviert: daß gerade die Unmöglichkeit diesseitiger Vergeltung seitens des Armen die jenseitige durch Gott um so sicherer mache. Dazu tritt der Grundsatz der Solidarität der Glaubensbrüder, der unter Umständen bis zu einer an »Liebeskommunismus« grenzenden Brüderlichkeit geht. Das Almosen gehört im Islâm zu den fünf absoluten Geboten der Glaubenszugehörigkeit, es ist im alten Hinduismus ebenso wie bei Konfuzius und im alten Judentum das »gute Werk« schlechthin, im alten Buddhismus ursprünglich die einzige Leistung des frommen Laien, auf die es wirklich ankommt, und hat im antiken Christentum nahezu die Dignität eines Sakraments erlangt (noch in Augustins Zeit gilt Glaube ohne Almosen als unecht). Der unbemittelte islâmische Glaubenskämpfer, der buddhistische Mönch, die unbemittelten Glaubensbrüder des alten Christentums (zumal der jerusalemitischen Gemeinde) sind ja alle, ebenso wie die Propheten, Apostel und oft auch die Priester der Erlösungsreligionen selbst, vom Almosen abhängig, und die Chance des Almosens und der Nothilfe ist im alten Christentum und später bei den Sekten, bis in die Quäkergemeinden hinein, als eine Art von religiösem Unterstützungswohnsitz, eines der ökonomischen Hauptmomente der Propaganda und des Zusammenhalts der religiösen Gemeinde. Daher verliert es sofort mehr oder minder an Bedeutung und mechanisiert sich ritualistisch, wenn eine Gemeindereligiosität diesen ihren Charakter einbüßt. Dennoch bleibt es grundsätzlich bestehen. Im Christentum erscheint trotz dieser Entwicklung das Almosen für einen Reichen als so unbedingt erforderlich zur Seligkeit, daß die Armen geradezu als ein besonderer und unentbehrlicher »Stand« innerhalb der Kirche gelten. In ähnlicher Weise kehren die Kranken, die Witwen und Waisen als religiös wertvolle Objekte ethischen Tuns wieder. Denn die Nothilfe erstreckt sich natürlich weit über das Almosen hinaus: unentgeltlichen Notkredit und Notversorgung seiner Kinder erwartet man vom Freund und Nachbarn, daher auch vom Glaubensbruder – noch die an die Stelle der Sekten tretenden säkularisierten Vereine in Amerika stellen vielfach diese Ansprüche. Und speziell erwartet er dies von der Generosität der Mächtigen und der eigenen Gewalthaber. Innerhalb bestimmter Grenzen ist ja Schonung und Güte auch gegen die eigenen Gewaltunterworfenen ein eigenes wohlverstandenes Interesse des Gewalthabers, da von deren Gutwilligkeit und Zuneigung, in Ermangelung rationaler Kontrollmittel, seine Sicherheit und Einkünfte weitgehend abhängen. Die Chance, Schutz und Nothilfe von einem Mächtigen zu erlangen, ist andererseits für jeden Besitzlosen, speziell die heiligen Sänger, ein Anreiz, ihn aufzusuchen und seine Güte zu preisen. Ueberall, wo patriarchale Gewaltverhältnisse die soziale Gliederung bestimmen, haben daher – besonders im Orient – die prophetischen Religionen eine Art von »Schutz der Schwachen«, Frauen, Kinder, Sklaven, auch[351] schon in Anknüpfung an jene rein praktische Situation schaffen können. So namentlich die mosaische und islâmische Prophetie. Dies erstreckt sich nun auch auf die Klassenbeziehungen. Im Kreise der minder mächtigen Nachbarn gilt rücksichtslose Ausnutzung derjenigen Klassenlage, welche der vorkapitalistischen Zeit typisch ist: rücksichtslose Schuldverknechtung und Vermehrung des eigenen Landbesitzes (was beides annähernd identisch ist), Ausnutzung der größeren Kaufkraft durch Aufkauf von Konsumgütern zur spekulativen Ausnutzung der Zwangslage der anderen, [als] ein mit schwerer sozialer Mißbilligung, daher auch mit religiösem Tadel beantworteter Verstoß gegen die Solidarität. Andererseits verachtet der alte Kriegsadel den durch Gelderwerb Emporgekommenen als Parvenü. Ueberall wird deshalb diese Art des »Geizes« religiös perhorresziert, in den indischen Rechtsbüchern ganz ebenso wie im alten Christentum und im Islâm; im Judentum mit dem charakteristischen Institut des Schulderlaß- und Freilassungsjahres zugunsten der Glaubensgenossen, aus welchem dann theologische Konsequenzmacherei und Mißverstand einer rein stadtsässigen Frömmigkeit das »Sabbathjahr« konstruierte. Die gesinnungsethische Systematisierung konzipiert aus all diesen Einzelansprüchen die spezifisch religiöse Liebesgesinnung: die »caritas«.

In fast allen ethischen Lebensreglementierungen kehrt nun auf ökonomischem Gebiet als Ausfluß dieser zentralen Gesinnung die Verwerfung des Zinses wieder. Gänzlich fehlt sie in der religiösen Ethik außerhalb des Protestantismus nur da, wo, wie im Konfuzianismus, diese eine reine Weltanpassung geworden ist oder, wie in der altbabylonischen Ethik und in den antiken Mittelmeerethiken, das Stadtbürgertum, insbesondere der stadtsässige und am Handel interessierte Adel die Entwicklung einer durchgreifenden karitativen Ethik überhaupt verhindert. In den indischen religiösen Rechtsbüchern gilt wenigstens für die beiden höchsten Kasten das Zinsnehmen als verpönt. Bei den Juden unter Volksgenossen, im Islâm und im alten Christentum zunächst unter Glaubensbrüdern, dann unbedingt. Im Christentum ist das Zinsverbot als solches vielleicht nicht ursprünglich. Gott wird nicht vergelten, wo man ohne Risiko leiht, – so wird bei Jesus die Vorschrift: auch den Unbemittelten zu leihen, motiviert. Aus dieser Stelle hat dann ein Lese-und Uebersetzungsfehler das Verbot des Zinses gemacht (μηδὲν statt μηδένα ἀπελπίζοντες, daraus die Vulgata: »nihil inde sperantes«). Der ursprüngliche Grund der Zinsperhorreszierung liegt durchweg in dem Bittleistungscharakter des primitiven Notdarlehns, welcher den Zins »unter Brüdern« als Verstoß gegen die Nothilfepflicht erscheinen lassen mußte. Für die steigende Einschärfung des Verbots im Christentum unter ganz anderen Bedingungen aber waren teilweise andere Motive maßgebend. Nicht etwa das Fehlen des Kapitalzinses infolge der allgemeinen Bedingungen der Naturalwirtschaft, deren »Widerspiegelung« angeblich das Verbot (nach geschichts-materialistischer Schablone) sein sollte. Denn wir sehen gerade im Gegenteil, daß die christliche Kirche und ihre Diener, einschließlich des Papstes, selbst im frühen Mittelalter, also gerade im Zeitalter der Naturalwirtschaft, ganz unbedenklich Zins genommen und erst recht ihn geduldet haben, und daß vielmehr fast genau parallel mit dem Beginn der Entwicklung wirklich kapitalistischer Verkehrsformen und speziell des Erwerbskapitals im Ueberseehandel die kirchliche Verfolgung des Darlehnszinses entstand und immer schärfer einsetzte. Es handelt sich also um einen prinzipiellen Kampf der ethischen mit der ökonomischen Rationalisierung der Wirtschaft. Erst im 19. Jahrhundert mußte die Kirche, wie wir sahen, den nunmehr unabänderlichen Tatsachen gegenüber das Verbot in der früher erwähnten Art beseitigen.

