§ 12. Die Kulturreligionen und die »Welt«.

[367] Weltzugewandtheit des Judentums S. 367. – Verhalten von Katholiken, Juden, Puritanern zum Erwerbsleben S. 370. – Gesetzesreligiosität und Traditionalismus im Judentum S. 372. – Juden und Puritaner S. 373. – Weltangepaßtheit des Islâm S. 375. – Weltflüchtigkeit des alten Buddhismus S. 377. – Die Kulturreligionen und der Kapitalismus S. 378. – Das weltablehnende Frühchristentum S. 379.


Die dritte in gewissem Sinn »weltangepaßte«, jedenfalls aber »weltzugewendete«, nicht die »Welt«, sondern nur die geltende soziale Rangordnung in ihr ablehnende Religion ist das Judentum in seiner uns hier allein angehenden nachexilischen, vor allem talmudischen Form, über deren soziologische Gesamtstellung bereits früher einiges gesagt wurde. Seine Verheißungen sind, dem gemeinten Sinn nach, Diesseitsverheißungen, und kontemplative oder asketische Weltflucht ist ihm in ähnlicher Art wie der chinesischen Religiosität und dem Protestantismus nur als Ausnahmeerscheinung bekannt. Vom Puritanismus unterscheidet es sich durch das (wie immer: relative) Fehlen systematischer Askese überhaupt. Die »asketischen« Elemente der frühchristlichen Religiosität entstammen nicht etwa dem Judentum, sondern finden sich gerade in den heidenchristlichen Gemeinden der Paulusmission. Die Erfüllung des jüdischen »Gesetzes« ist sowenig »Askese« wie die Erfüllung irgendwelcher Ritual- und Tabunormen. Die Beziehung der jüdischen Religiosität zum Reichtum einerseits, zum Sexualleben andererseits ist nicht im mindesten asketisch, vielmehr höchst naturalistisch. Reichtum ist eine Gabe Gottes, die Befriedigung des Sexualtriebs, natürlich in legaler Form, ist geradezu unabweislich, so sehr, daß der nach einem bestimmten Lebensalter Nichtverehelichte dem Talmud direkt als moralisch verdächtig gilt. Die Auffassung der Ehe als bloß ökonomischer, der Erzeugung und Aufzucht von Kindern bestimmten Einrichtung ist an sich nichts spezifisch Jüdisches, sondern universell. Daß der nicht legale Geschlechtsverkehr strikt (und innerhalb der frommen Kreise höchst wirksam) verpönt ist, teilt das Judentum mit dem Islâm und allen prophetischen Religionen, außerdem mit dem Hinduismus, die Reinigungsschonzeiten mit der Mehrzahl der ritualistischen Religionen, so daß von einer spezifischen Bedeutung der Sexualaskese nicht gesprochen werden darf. Die von Sombart zitierten Reglementierungen reichen nicht an die katholische Kasuistik des 17. Jahrhunderts heran und finden in manchen anderen Tabukasuistiken Analogien. Unbefangener Lebensgenuß,[367] selbst Luxus, ist an sich nirgends verboten, sofern die positiven Verbote und Tabuierungen des »Gesetzes« dabei innegehalten werden. Das soziale, dem Geist des mosaischen Gesetzes widersprechende Unrecht, welches so oft bei der Erwerbung des Reichtums gegen den jüdischen Volksgenossen begangen wird, und ferner die Versuchung zur Laxheit in der Gesetzestreue, zu hoffärtiger Verachtung der Gebote und damit der Verheißungen Jahves sind es, was den Reichtum bei den Propheten, in den Psalmen, in der Spruchweisheit und später als etwas sehr leicht Bedenkliches erscheinen läßt. Es ist nicht leicht, den Versuchungen des Reichtums zu entgehen, aber eben deshalb um so verdienstlicher: »Heil dem Reichen, der unsträflich erfunden wird«. Da der Prädestinationsgedanke oder entsprechend wirkende Vorstellungen fehlen, so kann die rastlose Arbeit und der Erfolg im Erwerbsleben andererseits auch nicht in dem Sinn als Zeichen der »Bewährung« gewertet werden, wie dies am stärksten den calvinistischen Puritanern, in gewissem Maße aber (wie z.B. John Wesleys Bemerkung darüber zeigt) allem asketischen Protestantismus eigen war. Immerhin liegt der Gedanke, in erfolgreichem Erwerb ein Zeichen gnädiger göttlicher Fügung zu erblicken, selbstverständlich der jüdischen Religiosität nicht nur ebenso nahe, wie etwa der chinesischen, laien-buddhistischen und überhaupt jeder nicht weltablehnenden Religiosität der Welt, sondern noch wesentlich näher in einer Religion, welche sehr spezifische Verheißungen eines überweltlichen Gottes, in Verbindung mit sehr sichtbaren Zeichen seines Zornes über das doch von ihm selbst erwählte Volk vor sich hatte. Es ist klar, daß die Bedeutung des, unter Innehaltung der Gebote Gottes, erreichten Erwerbs in der Tat als Symptom persönlicher Gottwohlgefälligkeit gewertet werden konnte und mußte. Dies ist denn in der Tat auch wieder und wieder geschehen. Aber die Situation für den erwerbenden (frommen) Juden war dennoch eine von der des Puritaners grundsätzlich gänzlich verschiedene, und diese Verschiedenheit ist nicht ohne praktische Wirkungen für die wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung des Judentums geblieben. Zunächst: worin ungefähr bestand diese Bedeutung?