Der eigentlich religiöse Grund der Antipathie gegen den Zins lag tiefer und hing mit der Stellung der religiösen Ethik zu der Gesetzlichkeit des rationalen geschäftlichen Erwerbs als solchem zusammen. Jeder rein geschäftliche Erwerb wird in urwüchsigen Religionen, gerade solchen, welche den Besitz von Reichtum an sich sehr stark positiv werten, fast durchweg sehr ungünstig beurteilt. Und zwar eben falls[352] nicht nur unter vorherrschender Naturalwirtschaft und dem Einfluß des Kriegsadels. Sondern gerade unter relativ entwickeltem Geschäftsverkehr und in bewußtem Protest dagegen. Zunächst führt jede ökonomische Rationalisierung des Tauscherwerbs zur Erschütterung der Tradition, auf welcher die Autorität des heiligen Rechts überhaupt beruht. Schon deshalb ist der Trieb nach Geld als Typus rationalen Erwerbsstrebens religiös bedenklich. Wenn möglich, hat daher die Priesterschaft (so anscheinend in Aegypten) die Erhaltung der Naturalwirtschaft begünstigt, wo nicht etwa die eigenen ökonomischen Interessen der Tempel als sakral geschützter Depositen- und Darlehenskassen dem allzusehr entgegenstanden. Vor allem aber ist es der unpersönliche, ökonomisch rationale, eben deshalb aber ethisch irrationale, Charakter rein geschäftlicher Beziehungen als solcher, der auf ein niemals ganz klar ausgesprochenes, aber um so sicherer gefühltes Mißtrauen gerade bei ethischen Religionen stößt. Jede rein persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch, wie immer sie sei, einschließlich der völligsten Versklavung, kann ethisch reglementiert, an sie können ethische Postulate gestellt werden, da ihre Gestaltung von dem individuellen Willen der Beteiligten abhängt, also der Entfaltung karitativer Tugend Raum gibt. Nicht so aber geschäftlich rationale Beziehungen, und zwar je rational differenzierter sie sind, desto weniger. Die Beziehungen eines Pfandbriefbesitzers zu dem Hypothekenschuldner einer Hypothekenbank, eines Staatsschuldscheininhabers zum Staatssteuerzahler, eines Aktionärs zum Arbeiter der Fabrik, eines Tabakimporteurs zum fremden Plantagenarbeiter, eines industriellen Rohstoffverbrauchers zum Bergarbeiter sind nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht karitativ reglementierbar. Die Versachlichung der Wirtschaft auf der Basis der Marktvergesellschaftung folgt durchweg ihren eigenen sachlichen Gesetzlichkeiten, deren Nichtbeachtung die Folge des ökonomischen Mißerfolgs, auf die Dauer des ökonomischen Untergangs nach sich zieht. Rationale ökonomische Vergesellschaftung ist immer Versachlichung in diesem Sinn, und einen Kosmos sachlich rationalen Gesellschaftshandelns kann man nicht durch karitative Anforderungen an konkrete Personen beherrschen. Der versachlichte Kosmos des Kapitalismus vollends bietet dafür gar keine Stätte. An ihm scheitern die Anforderungen der religiösen Karitas nicht nur, wie überall im einzelnen, an der Widerspenstigkeit und Unzulänglichkeit der konkreten Personen, sondern sie verlieren ihren Sinn überhaupt. Es tritt der religiösen Ethik eine Welt interpersonaler Beziehungen entgegen, die sich ihren urwüchsigen Normen grundsätzlich gar nicht fügen kann. In eigentümlicher Doppelseitigkeit hat daher die Priesterschaft immer wieder, auch im Interesse des Traditionalismus, den Patriarchalismus gegenüber den unpersönlichen Abhängigkeitsbeziehungen gestützt, obwohl andererseits die Prophetie die patriarchalen Verbände sprengt. Je prinzipieller aber eine Religiosität ihren Gegensatz gegen den ökonomischen Rationalismus als solchen empfindet, desto näher liegt dem religiösen Virtuosentum als Konsequenz die antiökonomische Weltablehnung.

In der Welt der Tatsachen hat dabei die religiöse Ethik, infolge der unvermeidlichen Kompromisse, verschiedene Schicksale gehabt. Von jeher ist sie ganz direkt für rationale ökonomische Zwecke, insbesondere auch der Gläubiger, benutzt worden. Namentlich da, wo die Schuld rechtlich noch streng an der Person des Schuldners haftete. Dann wurde die Ahnenpietät der Erben ausgenutzt. Die Pfändung der Mumie des Toten in Aegypten oder die in manchen asiatischen Religiositäten verbreitete Vorstellung, daß wer ein Versprechen, also auch ein Schuldversprechen, namentlich ein eidliches, nicht halte, im Jenseits gequält werde und daher seinerseits die Ruhe der Nachfahren durch bösen Zauber stören könne, gehören dahin. Im Mittelalter ist, worauf Schulte hinwies, der Bischof besonders kreditwürdig, weil im Fall des Bruchs der Zusage, zumal der eidlichen, die Exkommunikation seine ganze Existenz vernichtete (darin ähnlich der spezifischen Kreditwürdigkeit deutscher Leutnants und Couleurstudenten). In eigentümlicher Paradoxie gerät vor allen Dingen, wie schon mehrfach erwähnt, die Askese immer wieder in den Widerstreit, daß ihr[353] rationaler Charakter zur Vermögensakkumulation führt. Namentlich die Unterbietung, welche die billige Arbeit asketischer Zölibatäre gegenüber dem, mit dem Existenzminimum einer Familie belasteten, bürgerlichen Erwerb bedeutet, führt zur Expansion des eigenen Erwerbs, im Spätmittelalter, wo die Reaktion des Bürgertums gegen die Klöster eben auf deren gewerblicher »Kulikonkurrenz« beruht, wie bei der Unterbietung der weltlichen verheirateten Lehrer durch die Klostererziehung. Sehr oft erklären sich Stellungnahmen der Religiosität aus ökonomischen Erwerbsgründen. Die byzantinischen Mönche waren an den Bilderdienst ökonomisch gekettet wie die chinesischen es an die Produkte ihrer Buchdruckereien und Werkstätten sind, und die moderne Fabrikation von Schnaps in Klöstern – ein Hohn auf die religiöse Alkoholbekämpfung – ist nur ein extremes Beispiel in ähnlichem Sinne. Derartige Momente wirken jeder prinzipiellen antiökonomischen Weltablehnung entgegen. Jede Organisation, insbesondere jede Anstaltsreligiosität bedarf auch der ökonomischen Machtmittel, und kaum eine Lehre ist mit so fürchterlichen päpstlichen Flüchen bedacht worden, namentlich durch den größten Finanzorganisator der Kirche, Johann XXII., wie die konsequente Vertretung der biblisch beglaubigten Wahrheit: daß Christus seinen echten Jüngern Besitzlosigkeit geboten habe, durch die Franziskanerobservanten. Schon von Arnold von Brescia angefangen zieht sich die Zahl der Märtyrer dieser Lehre durch die Jahrhunderte.

Die praktische Wirkung der christlichen Wucherverbote und des für den geschäftlichen, speziell den kaufmännischen Erwerb, geltenden Satzes: »Deo placere non potest«, ist generell schwer abzuschätzen. Das Wucherverbot zeitigte juristische Umgehungsformen aller Art. So gut wie unverhüllten Zins mußte schließlich die Kirche selbst nach hartem Kampf in den karitativen Anstalten der Montes pietatis (endgültig seit Leo X.) für Pfandleihegeschäfte zugunsten der Armen zulassen. Für den nur gegen festen Zins zu deckenden Notkreditbedarf des Mittelstandes sorgte das Judenprivileg. Im übrigen aber ist zu bedenken, daß im Mittelalter der feste Zins zunächst gerade bei den damals sehr stark risikobelasteten, namentlich den für überseeische Geschäfte geschlossenen, Erwerbskreditverträgen (wie sie z.B. auch für Mündelgelder in Italien universell benutzt wurden) ohnehin die seltene Ausnahme war gegenüber einer verschieden begrenzten und zuweilen (im Pisaner Constitutum Usus) tarifierten Teilnahme an Risiko und Gewinn des Geschäfts (commenda dare ad proficuum de mari). Die großen Händlergilden jedoch schützten sich gegen die Einrede der usuraria pravitas teils durch Ausschluß aus der Gilde, Boykott und schwarze Listen (wie etwa gegen den Differenzeinwand unserer Börsengesetzgebungen), die Mitglieder aber für ihr persönliches Seelenheil durch von der Zunft beschaffte Generalablässe (so in der Arte di Calimala) und massenhafte testamentarische Gewissensgelder oder Stiftungen. Der tiefe Zwiespalt zwischen den geschäftlichen Unvermeidlichkeiten und dem christlichen Lebensideal wurde indessen oft sehr tief gefühlt und hielt jedenfalls gerade die frömmsten und ethisch rationalsten Elemente dem Geschäftsleben fern, wirkte vor allem immer wieder in der Richtung einer ethischen Deklassierung und Hemmung des rationalen Geschäftsgeistes. Die Auskunft der mittelalterlichen Anstaltskirche: die Pflichten ständisch abzustufen je nach religiösem Charisma und ethischem Beruf, und daneben die Ablaßpraxis ließen jedoch eine geschlossene ethische Lebensmethodik auf ökonomischem Gebiete überhaupt nicht entstehen. (Der Ablaßdispens und die äußerst laxen Prinzipien der jesuitischen probabilistischen Ethik nach der Gegenreformation änderten daran nichts, daß eben ethisch lax denkende, nicht aber ethisch rigoristische Menschen dem Erwerb als solchem sich zuwenden konnten.) Die Schaffung einer kapitalistischen Ethik leistete – durchaus nicht der Absicht nach – erst die innerweltliche Askese des Protestantismus, welche gerade den frömmsten und ethisch rigorosesten Elementen den Weg in das Geschäftsleben [öffnete] und [ihnen] vor allem den Erfolg im Geschäftsleben als Frucht rationaler Lebensführung zuwendete. Das Zinsverbot selbst wurde vom Protestantismus, speziell vom asketischen Protestantismus, auf Fälle konkreter[354] Lieblosigkeit beschränkt. Der Zins wurde jetzt gerade da, wo ihn die Kirche selbst in den Montes pietatis faktisch geduldet hatte: bei Kredit an die Armen, als liebloser Wucher perhorresziert, – die Juden sowohl wie die christliche Geschäftswelt empfanden seit langem deren Konkurrenz als lästig, – dagegen wurde er als eine Form der Teilnahme des Kapitalgebers an dem mit geliehenem Gelde gemachten Geschäftsprofit und überhaupt für den Kredit an die Mächtigen und Reichen (politischer Kredit an Fürsten) legitimiert. Theoretisch ist dies die Leistung des Salmasius. Vor allem vernichtete aber ganz allgemein der Calvinismus die überkommenen Formen der Karitas. Das planlose Almosen war das erste, was er beseitigte. Allerdings war schon seit der Einführung fester Normen für die Verteilung der Gelder des Bischofs in der späteren Kirche und dann durch die Einrichtung des mittelalterlichen Spitals der Weg zur Systematisierung der Karitas betreten, wie im Islam die Armensteuer eine rationale Zentralisation bedeutet hatte. Aber seine Bedeutung als gutes Werk hatte das planlose Almosen behauptet. Die zahllosen karitativen Stiftungen aller ethischen Religionen haben der Sache nach ebenfalls entweder zu einer direkten Züchtung des Bettels geführt und überdies, wie etwa in der fixierten Zahl der täglichen Armensuppen in byzantinischen Klosterstiftungen und in dem chinesischen offiziellen Suppentage, die Karitas zu einer rein rituellen Geste werden lassen. Der Calvinismus machte dem allen ein Ende. Vor allem der freundlichen Beurteilung der Bettler. Für ihn hat der unerforschliche Gott seine guten Gründe, wenn er die Glücksgüter ungleich verteilt, und bewährt sich der Mensch ausschließlich in der Berufsarbeit. Der Bettel wird direkt als eine Verletzung der Nächstenliebe gegen den Angebettelten bezeichnet, und vor allem gehen alle puritanischen Prediger von der Auffassung aus, daß Arbeitslosigkeit Arbeitsfähiger ein-für allemal selbstverschuldet sei. Für Arbeitsunfähige aber, für Krüppel und Waisen, ist die Karitas rational zu organisieren zu Gottes Ehre, nach Art etwa der noch jetzt in einer eigentümlich auffallenden, an Narrentrachten erinnernden Kleidung, möglichst ostensibel durch die Straßen Amsterdams zum Gottesdienst geführten Waisenhausinsassen. Die Armenpflege wird unter den Gesichtspunkt der Abschreckung von Arbeitsscheuen gestellt, wofür etwa die englische puritanische Armenpflege im Gegensatz zu den von H. Levy sehr gut geschilderten anglikanischen Sozialprinzipien den Typus abgibt. Jedenfalls wird Karitas selbst nun ein rationaler »Betrieb«, und ihre religiöse Bedeutung ist damit entweder ausgeschaltet oder direkt in ihr Gegenteil verkehrt. So die konsequente asketisch-rationale Religiosität.

Den entgegengesetzten Weg gegenüber der Rationalisierung der Wirtschaft muß eine mystische Religiosität gehen. Gerade das prinzipielle Scheitern der Brüderlichkeitspostulate an der lieblosen Realität der ökonomischen Welt, sobald in ihr rational gehandelt wird, steigert hier die Forderung der Nächstenliebe zu dem Postulat der schlechthin wahllosen »Güte«, die nach Grund und Erfolg der absoluten Selbsthingabe, nach Würdigkeit und Selbsthilfefähigkeit des Bittenden überhaupt nicht fragt und das Hemd gibt, wo der Mantel erbeten ist, für die aber eben deshalb in ihren letzten Konsequenzen auch der einzelne Mensch, für den sie sich opfert, sozusagen fungibel und in seinem Wert nivelliert wird, der »Nächste« der jeweils zufällig in den Weg Kommende ist, relevant nur durch seine Not und seine Bitte: eine eigentümliche Form mystischer Weltflucht in Gestalt objektlos liebender Hingabe nicht um des Menschen, sondern um der Hingabe, der »heiligen Prostitution der Seele« (Baudelaire), willen.

Gleich scharf und aus gleichen Gründen gerät der religiöse Liebesakosmismus, in irgendeiner Weise aber jede rationale ethische Religiosität in Spannung mit dem Kosmos des politischen Handelns, sobald eine Religion dem politischen Verband gegenüber überhaupt einmal Distanz gewonnen hat.

Der alte politische Lokalgott freilich, auch ein ethischer und universell mächtiger Gott, ist lediglich für den Schutz der politischen Interessen seines Verbandes da. Auch der Christengott wird ja noch heute als »Schlachtengott« oder »Gott unserer[355] Väter« wie ein Lokalgott einer antiken Polis angerufen, ganz ebenso wie etwa der christliche Pfarrer am Nordseestrand jahrhundertelang um »gesegneten Strand« (zahlreiche Schiffbrüche) zu beten hatte. Die Priesterschaft ihrerseits hängt meist direkt oder indirekt von dem politischen Verbande ab, sehr stark schon in den heutigen auf Staatspension gesetzten Kirchen, erst recht aber, wo die Geistlichen Hof- oder Patrimonialbeamte der Herrscher oder Grundherren, wie in Indien der Purohita oder wie der byzantinische Hofbischof Konstantins, oder wo sie selbst weltlich belehnte Feudalherren wie im [okzidentalen] Mittelalter oder adlige Priestergeschlechter mit weltlicher Macht waren. Die heiligen Sänger, deren Produkte fast überall in die heiligen Schriften eingingen, in die chinesischen und indischen wie in die jüdischen, preisen den Heldentod, der den brahmanischen heiligen Rechtsbüchern für den Kshatryia in dem Alter, in welchem er »den Sohn seines Sohnes sieht«, als ebenso ideale Kastenpflicht gilt, wie im gleichen Fall für den Brahmanen die Zurückziehung zur Meditation in den Wald. Den Begriff des »Glaubenskampfs« freilich konzipiert eine magische Religiosität nicht. Aber politischer Sieg und vor allem Rache an den Feinden sind für sie und auch für die alte Jahvereligion der eigentliche Gotteslohn.

Je mehr aber die Priesterschaft sich selbständig gegenüber der politischen Gewalt zu organisieren versucht und je rationaler ihre Ethik wird, desto mehr verschiebt sich diese ursprüngliche Position. Der Widerspruch zwischen der Predigt der Brüderlichkeit der Genossen und der Verherrlichung des Krieges den Außenstehenden gegenüber pflegt freilich für die Deklassierung der kriegerischen Tugenden nicht entscheidend zu sein, da hier ja der Ausweg der Unterscheidung von »gerechten« und »ungerechten« Kriegen blieb, – ein pharisäisches Produkt, von welchem die alte genuine Kriegerethik nichts wußte. Weit wichtiger war die Entstehung von Gemeindereligionen politisch entwaffneter und priesterlich domestizierter Völker, wie etwa der Juden, und das Entstehen breiter, mindestens relativ unkriegerischer, aber für den Unterhalt und die Machtstellung der Priesterschaft, wo sie sich selbständig organisierte, zunehmend bedeutsamer Schichten. Die Priesterschaft mußte die spezifischen Tugenden dieser Schichten um so exklusiver rezipieren, als diese: Einfachheit, geduldiges Sichschicken in die Not, demütige Hinnahme der gegebenen Autorität, freundliches Verzeihen und Nachgiebigkeit gegenüber dem Unrecht, gerade auch diejenigen Tugenden waren, welche der Unterwerfung unter die Fügung des ethischen Gottes und der Priester selbst zugute kamen, und als sie alle ferner in gewissem Maß Komplementärtugenden der religiösen Grundtugend der Mächtigen: der großmütigen Karitas, darstellten und als solche von den patriarchalen Nothelfern selbst bei den von ihnen Unterstützten erwartet und gewünscht werden. Politische Umstände wirken mit, die Ethik des Beherrschten religiös um so mehr zu verklären, je mehr eine Religiosität »Gemeinde«-Religiosität wird. Die jüdische Prophetie, in realistischer Erkenntnis der außenpolitischen Lage, hat das Sichschicken in das gottgewollte Schicksal der Herrschaft der Großmächte gepredigt. Und die Domestikation der Massen, welche sowohl Fremdherrschaften (so zuerst systematisch die Perser) wie schließlich auch die eigenen heimischen Gewalthaber den von ihnen anerkannten Priestern zuweisen, gibt, verbunden mit der Eigenart ihrer persönlichen unkriegerischen Tätigkeit und der Erfahrung von der überall besonders intensiven Wirkung religiöser Motive auf Frauen, mit zunehmender Popularisierung der Religion zunehmende Gründe, jene wesentlich femininen Tugenden der Beherrschten als spezifisch religiös zu werten. Aber nicht dieser priesterlich organisierte »Sklavenaufstand« in der Moral allein, sondern jedes Emporwachsen asketischer und vor allem mystischer persönlicher Heilssuche des Einzelnen, von der Tradition Gelösten führt, wie wir sahen, kraft Eigengesetzlichkeit in die gleiche Richtung. Typische äußere Situationen aber wirken verstärkend. Sowohl der sinnlos scheinende Wechsel der, gegenüber einer universalistischen Religiosität und (relativen) sozialen Einheitskultur (wie in Indien), partikulären und ephemeren, kleinen politischen Machtgebilde, wie gerade umgekehrt auch die universelle Befriedung[356] und Austilgung alles Ringens um Macht in den großen Weltreichen, und speziell die Bürokratisierung der politischen Herrschaft (wie im Römerreich), alle Momente also, welche den politischen und sozialen, am kriegerischen Machtkampf und sozialen Ständekampf verankerten Interessen den Boden entziehen, wirken sehr stark in der gleichen Richtung der antipolitischen Weltablehnung und der Entwicklung gewaltablehnender religiöser Brüderlichkeitsethik. Nicht aus »sozialpolitischen« Interessen oder womöglich aus »proletarischen« Instinkten heraus, sondern gerade aus dem völligen Wegfall dieser Interessen erwuchs die Macht der apolitischen christlichen Liebesreligion ebenso wie die zunehmende Bedeutung aller Erlösungslehren und Gemeindereligiositäten seit dem ersten und zweiten Jahrhundert der Kaiserzeit überhaupt. Es sind dabei keineswegs nur, oft nicht einmal vorwiegend, die beherrschten Schichten und ihr moralistischer Sklavenaufstand, sondern vor allem die politisch desinteressierten, weil einflußlosen oder degoutierten Schichten der Gebildeten, welche Träger speziell antipolitischer Erlösungsreligiositäten werden.