Es hätte in der Polemik gegen Sombarts geistvolles Buch die Tatsache nicht ernstlich bestritten werden sollen: daß das Judentum an der Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in der Neuzeit sehr stark mitbeteiligt gewesen ist. Nur bedarf diese These Sombarts m. E. einer etwas weiteren Präzisierung. Was sind die spezifischen ökonomischen Leistungen des Judentums im Mittelalter und der Neuzeit? Darlehen, vom Pfandleihgeschäft bis zur Finanzierung von Großstaaten, bestimmte Arten des Warenhandels mit sehr starkem Hervortreten des Kleinkram- und Wanderhandels und des spezifisch ländlichen »Pro duktenhandels«, gewisse Teile des Engros- und vor allem der Wertpapierhandel, beide speziell in Form des Börsenhandels, Geldwechsel und die damit üblicherweise zusammenhängenden Geldüberweisungsgeschäfte, Staatslieferungen, Kriegs- und in sehr hervorragendem Maße Kolonialgründungsfinanzierung, Steuerpacht (natürlich außer der Pacht verpönter Steuern, wie der an die Römer), Kredit- und Bankgeschäfte und Emissionsfinanzierungen aller Art. Von diesen Geschäften sind nun dem modernen okzidentalen Kapitalismus (im Gegensatz zu dem der Antike, des Mittelalters, der ostasiatischen Vergangenheit) eigentümlich gewisse (allerdings höchst wichtige) Formen der Geschäfte, rechtliche sowohl wie ökonomische. So, auf der rechtlichen Seite: die Wertpapier-und kapitalistischen Vergesellschaftungsformen. Diese aber sind nicht spezifisch jüdischer Provenienz. Sondern soweit die Juden in spezifischer Art sie im Okzident neu eingeführt haben, sind sie vielleicht gemeinorientalischer (babylonischer) und dadurch vermittelt: hellenistischer und byzantinischer und erst durch dies Medium hindurch jüdischer Herkunft, überdies meist Juden und Arabern gemeinsam. Zum anderen Teil aber sind sie okzidental-mittelalterliche Schöpfungen mit zum Teil sogar spezifisch germanischem Einschlag. Der Nachweis führte hier im einzelnen zu weit. Oekonomisch aber ist z.B. die Börse als »Markt der Kaufleute« nicht von Juden, sondern von christlichen Kaufleuten[368] geschaffen, ist die besondere Art, wie die mittelalterlichen Rechtsformen rationalen Betriebszwecken adaptiert, wie z.B. Kommanditen, Maonen, privilegierte Kompagnien aller Art, schließlich Aktiengesellschaften geschaffen wurden, von spezifisch jüdischem Einfluß nicht abhängig, so sehr später die Juden sich am Gründungsgeschäft beteiligten. Endlich sind die spezifisch neuzeitlichen Prinzipien der öffentlichen und privaten Kreditbedarfsdeckung auf dem Boden der mittelalterlichen Städte zuerst keimhaft entwickelt und dann ist ihre zum Teil gänzlich unjüdische mittelalterliche Rechtsform ökonomisch den Bedürfnissen der modernen Staaten und sonstigen Kreditnehmer angepaßt worden. Aber vor allem: es fehlt in der gewiß großen Liste der jüdischen ökonomischen Betätigung eine Sparte, wenn auch nicht völlig, so doch relativ in auffallendstem Maße, und zwar die dem modernen Kapitalismus gerade eigentümliche: die Organisation der gewerblichen Arbeit in Hausindustrie, Manufaktur, Fabrik. Wie kommt es doch, angesichts des massenhaften Ghettoproletariats in Zeiten, wo für jede Industriegründung fürstliche Patente und Privilegien (gegen entsprechende pekuniäre Leistungen) zu haben waren, und wo auch zunftfreie Betätigungsgebiete für industrielle Neuschöpfungen durchaus hinlänglich zur Verfügung standen, – wie kommt es, daß angesichts alles dessen kein frommer Jude darauf verfiel, mit frommen jüdischen Arbeitskreisen im Ghetto ganz ebenso eine Industrie zu schaffen, wie es so viele fromme puritanische Unternehmer mit frommen christlichen Arbeitern und Handwerkern taten? Und daß auch auf dem Boden breiter notleidender jüdischer Handwerkerschichten noch bis an die Schwelle der neuesten Zeit keine spezifisch moderne, und das heißt: industrielle, jene jüdische Arbeit hausindustriell ausnutzende Bourgeoisie von irgendwelcher erheblichen Bedeutung entstanden war? Staatslieferungen, Steuerpachten, Kriegsfinanzierung, Kolonial-und speziell Plantagenfinanzierung, Zwischenhandel, Darlehenswucher hat es ja seit Jahrtausenden fast in der ganzen Welt immer wieder als Form kapitalistischer Besitzverwertung gegeben. Gerade an dieser, fast allen Zeiten und Ländern, insbesondere auch der ganzen Antike geläufigen Geschichte sind nun die Juden beteiligt, in denjenigen spezifisch modernen Rechts- und Betriebsformen, welche schon das Mittelalter, aber nicht die Juden, geschaffen hatte. Dagegen bei dem spezifisch Neuen des modernen Kapitalismus: der rationalen Organisation der Arbeit, vor allem der gewerblichen, im industriellen »Betrieb« fehlen sie (relativ betrachtet) so gut wie gänzlich. Und vor allem: jene Wirtschaftsgesinnung, welche allem urwüchsigen Händlertum, dem antiken, ostasiatischen, indischen, mittelalterlichen Händlertum, dem Krämertum im kleinen, dem Großgeldgebertum im großen, typisch war und ist: der Wille und das Verständnis, rücksichtslos jede Chance des Gewinns auszunutzen – »um Gewinnes willen durch die Hölle zu fahren, und wenn sie die Segel versengt« –, diese ist auch den Juden recht stark eigen. Aber gerade sie ist weit entfernt davon, etwas dem modernen Kapitalismus gegenüber anderen kapitalistischen Epochen Eigentümliches zu sein. Im graden Gegenteil. Weder das spezifisch Neue des modernen Wirtschaftssystems noch das spezifisch Neue an der modernen Wirtschaftsgesinnung sind spezifisch jüdisch. Die letzten prinzipiellen Gründe dafür hängen wieder mit dem besonderen Pariavolkscharakter des Judentums und seiner Religiosität zusammen. Zunächst schon die rein äußeren Schwierigkeiten der Beteiligung an der Organisation der gewerblichen Arbeit: die rechtlich und faktisch prekäre Lage der Juden, die wohl der Handel, vor allem der Geldhandel, nicht aber ein rationaler gewerblicher Dauerbetrieb mit stehendem Kapital erträgt. Dann aber auch die innerliche ethische Situation. Das Judentum, als Pariavolk, bewahrte die doppelte Moral, welche im Wirtschaftsverkehr jeder Gemeinschaft urwüchsig ist. Was »unter Brüdern« perhorresziert ist, ist dem Fremden gegenüber erlaubt. Den Mitjuden gegenüber ist die jüdische Ethik durchaus unbezweifelbar traditionalistisch, vom Standpunkt der »Nahrung« ausgehend, und soweit auch – worauf Sombart gewiß mit Recht hinweist – die Rabbinen dabei Konzessionen, und zwar auch für das innerjüdische[369] Geschäftsgebaren machten: es blieben eben Zugeständnisse an die Laxheit, durch deren Benutzung diejenigen, welche sie sich machen ließen, eben hinter den höchsten Anforderungen der jüdischen Geschäftsethik zurückblieben, nicht jedoch: sich »bewährten«. Das Gebiet des geschäftlichen Verhaltens zu Fremden aber ist bei Dingen, welche unter Juden verpönt waren, weitgehend eine Sphäre des ethisch Indifferenten. Dies ist nicht nur in der ganzen Welt bei allen Völkern die urwüchsige Geschäftsethik, sondern daß es dauernd so blieb, ist für den Juden, dem der Fremde, schon im Altertum, fast überall als »Feind« entgegentrat, einfach eine Selbstverständlichkeit. Alle wohlbekannten Ermahnungen der Rabbinen zu Treu und Glauben gerade auch gegenüber dem Fremden konnten doch natürlich an dem Eindruck der Tatsache nichts ändern, daß das Gesetz den Zins von Juden verbot, von Fremden dagegen erlaubte, und daß (wie wiederum Sombart mit Recht hervorhob) der Grad der vorschriftsmäßigen Legalität (z.B. bei der Benutzung von Irrtümern des anderen) dem Fremden, und das heißt: dem Feinde, gegenüber nun einmal ein geringerer war. Und es bedarf gar keines Beweises (denn das Gegenteil wäre schlechthin unbegreiflich), daß auf die durch die Verheißungen Jahves, wie wir sahen, geschaffene Pariastellung und die daraus folgende stete Verachtung von seiten der Fremden, ein Volk gar nicht anders reagieren konnte als dadurch, daß seine Geschäftsmoral im Fremdverkehr dauernd eine andere blieb wie dem Mitjuden gegenüber.