Die ganz universelle Erfahrung: daß Gewalt stets Gewalt aus sich gebiert, daß überall soziale oder ökonomische Herrschaftsinteressen sich mit den idealsten Reform- und vollends Revolutionsbewegungen vermählen, daß die Gewaltsamkeit gegen das Unrecht im Endergebnis zum Sieg nicht des größeren Rechts, sondern der größeren Macht oder Klugheit führt, bleibt mindestens der Schicht der intellektuellen Nichtinteressenten nicht verborgen und gebiert immer neu die radikalste Forderung der Brüderlichkeitsethik: dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen, welche dem Buddhismus mit der Predigt Jesu gemeinsam ist. Sie eignet aber auch sonst speziell mystischen Religiositäten, weil die mystische Heilssuche mit ihrer das Inkognito in der Welt als einzige Heilsbewährung suchenden Minimisierung des Handelns diese Haltung der Demut und Selbstaufgabe fordert und sie überdies auch rein psychologisch aus dem akosmistischen objektlosen Liebesempfinden, welches ihr eignet, erzeugen muß. Jeder reine Intellektualismus aber trägt die Chance einer solchen mystischen Wendung in sich. Die innerweltliche Askese dagegen kann mit der Existenz der politischen Gewaltordnung paktieren, die sie als Mittel rationaler ethischer Umgestaltung der Welt und der Bändigung der Sünde schätzt. Allein das Handinhandgehen ist hier bei weitem nicht so leicht wie mit den ökonomischen Erwerbsinteressen. Denn in ungleich höherem Maße als der private ökonomische Erwerb nötigt die auf menschliche Durchschnittsqualitäten, Kompromisse, List und Verwendung anderer ethisch anstößiger Mittel und vor allem Menschen, daneben auf Relativierung aller Zwecke abgestellte, eigentlich politische Tätigkeit zur Preisgabe ethisch-rigoristischer Forderungen. So sehr fällt dies in die Augen, daß unter der ruhmvollen Makkabäerherrschaft, nachdem der erste Rausch des Freiheitskriegs verraucht war, gerade unter den frömmsten Juden eine Partei entstand, welche die Fremdherrschaft dem nationalen Königtum ähnlich vorzog, wie manche puritanischen Denominationen nur die Kirchen unter dem Kreuz, also unter ungläubiger Herrschaft, als solche von erprobter Echtheit der Religiosität ansahen. In beiden Fällen wirkte einerseits der Gedanke, daß die Echtheit nur im Martyrium bewährt werden könne, andererseits aber die prinzipielle Vorstellung: daß echt religiöse Tugenden, sowohl die kompromißlose rationale Ethik wie andererseits die akosmistische Brüderlichkeit, innerhalb des politischen Gewaltapparats unmöglich eine Stätte finden können. Die Verwandtschaft der innerweltlichen Askese mit der Minimisierung der Staatstätigkeit (»Manchestertum«) hat hier eine ihrer Quellen.

Der Konflikt der asketischen Ethik sowohl wie der mystischen Brüderlichkeitsgesinnung mit dem allen politischen Bildungen zugrunde liegenden Gewaltapparat hat die verschiedensten Arten von Spannung und Ausgleich gezeitigt. Die Spannung zwischen Religion und Politik ist natürlich da am geringsten, wo, wie im Konfuzianismus, die Religion Geisterglauben oder schlechthin Magie, die Ethik aber lediglich kluge Weltanpassung des gebildeten Mannes ist. Ein Konflikt besteht andererseits[357] da gar nicht, wo eine Religiosität die gewaltsame Propaganda der wahren Prophetie zur Pflicht macht, wie der alte Islâm, der auf Universalismus der Bekehrung bewußt verzichtete und die Unterjochung wie die Unterwerfung der Glaubensfremden unter die Herrschaft eines dem Glaubenskampf als Grundpflicht gewidmeten herrschenden Ordens, nicht aber die Erlösung der Unterworfenen als Ziel kennt. Denn dies ist dann eben keine universalistische Erlösungsreligion. Der gottgewollte Zustand ist gerade die Gewaltherrschaft der Gläubigen über die geduldeten Ungläubigen, und also die Gewaltsamkeit als solche kein Problem. Eine gewisse Verwandtschaft damit zeigt die innerweltliche Askese dann, wenn sie, wie der radikale Calvinismus, die Herrschaft der zur »reinen« Kirche gehörigen religiösen Virtuosen über die sündige Welt zu deren Bändigung als gottgewollt hinstellt, wie dies z.B. der neuenglischen Theokratie, wenn nicht ausgesprochenermaßen, so doch in der Praxis, natürlich mit allerhand Kompromissen, zugrunde lag. Ein Konflikt fehlt aber auch da, wo, wie in den indischen intellektualistischen Erlösungslehren (Buddhismus, Jainismus), jede Beziehung zur Welt und zum Handeln in ihr abgebrochen, eigene Gewaltsamkeit ebenso wie Widerstand gegen die Gewalt absolut verboten, aber auch gegenstandslos ist. Nur faktische Einzelkonflikte konkreter Staatsanforderungen mit konkreten religiösen Geboten entstehen da, wo eine Religiosität Pariareligion einer von der politischen Gleichberechtigung ausgeschlossenen Gruppe, ihre Verheißung aber die gottgewirkte Wiederherstellung des richtigen Kastenranges ist, wie das Judentum, welches Staat und Gewalt nie verworfen, im Gegenteil mindestens bis zur hadrianischen Tempelzerstörung im Messias einen eigenen politischen Gewaltherrscher erwartet hatte.

Der Konflikt führt zum Martyrium oder zu passiver antipolitischer Duldung der Gewaltherrschaft, wo eine Gemeindereligiosität jede Gewaltsamkeit als widergöttlich verwirft, und die Fernhaltung davon für ihre Mitglieder wirklich durchsetzen, dabei aber doch nicht die Konsequenz der absoluten Weltflucht ziehen, sondern irgendwie innerhalb der Welt bleiben will. Der religiöse Anarchismus hat nach historischer Erfahrung bisher nur als kurzlebige Erscheinung bestanden, weil die Intensität der Gläubigkeit, die ihn bedingt, persönliches Charisma ist. Selbständige politische Bildungen auf einer nicht schlechthin anarchistischen, aber prinzipiell pazifistischen Grundlage haben existiert. Die wichtigste war das Quäkergemeinwesen in Pennsylvanien, dem es zwei Menschenalter lang tatsächlich gelang, im Gegensatz zu allen Nachbarkolonien, ohne Gewaltsamkeit gegen die Indianer auszukommen und zu prosperieren. Bis zuerst die bewaffneten Konflikte der Kolonialgroßmächte den Pazifismus zu einer Fiktion machten, und schließlich der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, welcher im Namen grundlegender Prinzipien des Quäkertums, aber unter Fernhaltung der orthodoxen Quäker wegen des Nichtwiderstandsprinzips, geführt wurde, dies Prinzip auch innerlich tief diskreditierte. Und die ihm entsprechende, tolerante Zulassung Andersdenkender hatte in Pennsylvanien selbst die Quäker zunächst zu einer immer peinlicher empfundenen Wahlkreisgeometrie, schließlich aber zur Abdikation vom Mitregiment gezwungen. Der grundsätzlich passive Apolitismus, wie ihn typisch das genuine Mennonitentum und ähnlich die meisten täuferischen Gemeinden, überhaupt aber zahlreiche, besonders russische, Sekten in verschieden motivierter Art, in den verschiedensten Teilen der Erde festgehalten haben, hat bei der absoluten Fügsamkeit, welche aus der Verwerfung der Gewaltsamkeit folgt, zu akuten Konflikten vornehmlich nur da geführt, wo persönliche militärische Dienstleistungen verlangt wurden. Das Verhalten auch der nicht absolut apolitischen religiösen Denominationen zum Kriege im speziellen ist ein verschiedenes gewesen, je nachdem es sich um Schutz der Glaubensfreiheit gegen Eingriffe der politischen Gewalt oder um rein politische Kriege handelte. Für beide Arten der kriegerischen Gewaltsamkeiten sind zwei extreme Maximen vertreten: einerseits rein passive Duldung fremder Gewalt und Renitenz gegen die Zumutung eigener Beteiligung an Gewaltsamkeiten mit der eventuellen[358] Konsequenz des persönlichen Martyriums. Dies ist nicht nur die Stellung des absolut weltindifferenten mystischen Apolitismus und der prinzipiell pazifistischen Arten der innerweltlichen Askese, sondern für die religiöse Vergewaltigung eignet auch die reine persönliche Glaubensreligiosität ihn sich öfters als Konsequenz an, da sie eine gottgewollte rationale äußere Ordnung und eine gottgewollte rationale Beherrschung der Welt nicht kennt. Luther verwarf wie den Glaubenskrieg so auch die Glaubensrevolution schlechthin. Auf der anderen Seite steht der Standpunkt des gewaltsamen Widerstandes wenigstens gegen Vergewaltigung des Glaubens. Die Glaubensrevolution liegt dem innerweltlichen asketischen Rationalismus, der heilige, gottgewollte Ordnungen der Welt kennt, am nächsten. So innerhalb des Christentums namentlich dem Calvinismus, der die gewaltsame Verteidigung des Glaubens gegen Tyrannen zur Pflicht macht (wenn auch, dem anstaltskirchlichen Charakter entsprechend, bei Calvin selbst nur auf Initiative berufener – ständischer – Instanzen). Die Propagandakampfreligionen und ihre Derivate, wie die mahdîstischen und andere islâmische Sekten, auch die islâmisch beeinflußte, eklektische, anfangs sogar pazifistische hinduistische Sekte der Sikhs, kennen selbstverständlich auch die Pflicht der Glaubensrevolution. Bezüglich des religiös indifferenten rein politischen Krieges stellen sich dagegen die Vertreter der beiden entgegengesetzten Standpunkte unter Umständen praktisch genau umgekehrt. Religiositäten, welche ethisch rationale Anforderungen an den politischen Kosmos stellen, müssen zu rein politischen Kriegen einen wesentlich negativeren Standpunkt ein nehmen, als solche, welche die Ordnungen der Welt als gegeben und relativ indifferent hinnehmen. Die unbesiegte Cromwellsche Armee petitionierte beim Parlament um Abschaffung der Zwangsaushebung, weil der Christ nur an Kriegen teilnehmen dürfe, deren Recht sein eigenes Gewissen bejahe. Das Soldheer muß von diesem Standpunkt aus als eine relativ sittliche Einrichtung gelten, weil es der Söldner mit Gott und seinem eigenen Gewissen abzumachen hat, ob er diesen Beruf ergreifen will. Staatliche Gewaltsamkeit aber ist nur soweit sittlich, als sie zu Gottes Ehre die Sünde bändigt und religiösem Unrecht entgegentritt, also zu Glaubenszwecken. Für Luther dagegen, der Glaubenskrieg, Glaubensrevolution und aktiven Widerstand absolut verwirft, ist bei politischen Kriegen die weltliche Obrigkeit, deren Sphäre durch rationale Postulate der Religion gar nicht berührt wird, allein verantwortlich für das Recht eines Krieges, und der Untertan belastet sein Gewissen nicht, wenn er ihr hier wie in allem, was nicht seine Beziehung zu Gott zerstört, auch aktiv gehorcht.