Die gegenseitige Situation von Katholiken, Juden und Puritanern beim wirtschaftlichen Erwerb läßt sich also etwa so zusammenfassen: der strenggläubige Katholik bewegte sich im Erwerbsleben fortwährend in der Sphäre oder an der Grenze eines Verhaltens, welches teils gegen päpstliche Konstitutionen verstieß und nur rebus sic stantibus im Beichtstuhl ignoriert oder nur durch laxe (probabilistische) Moral gestattet, teils direkt bedenklich, teils wenigstens nicht positiv gottwohlgefällig war. Der fromme Jude kam dabei unvermeidlich in die Lage, Dinge zu tun, welche unter Juden direkt gesetzwidrig oder traditionell bedenklich oder nur kraft laxer Interpretation zulässig und nur dem Fremden gegenüber erlaubt, nie aber mit positiven ethischen Wertvorzeichen versehen waren; sein ethisches Verhalten konnte nur, als dem Durchschnitt des Ueblichen entsprechend und formal nicht gesetzwidrig, von Gott erlaubt und als sittlich indifferent gelten. Eben hierauf beruht ja das, was an den Behauptungen von dem geringeren Legalitätsstandard der Juden wirklich wahr gewesen ist. Daß Gott es mit Erfolg krönte, konnte zwar ein Zeichen dafür sein, daß er auf diesem Gebiet nichts direkt Verbotenes getan und auf anderen Gebieten sich an Gottes Gebote gehalten hatte, nicht leicht aber konnte er gerade durch das spezifisch moderne ökonomische Erwerbshandeln sich ethisch bewähren. Eben dies letztere aber war bei dem frommen Puritaner der Fall, der gerade nicht kraft laxer Interpretation oder doppelter Moral, oder weil er etwas ethisch Indifferentes und auf dem eigentlichen Geltungsgebiet des Ethischen Verpöntes tat, sondern umgekehrt mit dem denkbar besten Gewissen, eben dadurch, daß er, rechtlich und sachlich handelnd, die rationale Methodik seiner gesamten Lebensführung im »Betrieb« objektivierte, sich vor sich selbst und im Kreise seiner Gemeinde legitimierte und eben auch nur soweit und dadurch legitimierte, als und weil die absolute, nicht relativierte, Unanfechtbarkeit seines Verhaltens völlig feststand. Kein wirklich frommer Puritaner – darauf kommt es an – hätte je durch Pfandwucher, durch Ausnutzung des Irrtums des Gegenparts (was dem Juden gegen den Fremden zustand), durch Feilschen und Schachern, durch Beteiligung an politischen oder kolonialen Raubverdiensten erworbenes Geld für gottwohlgefälligen Gewinn halten können. Der feste Preis, die absolut sachliche, jeden Durst nach Geld verschmähende, bedingungslos legale Geschäftsgebarung jedermann gegenüber ist es, deren Bewährtheit vor den Menschen die Quäker und Baptisten es zugeschrieben haben, daß gerade die Gottlosen bei ihnen und nicht [bei] ihresgleichen kauften, ihnen, nicht ihresgleichen ihr Geld in Verwahrung und in Kommandite anvertrauten[370] und sie reich machten, und eben diese Qualitäten bewährten sie vor ihrem Gott. Das Fremdenrecht, in der Praxis: das Pariarecht der Juden dagegen gestattete, trotz noch so vieler Vorbehalte, dem Nichtjuden gegenüber die Betätigung gerade derjenigen Gesinnung, welche der Puritaner als erwerbsdurstigen Krämergeist verabscheute, die aber beim frommen Juden mit der strengsten Rechtlichkeit, mit voller Erfüllung des Gesetzes und mit der ganzen Gottinnigkeit seiner Religiosität und der opferbereitesten Liebe zu den ihm in Familie und Gemeinde Verbundenen und mit Erbarmen und Milde gegen alle Gottesgeschöpfe vereinbar war. Niemals galt, gerade in der Praxis des Lebens, der jüdischen Frömmigkeit die Sphäre jenes erlaubten Erwerbs im Geltungsbereich des Fremdenrechts als diejenige, in welcher sich die Echtheit des Gehorsams gegen Gottes Gebote bewährt. Niemals hat ein frommer Jude den inneren Standard seiner Ethik daran bemessen, was er hier für erlaubt hielt. Sondern wie dem Konfuzianer der zeremoniell und ästhetisch allseitig entwickelte, literarisch gebildete und sein Leben lang weiter die Klassiker studierende Gentleman, so ist dem Juden der kasuistisch Gesetzeskundige, der Schriftgelehrte, der auf Kosten seines Geschäfts, das er sehr oft der Frau überläßt, immer weiter in den heiligen Schriften und Kommentaren forschende »Intellektuelle« das eigentliche Lebensideal.

Gegen eben diesen intellektualistischen, schriftgelehrtenhaften Zug des genuinen Spätjudentums lehnt sich Jesus auf. Nicht die in ihn hineininterpretierten »proletarischen« Instinkte, sondern die Art der Gläubigkeit und das Niveau der Gesetzeserfüllung des Kleinstädters und Landhandwerkers, im Gegensatz zu den Virtuosen des Gesetzeswissens ist es, was in dieser Hinsicht seinen Gegensatz bildet gegen die auf dem Boden der Polis Jerusalem gewachsenen Schichten, die ganz wie jeder Großstadtbürger der Antike fragen: »Was kann von Nazareth Gutes kommen?« Seine Art der Gesetzeserfüllung und Gesetzeskenntnis ist jener Durchschnitt, welchen der praktisch arbeitende Mann, der auch am Sabbath nicht sein Schaf im Brunnen liegen lassen kann, wirklich leistet. Die für den eigentlich Frommen obligatorische jüdische Gesetzeskenntnis dagegen geht, schon in der Art der Jugenderziehung, nicht nur quantitativ, sondern qualitativ weit über die Bibelfestigkeit des Puritaners hinaus und ist nur allenfalls mit den Ritualgesetzen der Inder und Perser zu vergleichen, nur daß sie eben in weit größerem Umfang neben bloßen rituellen und Tabunormen auch sittliche Gebote enthält. Das ökonomische Verhalten der Juden bewegte sich einfach in der Richtung des geringsten Widerstandes, den diese Normen ihnen ließen, und das hieß eben praktisch: daß der in allen Schichten und Nationen verbreitete, nur verschieden wirkende, »Erwerbstrieb« auf den Handel mit Fremden, also »Feinden«, ausgerichtet wurde. Der fromme Jude schon der Zeit des Josias, erst recht der nachexilische Jude ist ein Stadtmensch. Das ganze Gesetz ist darauf zugeschnitten. Weil ein Schächter notwendig war, lebte der orthodoxe Jude nicht isoliert, sondern möglichst in Gemeinden (auch jetzt Spezifikum der Orthodoxie gegenüber den Reformjuden z.B. in Amerika). Das Sabbathjahr – in der jetzigen Fassung der Bestimmungen doch wohl sicher eine nachexilische Schöpfung städtischer Schriftgelehrter – machte, in seinem Geltungsbereich, die rationelle intensive Landwirtschaft unmöglich: noch jetzt19 haben die deutschen Rabbinen seine Anwendung auf die zionistische Palästinasiedlung, die daran gescheitert wäre, erzwingen wollen, und der Epoche der Pharisäer war ein »Landmann« gleichbedeutend mit einem Juden zweiten Ranges, der das Gesetz nicht voll hält und halten kann. Die Teilnahme an den Gelagen einer Zunft, überhaupt jede Tischgemeinschaft mit den Nichtjuden, in der Antike wie im Mittelalter die unentbehrliche Grundlage jeder Einbürgerung in die Umwelt, verbot das Gesetz. Dagegen begünstigte (und begünstigt) die gemeinorientalische, ursprünglich auf dem Ausschluß der Töchter vom Erbe beruhende Sitte des »Brautschatzes« die Tendenz, sich gleichzeitig mit der Verheiratung als Kleinkrämer zu etablieren (das wirkt teilweise noch jetzt nach in Form des geringen »Klassenbewußtseins« der jüdischen Handlungsgehilfen).[371] In allen anderen Hantierungen ist, wie der fromme Hindu, so der Jude auf Schritt und Tritt gehemmt durch Rücksichten auf das Gesetz. Wirkliches Gesetzesstudium konnte – das hat Guttmann mit Recht hervorgehoben – am leichtesten mit dem relativ wenig stetige Arbeit erfordernden Geldleihgeschäft vereinigt werden. Die Wirkung des Gesetzes und der intellektualistischen Gesetzesschulung ist die »Lebensmethodik« des Juden und sein »Rationalismus«. »Nie ändere der Mensch einen Brauch« ist ein Talmudgrundsatz. Einzig und allein auf dem Gebiet des ökonomischen Verkehrs mit Fremden hat die Tradition die Lücke des ethisch (relativ) Irrelevanten gelassen. Sonst nirgends. Die Tradition und ihre Kasuistik herrscht auf dem ganzen Gebiet des vor Gott Relevanten, nicht ein