Die Stellung des alten und mittelalterlichen Christentums aber zum Staat als Ganzem hat geschwankt oder richtiger gesagt: den Schwerpunkt gewechselt, zwischen mehreren Standpunkten: 1. Völlige Perhorreszierung des bestehenden Römerreichs, dessen Dauer bis ans Ende der Welt in der ausgehenden Antike jedermann, auch den Christen, für selbstverständlich galt, als der Herrschaft des Antichrist. – 2. Völlige Staatsindifferenz, also passive Duldung der (stets und immer unrechtmäßigen) Gewalt, daher auch aktive Erfüllung aller religiös nicht direkt das Heil gefährdenden Zwangsnotwendigkeiten, so insbesondere der Steuerzahlung; daß man »dem Kaiser geben solle, was des Kaisers ist«, bedeutet nicht etwa, wie moderne Harmonisierung will, positive Anerkennung, sondern gerade die absolute Gleichgültigkeit des Treibens dieser Welt. – 3. Fernhaltung vom konkreten politischen Gemeinwesen, weil und insoweit die Beteiligung an ihm notwendig in Sünde (Kaiserkult) bringt, aber positive Anerkennung der Obrigkeit, auch der ungläubigen, als immerhin gottgewollt, wenn auch selbst sündig, aber, wie alle Ordnungen der Welt, eine gottverordnete Sündenstrafe, die durch Adams Fall über uns gebracht ist und die der Christ gehorsam auf sich nehmen muß. – 4. Positive Wertung der Obrigkeit, auch der ungläubigen, als im Sündenstande unentbehrliches Bändigungsmittel der schon kraft der gottgegebenen natürlichen Erkenntnis des religiös unerleuchteten Heiden verwerflichen Sünden und als allgemeine Bedingung aller gottgewollten[359] irdischen Existenz. – Die beiden erstgenannten von diesen Standpunkten gehören vornehmlich der Periode eschatologischer Erwartung an, sind aber auch später immer erneut gelegentlich hervorgetreten. Ueber den zuletzt genannten Standpunkt ist das antike Christentum auch nach seiner Anerkennung als Staatsreligion prinzipiell nicht wirklich hinausgekommen. Die große Wandlung in den Beziehungen zum Staat vollzieht sich vielmehr erst in der mittelalterlichen Kirche, wie es Troeltschs Untersuchungen glänzend beleuchtet haben. Das Problem aber, in welchem sich das Christentum dabei befand, gehört zwar nicht ausschließlich ihm an, ist aber teils aus innerreligiösen, teils aus außerreligiösen Gründen nur in ihm zu derartig konsequenter Problematik gediehen. Es handelt sich um die Stellung des sogenannten »Naturrechts«: einerseits zur religiösen Offenbarung, andererseits zu den positiven politischen Gebilden und ihrem Gebaren. Wir werden darauf teils gelegentlich der Erörterung der religiösen Gemeinschaftsformen, teils bei Besprechung der Herrschaftsformen noch kurz einzugehen haben. Prinzipiell ist hier nur über die Art der Lösung für die individuelle Ethik zu sagen: Das allgemeine Schema, nach welchem eine Religion, wenn sie in einem politischen Verbande die vorherrschende, von ihm privilegierte, und namentlich dann, wenn sie eine Religiosität der Anstaltsgnade ist, die Spannungen zwischen religiöser Ethik und den anethischen oder antiethischen Anforderungen des Lebens in der staatlichen und ökonomischen Gewaltordnung der Welt zu lösen pflegt, ist die Relativierung und Differenzierung der Ethik in Form der »organischen« (im Gegensatz zur asketischen) Berufsethik. Teils nimmt sie, wie z.B. Thomas von Aquino im Gegensatz – wie Troeltsch mit Recht betont – zur stoischen antik-christlichen Lehre vom goldenen Zeitalter und seligen Urstand der allgemeinen anarchischen Gleichheit der Menschen, die schon dem animistischen Seelen- und Jenseitsglauben vielfach geläufige Vorstellung von der natürlichen, auch von allen Folgen der Sünde abgesehen, rein kreatürlichen Verschiedenheit der Menschen auf, welche ständische Unterschiede des Diesseits- und Jenseitsschicksals bedingt. Daneben aber deduziert sie die Gewaltverhältnisse des Lebens metaphysisch. Entweder kraft Erbsünde oder kraft individueller Karmankausalität oder kraft dualistisch motivierten Weltverderbs sind die Menschen verurteilt, Gewalt, Mühsal, Leiden, Lieblosigkeit zu ertragen, insbesondere auch die Unterschiede der ständischen und Klassenlage. Providentiell sind nun die Berufe oder Kasten derart eingerichtet, daß jedem von ihnen seine spezifische unentbehrliche, gottgewollte oder von der unpersönlichen Weltordnung vorgeschriebene Aufgabe zufällt und damit für jeden andere ethische Anforderungen gelten. Sie gleichen den einzelnen Teilen eines Organismus. Menschliche Gewaltverhältnisse, die sich daraus ergeben, sind gottgewollte Autori tätsbeziehungen, und die Auflehnung dagegen oder die Erhebung anderer Lebensansprüche, als sie der ständischen Rangfolge entsprechen, [ist] gottwidriger und die heilige Tradition verletzender kreatürlicher Hochmut. Innerhalb dieser organischen Ordnung ist den Virtuosen der Religiosität, seien sie asketischen oder kontemplativen Charakters, ebenso ihre spezifische Aufgabe: die Schaffung des Thesaurus der überschüssigen guten Werke, aus dem die Anstaltsgnade spendet, zugewiesen, ebenso wie den Fürsten, Kriegern und Richtern, dem Handwerk und den Bauern ihre besonderen Funktionen. Durch Unterwerfung unter die offenbarte Wahrheit und rechte Liebesgesinnung erwirbt gerade innerhalb dieser Ordnungen der Einzelne diesseitiges Glück und jenseitigen Lohn. Für den Islâm war diese »organische« Konzeption und die ganze Problematik weit fernliegender, weil er, auf Universalismus verzichtend, die ideale ständische Schichtung der Welt als eine solche in herrschende Gläubige und [in] ungläubige, den Gläubigen den Unterhalt reichende, im übrigen aber in der Art der Regulierung ihrer religiös ganz indifferenten eigenen Lebensverhältnisse ganz und gar sich selbst überlassene, Pariavölker konzipierte. Hier gibt es wohl den Konflikt mystischer Heilssuche und asketischer Virtuosenreligiosität mit der Anstaltsorthodoxie, ferner den überall, wo positive heilige Rechtsnormen bestehen, entstehenden Konflikt heiligen[360] und profanen Rechts und Fragen der Orthodoxie in der theokratischen Verfassung, aber nicht das grundsätzlich letzte religiös naturrechtliche Problem der Beziehung zwischen religiöser Ethik und weltlicher Ordnung überhaupt. Dagegen statuieren die indischen Rechtsbücher die organisch traditionalistische Berufsethik im Schema ähnlich, nur konsequenter als die mittelalterlich katholische Lehre und vollends als die höchst dürftige lutherische Doktrin vom status ecclesiasticus, politicus und oeconomicus. Und in der Tat ist die ständische Ordnung in Indien, wie wir früher sahen, gerade als Kastenethik mit einer spezifischen Erlösungslehre vereinigt: der Chance des immer weiteren Aufstiegs in einem künftigen Erdenleben eben durch die Erfüllung der, sei es auch sozial noch so verachteten, Pflichten der eigenen Kaste. Sie hat dadurch am radikalsten im Sinne der Akzeptierung der irdischen Ordnung, und zwar gerade bei den niedrigsten Kasten, gewirkt, welche bei der Seelenwanderung am meisten zu gewinnen haben. Die christlich-mittelalterliche Perpetuierung der ständischen Unterschiede des kurzen Erdendaseins in eine zeitlich »ewige« jenseitige Existenz hinein dagegen – wie sie etwa Beatrice im Paradiso erläutert – würde der indischen Theodizee absurd erschienen sein und nimmt dem strikten Traditionalismus der organischen Berufsethik ja in der Tat gerade alle unbegrenzten Zukunftshoffnungen des an die Seelenwanderung und also die Möglichkeit stets weiter gehobener irdischer Existenz glaubenden frommen Hindu. Ihre Wirkung ist daher, auch rein religiös angesehen, in weit unsichererem Maße eine Stütze der traditionellen Berufsgliederung gewesen als die eisenfeste Verankerung der Kaste an andersartigen Verheißungen der Seelenwanderungslehre. Ueberdies aber ruhte die mittelalterliche wie die lutherische traditionalistische Berufsethik auch rein faktisch auf einer zunehmend schwindenden allgemeinen Voraussetzung, welche beiden mit der konfuzianischen Ethik gemeinsam ist: dem rein personalistischen Charakter ebenso der ökonomischen wie der politischen Gewaltverhältnisse, bei welchem die Justiz und vor allem die Verwaltung ein Kosmos des Sichauswirkens persönlicher Unterwerfungsverhältnisse ist, beherrscht durch Willkür und Gnade, Zorn und Liebe, vor allem aber durch gegenseitige Pietät des Herrschenden und Unterworfenen nach Art der Familie. Ein Charakter der Gewaltbeziehungen also, an welche man ethische Postulate in dem gleichen Sinn stellen kann wie an jede andere rein persönliche Beziehung. Aber nicht nur die »herrenlose Sklaverei« (Wagner) des modernen Proletariats, sondern vor allem der Kosmos der rationalen Staatsanstalt, des von der Romantik perhorreszierten »Rackers von Staat«, hat absolut nicht mehr diesen Charakter, wie wir s. Zt. zu erörtern haben werden. Daß man nach Ansehen der Person verschieden verfahren müsse, versteht sich der personalistischen ständischen Ordnung von selbst, und nur in welchem Sinn wird gelegentlich, auch bei Thomas von Aquino, zum Problem. »Ohne Ansehen der Person«, »sine ira et studio«, ohne Haß und deshalb ohne Liebe, ohne Willkür und deshalb ohne Gnade, als sachliche Berufspflicht und nicht kraft konkreter persönlicher Beziehung erledigt der homo politicus ganz ebenso wie der homo oeconomicus heute seine Aufgabe gerade dann, wenn er sie in idealstem Maße im Sinn der rationalen Regeln der modernen Gewaltordnung vollzieht. Nicht aus persönlichem Zorn oder Rachebedürfnis, sondern persönlich ganz unbeteiligt und um sachlicher Normen und Zwecke willen bringt die moderne Justiz den Verbrecher vom Leben zum Tode, einfach kraft ihrer immanenten rationalen Eigengesetzlichkeit, etwa wie die unpersönliche Karmanvergeltung im Gegensatz zu Jahves wildem Rachedurst. Zunehmend versachlicht sich die innerpolitische Gewaltsamkeit zur »Rechtsstaatsordnung«, – religiös angesehen nur der wirksamsten Art von Mimikry der Brutalität. Die gesamte Politik aber orientiert sich an der sachlichen Staatsräson, der Pragmatik und dem absoluten – religiös angesehen fast unvermeidlich völlig sinnlos erscheinenden – Selbstzweck der Erhaltung der äußeren und inneren Gewaltverteilung. Erst damit gewinnt sie einen Aspekt und ein eigentümlich rationales, von Napoleon gelegentlich glänzend formuliertes fabulistisches Eigenpathos, das[361] jeglicher Brüderlichkeitsethik als in der Wurzel ebenso fremd erscheinen wird, wie die rationalen ökonomischen Ordnungen. – Die Anpassungen nun, welche die heutige kirchliche Ethik dieser Situation gegenüber vornimmt, sind hier nicht näher zu schildern. Im wesentlichen bedeuten sie ein Sichabfinden damit von Fall zu Fall und, namentlich soweit die katholische Kirche in Betracht kommt, vor allem eine Salvierung der eigenen, ebenfalls zunehmend zur »Kirchenräson« versachlichten priesterlichen Machtinteressen mit den gleichen und ähnlichen modernen Mitteln, wie sie das weltliche Machtstreben benützt. Wirklich innerlich adäquat ist der Versachlichung der Gewaltherrschaft – mit ihren rationalen ethischen Vorbehalten, in welchen die Problematik steckt – nur die Berufsethik der innerweltlichen Askese. Zu den tatsächlichen Folgen der Gewaltsamkeitsrationalisierung aber, die, in verschieden starkem Grade und auch in der Art unterschiedlich sich äußernd, überall da aufzutreten pflegten, wo jene Hinwegentwicklung der Gewaltsamkeit von der personalistischen Helden- und Gesellschaftsgesinnung zum rationalen »Staat« sich entfaltete, gehört die gesteigerte Flucht in die Irrationalitä ten des apolitischen Gefühls. Entweder in die Mystik und akosmistische Ethik der absoluten »Güte« oder in die Irrationalitäten der außerreligiösen Gefühlssphäre, vor allem der Erotik. Mit den Mächten dieser letzteren Sphäre geraten nun aber die Erlösungsreligionen gleichfalls in spezifische Spannungen. Vor allem mit der gewaltigsten Macht unter ihnen, der geschlechtlichen Liebe, der neben den »wahren« oder ökonomischen und den sozialen Macht- und Prestigeinteressen universellsten Grundkomponente des tatsächlichen Ablaufes menschlichen Gemeinschaftshandelns.