rational, voraussetzungslos, aus einem »Naturrecht« heraus, selbstorientiertes methodisches Zweckhandeln. Die »rationalisierende« Wirkung der Gesetzesangst ist eine überaus penetrante, aber gänzlich indirekte. »Wach« und immer bei sich, stets beherrscht und gleichmäßig ist auch der Konfuzianer, der Puritaner, der buddhistische und jeder Mönch, der arabische Scheich, der römische Senator. Grund und Sinn der Selbstbeherrschtheit aber sind das Verschiedene. Die wache Beherrschtheit des Puritaners folgt aus der Notwendigkeit der Unterwerfung des Kreatürlichen unter die rationale Ordnung und Methodik im Interesse der eigenen Heilsgewißheit, die des Konfuzianers aus der Verachtung pöbelhafter Irrationalität seitens des zu Anstand und Würde erzogenen klassisch Gebildeten, die des altfrommen Juden aus dem Grübeln über dem Gesetz, an dem sein Intellekt geschult ist, und der Notwendigkeit steter Aufmerksamkeit auf seine genaue Erfüllung. Dies aber gewann seine spezifische Färbung und Wirkung durch das Bewußtsein des frommen Juden davon: daß nur er und sein Volk dies Gesetz haben und um deswillen von aller Welt verfolgt und mit Schmutz beworfen sind, daß es gleichwohl verbindlich ist und daß eines Tages durch eine Tat, die über Nacht kommt, deren Zeitpunkt niemand wissen, zu dessen Beschleunigung auch niemand beitragen kann, Gott die Rangordnung der Erde umkehren wird in ein messianisches Reich für die, welche in allem dem Gesetz treu geblieben sind. Er wußte: daß nun schon ungezählte Geschlechter allem Spott zum Trotz so gewartet haben und warten, und mit dem Gefühl einer gewissen »Ueberwachheit«, die daraus folgte, verband sich für ihn die Notwendigkeit, je länger voraussichtlich noch weiter vergeblich gewartet werden müßte, desto mehr das eigene Würdegefühl aus dem Gesetz und seiner peinlichen Befolgung, um seiner selbst willen, zu speisen. Endlich und nicht zuletzt die Notwendigkeit, stets auf der Hut zu sein und nie seiner Leidenschaft freien Lauf zu lassen gegen ebenso übermächtige wie erbarmungslose Feinde, verbunden mit der früher besprochenen Wirkung des »Ressentiment« als eines in Jahves Verheißungen und in den dadurch verschuldeten, in aller Geschichte unerhörten Schicksalen dieses Volks begründeten unvermeidlichen Einschlags. – Diese Umstände sind es, welche, im wesentlichen, den »Rationalismus« des Judentums begründen. Nicht aber »Askese«. »Asketische« Züge gibt es im Judentum, aber sie sind allerdings nicht ihrerseits das Zentrale, sondern nur teils Konsequenzen des Gesetzes, teils aus der eigentümlichen Problematik der jüdischen Frömmigkeit gekommen, jedenfalls aber ebenso sekundär wie alles, was es an eigentlicher Mystik besitzt. Ueber die letztere ist hier nicht zu reden, da weder ihre kabbalistische noch ihre chassidistische noch andere Formen typische Motive für das praktische Verhalten der Juden zur Wirtschaft abgegeben haben, so symptomatisch wichtig die beiden genannten religiösen Erzeugnisse sind. Die »asketische« Abwendung von allem Künstlerischen hat, neben dem zweiten Gebot, welches in der Tat das Umschlagen der s. Zt. weit entwickelten Angelologie in künstlerische Formung hinderte, vor allem in dem reinen Lehr-und Gebotscharakter des typischen synagogalen Gottesdienstes (in der Diaspora schon lange vor der Zerstörung des Tempelkults) seinen Grund: schon die Prophetie hatte gerade die plastischen Elemente des Kults herabgesetzt, die orgiastischen und orchestrischen im Erfolg so gut wie gänzlich ausgemerzt. Das Römertum und der Puritanismus sind (aber aus sehr verschiedenen Motiven) darin[372] im Effekt ähnliche Wege gegangen. Plastik, Malerei, Drama entbehrten also der überall normalen religiösen Anknüpfungspunkte, und das starke Zurückebben alles (weltlich) Lyrischen und speziell der erotischen Sublimierung des Sexuellen gegenüber dem noch ganz derben sinnlichen Höhepunkt, welchen das Hohelied darstellt, hat in dem Naturalismus der ethischen Behandlung dieser Sphäre seinen Anlaß. Für alle diese Ausfälle im ganzen aber gilt: daß die stumme, glaubende und fragende Erwartung einer Erlösung aus der Hölle dieser Existenz eines doch von Gott erwählten Volks sich immer wieder nur auf das Gesetz und die alten Verheißungen hingewiesen fand und daß demgegenüber, auch wenn entsprechende Aussprüche der Rabbinen nicht überliefert wären, in der Tat alle unbefangene Hingabe an die künstlerische und poetische Verklärung einer Welt, deren Schöpfungszweck schon den Zeitgenossen des späteren Makkabäerreichs gelegentlich recht problematisch geworden war, als höchst eitel und von den Wegen und Zielen des Herrn abführend erscheinen mußte. Aber gerade, was der »innerweltlichen Askese« ihren entscheidenden Zug verleiht: die einheitliche Beziehung zur »Welt« aus dem Gesichtspunkt der certitudo salutis als Zentrum, aus welchem alles gespeist wird, fehlt. Der Pariacharakter der Religiosität und die Verheißungen Jahves sind auch hier der letzte entscheidende Grund. Eine innerweltlich asketische Behandlung der Welt – dieser jetzt, infolge der Sünden Israels, so grundverkehrten, aber eben nur durch ein von Menschen nicht zu erzwingendes und nicht zu beschleunigendes freies Wunder Gottes zurechtzurückenden Welt – als einer »Aufgabe« und als des Schauplatzes eines religiösen »Berufs«, der diese Welt, gerade auch die Sünde in ihr, unter die rationalen Normen des geoffenbarten göttlichen Willens zwingen will, zu Gottes Ruhm und zum Wahrzeichen der eigenen Erwählung, – diese calvinistische Stellungnahme war natürlich das Allerletzte, was einem traditionell frommen Juden je hätte in den Sinn kommen können. Er hatte ein weit schwereres inneres Schicksal zu überwinden als der seiner »Erwählung« für das Jenseits sichere Puritaner. Der Einzelne muß sich mit der Tatsache der Verheißungswidrigkeit der bestehenden Welt, solange Gott sie zuläßt, eben abfinden und sich genügen lassen, wenn Gott ihm Gnade und Erfolg schenkt im Verkehr mit den Feinden seines Volks, denen er, wenn er den Ansprüchen seiner Rabbinen genügen will, legal und nüchtern rechnend, ohne Liebe und ohne Haß, »sachlich« gegenübertritt und sie so behandelt, wie es ihm Gott erlaubt hat. Unrichtig ist es, wenn gesagt wird: nur die Aeußerlichkeit der Gesetzesbefolgung sei religiöses Erfordernis gewesen. Das ist der naturgemäße Durchschnitt. Aber das Postulat stand höher. Allerdings aber ist es die einzelne Handlung, welche als einzelne mit anderen einzelnen verglichen und aufgerechnet wird. Und wenn auch die Auffassung der Beziehung zu Gott als eines Kontokorrentes (sie findet sich übrigens gelegentlich auch bei Puritanern) der einzelnen guten und bösen Werke mit ungewissem Gesamtergebnis nicht die offiziell herrschende war, so ist allerdings die zentrale methodisch-asketische Orientiertheit der Lebensführung, wie sie den Puritanismus kennzeichnet, von den schon erwähnten Gründen abgesehen, einmal infolge der doppelten Moral eine unvermeidlich ungleich schwächere als dort. Dann aber deshalb: weil hier in der Tat, wie im Katholizismus, das Tun des einzelnen Gesetzmäßigen ein Produzieren der eigenen Heilschancen ist, mag auch (hier wie dort) Gottes Gnade die menschliche Unzulänglichkeit – die übrigens (wie im Katholizismus) durchaus nicht universell anerkannt war – ergänzen müssen. Die kirchliche Anstaltsgnade war, seit dem Verfall