Die Beziehungen der Religiosität zur Sexualität sind, teils bewußt, teils unbewußt, teils direkt, teils indirekt, ganz außerordentlich intime. Wir lassen die zahllosen Zusammenhänge magischer und animistischer Vorstellungen und Symboliken, bei denen solche bestehen, als für uns unwichtig beiseite und halten uns an ganz wenige soziologisch relevante Züge. Zunächst ist der sexuelle Rausch in typischer Art Bestandteil des primitiven religiösen Gemeinschaftshandelns des Laien: der Orgie. Er behält diese Funktion auch in relativ systematisierter Religiosität gelegentlich ganz direkt und beabsichtigt. So bei der Saktireligiosität in Indien noch fast nach Art der alten Phalluskulte und Riten der die Zeugung (der Menschen, des Viehs, des Samenkorns) beherrschenden, sehr verschiedenen Funktionsgottheiten. Teils und häufiger aber ist die erotische Orgie wesentlich ungewollte Folgeerscheinung der durch andere orgiastische Mittel, namentlich Tanz, erzeugten Ekstase. So von modernen Sekten noch bei der Tanzorgiastik der Chlysten, – was, wie wir sahen, die Veranlassung zur Bildung der Skopzensekte gab, die eben diese askesefeindliche Konsequenz auszuschalten trachtete. Gewisse, viel mißdeutete Institutionen, so namentlich die Tempelprostitution, knüpfen an orgiastische Kulte an. In ihrer praktischen Funktion hat die Tempelprostitution dann sehr häufig die Rolle eines Bordells für die reisenden, sakral geschützten Kaufleute angenommen, die ja auch heute der Natur der Sache nach überall typisches Bordellpublikum sind. Die Zurückführung der sexuellen außeralltäglichen Orgiastik auf eine endogame Sippen- oder Stammes-»Promiskuität« als eigentlich primitive Institution des Alltags ist schlechthin töricht.

Die sexuelle Rauschorgie kann nun, wie wir sahen, zur, ausgesprochen oder unausgesprochen, erotischen Gottes- oder Heilandsliebe sublimiert werden. Es können aber auch aus ihr und daneben aus magischen Vorstellungen anderer Art oder aus der Tempelprostitution religiöse Verdienstlichkeiten der sexuellen Selbstpreisgabe herauswachsen, die uns hier nicht interessieren. Andererseits ist aber zweifellos, daß auch ein erheblicher Bruchteil gerade der antierotischen mystischen und asketischen Religiositäten eine stellvertretende Befriedigung sexual bedingter physiologischer Bedürfnisse darstellt. Indessen interessieren uns an der religiösen Sexualfeindschaft nicht die in wichtigen Punkten noch ziemlich strittigen neurologischen, sondern für unsere Zwecke die »sinnhaften« Zusammenhänge. Denn der »Sinn«,[362] welcher in die sexualfeindliche Haltung hineingedeutet wird, kann bei neurologisch gänzlich gleicher Lage sehr erhebliche praktische Verschiedenheiten des Verhaltens zur Konsequenz haben, die uns hier übrigens auch nur zum Teil angehen. Ihre begrenzteste Form: die lediglich kultische Keuschheit, also eine zeitweilige Abstinenz der fungierenden Priester oder auch der Kultteilnehmer als Vorbedingung der Sakramentsspendung, hängt wohl vornehmlich in mannigfacher Art mit Tabunormen zusammen, denen aus magischen und deisidämonischen, im einzelnen hier nicht interessierenden Motiven die Sexualsphäre unterworfen wird. Die charismatische Keuschheitsaskese der Priester und Religionsvirtuosen dagegen, also die dauernde Abstinenz, geht wohl vornehmlich von der Vorstellung aus, daß die Keuschheit als ein höchst außeralltägliches Verhalten teils Symptom von charismatischen, teils Quelle von ekstatischen Qualitäten sei, welche ihrerseits als Mittel magischen Gotteszwangs verwertet werden. Später, speziell im Christentum des Abendlandes, ist dann für das Priesterzölibat wesentlich einerseits die Notwendigkeit, die ethische Leistung der Amtsträger nicht hinter den asketischen Virtuosen (Mönche) zurückstehen zu lassen, andererseits aber das hierarchische Interesse an der Vermeidung des faktischen Erblichwerdens der Pfründe maßgebend gewesen. Auf der Stufe der ethischen Religiosität entwickeln sich nun an Stelle der verschiedenen Arten magischer Motive zwei andere typische sinnhafte Beziehungen der Sexualfeindschaft. Entweder gilt die sexuelle Abstinenz als zentrales und unentbehrliches Mittel mystischer Heilssuche durch kontemplative Abscheidung von der Welt, deren intensivste Versuchung eben dieser stärkste, an das Kreatürliche bindende Trieb darstelle: Standpunkt der mystischen Weltflucht. Oder die asketische Annahme: daß die rationale asketische Wachheit, Beherrschtheit und Lebensmethodik durch die spezifische Irrationalität dieses einzigen, wenigstens in seiner letzten Gestalt niemals rational formbaren Aktes am meisten gefährdet werde. Oft natürlich durch beides motiviert. Allein auch ausnahmslos alle eigentlichen Prophetien und auch die unprophetischen priesterlichen Systematisierungen befassen sich aus solchen Motiven mit den Sexualbeziehungen und zwar durchweg im gleichen Sinn: zunächst Beseitigung der sexuellen Orgie (der »Hurerei« der jüdischen Priester) – wie dies der erörterten allgemeinen Stellung speziell der Prophetien zur Orgiastik entspricht –, aber weiterhin auch Beseitigung der freien Sexualbeziehungen überhaupt zugunsten reglementierter und sakral legitimierter »Ehe«. Dies gilt selbst für einen Propheten, der persönlich und in der Art seiner Jenseitsverheißungen an die Glaubenskrieger der sexuellen Sinnlichkeit so rücksichtslos Raum gab wie Muhammed (welcher sich für seine Person bekanntlich durch eine eigene Sûre von der sonst gültigen Maximalzahl von Weibern dispensieren ließ). Die bis dahin legalen Formen eheloser Liebe und die Prostitution sind im orthodoxen Islâm mit einem bis heute sonst kaum zu findenden durchschlagenden Erfolge proskribiert. Für die christliche und indische außerweltliche Askese versteht sich die ablehnende Stellung von selbst. Die mystischen indischen Prophetien der absoluten kontemplativen Weltflucht lehnen natürlich als Voraussetzung der vollen Erlösung jede Sexualbeziehung ab. Aber auch der konfuzianischen Ethik der absoluten Weltanpassung gilt die irreguläre Erotik als minderwertige Irrationalität, weil sie die innere Contenance des Gentleman stört und das Weib ein irrationales, schwer zu regierendes Wesen ist. Der mosaische Dekalog wie die hinduistischen heiligen Rechte und die relativistischen Laienethiken der indischen Mönchsprophetien verpönen den Ehebruch, und die Prophetie Jesu geht mit der Forderung der absoluten und unlöslichen Monogamie in der Einschränkung der zulässigen legitimen Sexualität über alle anderen hinaus; Ehebruch und Hurerei gelten im frühesten Christentum fast als die einzige absolute Todsünde, die »Univira« als ein Spezifikum der Christengemeinde innerhalb der durch Hellenen und Römer zwar zur Monogamie, aber mit freier Scheidung, erzogenen mittelländischen Antike. Die persönliche Stellung zur Frau und dieser in der Gemeinde ist bei den Propheten naturgemäß sehr verschieden, je nach dem Charakter ihrer Prophetie, insbesondere[363] je nachdem diese spezifisch femininer Emotionalität entspricht. Dadurch freilich, daß der Prophet (auch Buddha) geistreiche Frauen gern zu seinen Füßen sieht und als Propagandistinnen ausnützt (wie Pythagoras), ist allein noch nichts für die Stellung der Gattung getan. Das individuelle Weib ist dann »heilig«, die Gattung Gefäß der Sünde. Immerhin: fast alle orgiastische und Mystagogenpropaganda einschließlich der des Dionysos hat wenigstens temporär und relativ eine »Emanzipation« der Frauen befördert, wo nicht andere Religionstendenzen und die Ablehnung hysterischer Frauenprophetie sie überdeckten, wie bei den Jüngern Buddhas, ebenso wie im Christentum schon bei Paulus, oder mönchische Weiberfurcht, wie am extremsten bei Sexualneurasthenikern, z.B. Alfons von Liguori. Am stärksten ist die Bedeutung der Frauen in pneumatischen (hysterischen oder sakramentalen), wie z.B. auch manchen chinesischen, Sektenkulten. Wo ihre Bedeutung für die Propaganda ganz fehlt, wie bei Zarathustra und in Israel, ist die Lage von vornherein anders. Die legal reglementierte Ehe selbst gilt der prophetischen und priesterlichen Ethik durchweg, übrigens durchaus in Uebereinstimmung mit der hellenischen, römischen und überhaupt mit allen sich selbst darüber Rechenschaft gebenden Ethiken der Erde, nicht als »erotischer« Wert, sondern in Anknüpfung an die nüchterne Auffassung der sog. »Naturvölker« lediglich als eine ökonomische Institution zur Erzeugung und Aufzucht von Kindern als Arbeitskräften und Trägern des Totenkults. Die altjüdische Motivierung der Freiheit des jungen Ehemanns von politischen Pflichten: daß er seiner jungen Liebe froh werden solle, steht sehr vereinsamt. Der alttestamentliche Fluch über die Sünde Onans (coitus interruptus), den die katholische Perhorreszierung der sterilisierten Begattung als Todsünde übernahm, zeigt, daß auch im Judentum keine Konzessionen an die in bezug auf die Folgen rational von jenem Sinn losgelöste Erotik gemacht wurden. Daß die Beschränkung des legitimen Geschlechtslebens auf jenen rationalen Zweck der Standpunkt jeder innerweltlichen Askese ist, vor allem des Puritanismus, versteht sich von selbst. Auf seiten der Mystik andererseits haben die anomisti schen und halborgiastischen Konsequenzen, zu welchen ihr akosmistisches Liebesgefühl sie unter Umständen führen kann, die Eindeutigkeit nur gelegentlich verschoben. Die wertende Stellungnahme der prophetischen und auch der priesterlich rationalen Ethik zum (legitimen und normalen) Geschlechtsverkehr rein als solchen endlich, also die letzte Beziehung zwischen Religiösem und Organischem, ist nicht eindeutig. Wenn im Konfuzianismus wie im alten Judentum teils animistische, teils ihnen nachgebildete, sehr universell (auch in der vedischen und hinduistischen Ethik) verbreitete Vorstellungen von der Bedeutung der Nachkommenschaft ein direktes Gebot der Kinderzeugung zur Folge hatten, so ist dagegen das gleiche positive Ehegebot schon im talmudischen Judentum, ebenfalls im Islâm, wenigstens teilweise ebenso motiviert wie der Ausschluß der ehelosen Ordinierten von den (niederen) Pfarrpfründen in den orientalischen Kirchen, nämlich durch die Vorstellung von der absoluten Unüberwindlichkeit des Geschlechtstriebs für den Durchschnittsmenschen, dem daher ein legitim reglementierter Kanal geöffnet werden müsse. Diesem Standpunkt entspricht nicht nur die Relativierung der Laienethik der indischen kontemplativen Erlösungsreligionen mit ihrem Ehebruchsverbot für die Upāsakas, sondern auch der Standpunkt des Paulus, dem die, bei ihm auch aus einer hier nicht interessierenden mystischen Motivierung gefolgerte, Würde der absoluten Abstinenz als ein rein persönliches Charisma der religiösen Virtuosen gilt, ebenso diejenige der Laienethik des Katholizismus. Es ist aber auch der Standpunkt Luthers, der die innereheliche Sexualität letztlich doch nur als das geringere Uebel zur Vermeidung der Hurerei ansah und die Notwendigkeit für Gott, dieser Art von legitimer Sünde »durch die Finger zu sehen«, als eine Folge der durch die Erbsünde geschaffenen absoluten Unüberwindlichkeit der Konkupiszenz, – eine Annahme, die zum Teil seinen, demjenigen Muhammeds ähnlichen, zunächst nur relativ ablehnenden, Standpunkt gegenüber dem Mönchtum erklärt. Im Gottesreiche Jesu,[364] wohlgemerkt: einem irdischen Zukunftsreich, gibt es keine Sexualität, und alle offizielle christliche Theorie hat gerade die innere, gefühlsmäßige Seite aller Sexualität als »Konkupiszenz« und Folge des Sündenfalls perhorresziert.

Dem immer noch verbreiteten Glauben, daß dies eine Spezialität des Christentums sei, steht die Tatsache gegenüber, daß es keinerlei spezifische Erlösungsreligiosität gibt, deren Standpunkt prinzipiell ein anderer wäre. Dies aber erklärt sich aus einer Anzahl ganz allgemeiner Ursachen. Zunächst aus der Art der Entwicklung, welche durch Rationalisierung der Lebensbedingungen die Sexualsphäre innerhalb des Lebens selbst zunehmend einnimmt. Auf der Stufe des Bauern ist der Geschlechtsakt ein Alltagsvorgang, der bei vielen Naturvölkern weder die geringsten Schamgefühle zuschauenden Reisenden gegenüber noch irgendwelchen als überalltäglich empfundenen Gehalt in sich schließt. Die für unsere Problematik entscheidende Entwicklung ist nun, daß die Geschlechtssphäre zur Grundlage spezifischer Sensationen, zur »Erotik« sublimiert, damit eigenwertgesättigt und außeralltäglich wird. Die beiden erheblichsten Momente, welche dahin wirken, sind einerseits die durch ökonomische Sippeninteressen und weiterhin durch ständische Konventionen zunehmend eingeschalteten Hemmungen für den Geschlechtsverkehr, der zwar auf gar keiner bekannten Stufe der Entwicklung von sakraler und ökonomischer Reglementierung frei ist, aber ursprünglich meist weniger mit den, an die ökonomischen sich allmählich angliedernden, konventionellen Schranken umgeben wird, die ihm später spezifisch sind. Der Einfluß speziell der modernen »ethischen« Schranken als angeblicher Quelle der Prostitution ist freilich fast immer falsch eingeschätzt worden. Gewerbliche »Prostitution«, heterosexuelle und auch homosexuelle (Abrichtung von Tribaden) findet sich, da irgendeine sakrale oder militärische oder ökonomisch bedingte Schranke nirgends fehlt, auch auf den primitivsten Kulturstufen. Nur ihre absolute Proskribierung datiert erst vom Ende des 15. Jahrhunderts. Aber die Ansprüche der Sippe für die Sicherung der Kinder des Mädchens und die Lebenshaltungsansprüche der jungen Eheleute selbst steigen mit raffinierter Kultur fortwährend. Damit tritt ein weiteres Entwicklungselement immer mehr hervor. Denn weit tiefer noch, wenn auch weit weniger bemerkt, wirkt auf die Beziehung zur Ethik das Heraustreten des zunehmend rationalisierten Gesamtdaseinsinhalts des Menschen aus dem organischen Kreislauf des einfachen bäuerlichen Daseins.

Wie zu der stärksten irrationalen Macht des persönlichen Lebens gerät nun die ethische, speziell die Brüderlichkeitsreligiosität auch zur Sphäre der Kunst in tiefe innere Spannung. Die ursprüngliche Beziehung beider zueinander ist freilich die denkbar intimste. Idole und Ikonen aller Art, die Musik als Mittel der Ekstase oder des Exorzismus oder apotropäischer Kulthandlungen, als heilige Sänger, als Zauberer, die Tempel und Kirchen als größte künstlerische Bauten, die Paramente und Kirchengeräte aller Art als Hauptobjekte der kunstgewerblichen Arbeit machen die Religion zu einer unerschöpflichen Quelle künstlerischer Entfaltungsmöglichkeit. Je mehr aber die Kunst als eine eigengesetzliche Sphäre sich konstituiert, – ein Produkt der Laienbildung, – desto mehr pflegt sie gegenüber den religiös-ethischen ganz disparaten Rangordnungen der Werte, welche damit konstituiert werden, hervorzutreten. Alle unbefangene rezeptive Stellung zur Kunst geht zunächst von der Bedeutsamkeit des Inhalts aus und dieser kann Gemeinschaft stiften. Das spezifisch Künstlerische überhaupt bewußt zu entdecken, ist intellektualistischer Zivilisation vorbehalten. Eben damit aber schwindet das Gemeinschaftstiftende der Kunst ebenso wie ihre Verträglichkeit mit dem religiösen Erlösungswillen. Nicht nur wird dann jene innerweltliche Erlösung, welche die Kunst nur rein als Kunst zu geben beansprucht, als widergöttlich und jeder Erlösung von der ethischen Irrationalität der Welt feindlich von der ethischen Religiosität ebenso wie von der echten Mystik perhorresziert und ist vollends der eigentlichen Askese jede Hingabe an künstlerische Werte rein als solche eine bedenkliche Verletzung der[365] rationalen Systematisierung der Lebensführung. Sondern noch mehr steigert sich die Spannung mit Zunahme der dem Intellektualismus eigenen, der ästhetischen nachgebildeten Haltung in ethischen Dingen. Die Ablehnung der Verantwortung für ein ethisches Urteil und die Scheu vor dem Schein beschränkter Traditionsgebundenheit, wie sie intellektualistische Zeitalter hervorbringen, veranlaßt dazu, ethisch gemeinte in ästhetisch ausgedeutete Urteile umzuformen (in typischer Form: »geschmacklos« statt »verwerflich«). Aber die subjektivistische Inappella bilität jedes Geschmacksurteils über menschliche Beziehungen, wie es in der Tat der Kultus des Aesthetentums anzuerziehen pflegt – im Gegensatz zur religiös-ethischen Norm, der sich der Einzelne, ethisch ablehnend, aber im Wissen von der eigenen Kreatürlichkeit menschlich miterlebend, für sich selbst ebenso unterstellt wie denjenigen, dessen Tun er im Einzelfall beurteilt, und deren Berechtigung und Konsequenzen vor allem dem Prinzip nach diskussionsfähig erscheinen –, kann von der Religiosität sehr wohl als eine tiefste Form von spezifischer Lieblosigkeit, verbunden mit Feigheit, angesehen werden. Jedenfalls bereitet der ästhetischen Stellungnahme als solcher die konsequente Brüderlichkeitsethik, welche ihrerseits stets direkt antiästhetisch orientiert ist, keine Stätte und umgekehrt gilt das gleiche.

Die so bedingte religiöse Entwertung der Kunst geht naturgemäß im ganzen ziemlich genau parallel mit der Entwertung der magischen, orgiastischen, ekstatischen und ritualistischen Elemente der Religiosität zugunsten von asketischen und spiritualistisch-mystischen. Ferner mit dem rationalen und literarischen Charakter der Priester- und Laienbildung, wie ihn eine Buchreligion stets nach sich zu ziehen pflegt. Vor allem aber wirkt bei der eigentlichen Prophetie zweierlei in antiästhetischer Richtung. Einmal die ihr stets selbstverständliche Ablehnung der Orgiastik und, meist, der Magie. Die ursprünglich magisch bedingt gewesene jüdische Scheu vor dem »Bildnis und Gleichnis« deutet die Prophetie spiritualistisch aus ihrem absolut überweltlichen Gottesbegriff heraus um. Und irgendwann zeigt sich dann die Spannung der zentral ethisch religiösen Orientierung der prophetischen Religion gegen das »Menschenwerk«, die aus dessen, vom Propheten aus gesehen, Scheinerlösungsleistung folgt. Die Spannung ist um so unversöhnlicher, je überweltlicher und gleichzeitig je heiliger der prophetisch verkündete Gott vorgestellt wird.

Auf der anderen Seite findet sich die Religiosität immer wieder vor die Empfindung der unablehnbaren »Göttlichkeit« künstlerischer Leistungen gestellt und gerade die Massenreligion ist auf »künstlerische« Mittel für die erforderliche Drastik ihrer Wirkungen immer wieder direkt hingewiesen und zu Konzessionen an die überall magisch-idolatrischen Massenbedürfnisse geneigt. Ganz abgesehen davon, daß eine organisierte Massenreligiosität nicht selten mit der Kunst durch ökonomische Interessen eng verknüpft ist, wie z.B. bei dem Ikonenhandel der byzantinischen Mönche, welche Gegner der, auf das bilderstürmerische, weil aus den Grenzprovinzen des damals noch streng spiritualistischen Islâm rekrutierte Heer gestützten, cäsaropapistischen Kaisergewalt waren, während diese ihrerseits umgekehrt gerade durch Abschneidung dieser Verdienstquelle diesem gefährlichsten Gegner ihrer Kirchenherrschaftspläne die Existenz untergraben wollte. Und innerlich führt von jeder orgiastischen oder ritualistischen Stimmungsreligiosität, aber auch von der auf mystische Sprengung der Individuation ausgehenden Liebesreligiosität bei aller Heterogenität des letztlich gemeinten »Sinnes« psychologisch der Weg äußerst leicht zur Kunst zurück; von der ersteren besonders zu Sang und Musik, von der zweiten zur bildenden Kunst, von der letzten zur Lyrik und Musik. Alle Erfahrungen, von der indischen Literatur und Kunst und den weltoffenen sangesfrohen Sufis bis zu den Liedern des Franziskus und den unermeßlichen Einflüssen religiöser Symbolik und gerade mystisch bedingter Stimmungen, zeigen diesen Zusammenhang. Aber nicht nur die einzelnen Formen der empirischen Religiosität verhalten sich grundverschieden zur Kunst, sondern innerhalb jeder auch deren verschiedene[366] Strukturformen, Schichten und Träger: Propheten anders als Mystagogen und Priester, Mönche anders als fromme Laien, Massenreligionen anders als Virtuosensekten, und von diesen die asketischen sehr anders und zwar im Effekt naturgemäß prinzipiell kunstfeindlicher als die mystischen. Dies gehört nicht mehr in unseren Zusammenhang. Ein wirklicher innerer Ausgleich religiöser und künstlerischer Stellungnahme aber, dem letzten (subjektiv gemeinten) Sinne nach, wird allerdings zunehmend erschwert, wo immer das Stadium der Magie oder des reinen Ritualismus endgültig verlassen ist.

Für uns ist nur wichtig die Bedeutung der Ablehnung aller eigentlich künstlerischen Mittel durch bestimmte, in diesem Sinn spezifisch rationale Religionen, in starkem Maße im Synagogengottesdienst und dem alten Christentum, dann wieder im asketischen Protestantismus. Sie ist, je nachdem, Symptom oder Mittel der Steigerung des rationalisierenden Einflusses einer Religiosität auf die Lebensführung. Daß das zweite Gebot geradezu die entscheidende Ursache des jüdischen Rationalismus sei, wie manche Vertreter einflußreicher jüdischer Reformbewegungen annehmen, geht wohl zu weit. Daß aber die systematische Verdammung aller unbefangenen Hingabe an die eigentlichen Formungswerte der Kunst, deren Wirksamkeit ja durch Maß und Art der Kunstproduktivität der frommen jüdischen und puritanischen Kreise genügend belegt ist, in der Richtung intellektualistischer und rationaler Lebensmethodik wirken muß, ist andererseits nicht im mindesten zu bezweifeln.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 348-367.
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