der alten palästinensischen Beichte (theschuba) weit unentwickelter als im Katholizismus, und diese Selbstverantwortlichkeit und Mittlerlosigkeit gab der jüdischen Lebensführung in der Tat notwendig etwas wesentlich Eigenmethodischeres, Systematischeres als der durchschnittlichen katholischen. Aber das Fehlen der spezifisch puritanischen asketischen Motive und der im Prinzip ungebrochene Traditionalismus der jüdischen Binnenmoral setzte auch da der Methodisierung eine Grenze. Es sind also zahlreiche nach Art der Asketen wirkende Einzelmotive da, nur fehlt gerade das religionseinigende Band des asketischen Grundmotivs.[373] Denn die höchste Form der Frömmigkeit des Juden liegt nach der Seite der »Stimmung« und nicht des aktiven Handelns: wie sollte er sich in dieser grundverkehrten und – wie er seit der Zeit Hadrians weiß – nicht durch menschliche Tat zu ändernden, ihm feindlichen Welt jemals als Vollstrecker von Gottes Willen durch deren rationale Neuordnung fühlen? Das kann der jüdische Freigeist tun, nie der fromme Jude. Das Puritanertum hat denn auch stets die innere Verwandtschaft sowohl wie deren Grenze empfunden. Die Verwandtschaft ist bei aller Grundverschiedenheit in der Bedingtheit doch prinzipiell die gleiche wie schon beim Christentum der Anhänger des Paulus. Die Juden waren für die Puritaner wie für die Urchristen stets das einmal von Gott erwählt gewesene Volk. Die für das Urchristentum unerhört folgenreiche Tat des Paulus war aber: einerseits das jüdische heilige Buch zu einem – damals: dem einzigen – heiligen Buch der Christen zu machen und damit allen Einbrüchen des hellenischen (gnostischen) Intellektualismus eine ganz feste Grenze zu setzen (wie namentlich Wernle betont hat). Andererseits hie und da – unter Mithilfe einer Dialektik, wie sie nur ein Rabbine besitzen konnte – gerade das Spezifische und im Judentum spezifisch Wirkende am »Gesetz«: die Tabunormen und die ganz spezifischen, in ihrer Wirkung so furchtbaren messianischen Verheißungen, welche die Kettung der ganzen religiösen Würde des Juden an die Pariastellung begründeten, als durch den geborenen Christus teils abrogiert, teils erfüllt herauszubrechen, unter dem triumphierenden, höchst eindrucksvollen Hinweis: daß gerade die Erzväter Israels ja vor dem Erlaß jener Normen dem göttlichen Willen gemäß gelebt und dennoch, kraft ihres Glaubens, der das Unterpfand von Gottes Erwählung war, selig geworden seien. Der ungeheure Schwung, den das Bewußtsein [verlieh], dem Parialose entronnen, den Hellenen ebenso ein Hellene wie den Juden ein Jude sein zu können und dies nicht auf dem Wege der glaubensfeindlichen Aufklärung, sondern innerhalb der Paradoxie des Glaubens selbst erreicht zu haben, – dieses leidenschaftliche Befreiungsgefühl ist die treibende Kraft der unvergleichlichen paulinischen Missionsarbeit. Er war tatsächlich frei geworden von den Verheißungen des Gottes, von dem sein Heiland sich am Kreuz verlassen fühlte. Der hinlänglich bezeugte furchtbare Haß gerade der Diasporajudenschaft gegen diesen einen Mann, Schwanken und Verlegenheit der christlichen Urgemeinde, der Versuch des Jakobus und der »Säulenapostel«, im Anschluß an die Laiengesetzlichkeit von Jesus selbst ein »ethisches Minimum« von Gesetzesgeltung als allgemeinverbindlich zu konstruieren, schließlich die offene Feindschaft der Judenchristen, waren die Begleiterscheinung einer solchen Sprengung gerade der entscheidenden, die Pariastellung des Judentums festlegenden Ketten. Den menschenbezwingenden Jubel des aus dem hoffnungslosen »Sklavengesetz« mit dem Blut des Messias in die Freiheit Erkauften fühlen wir aus jeder Zeile, die Paulus schrieb. Die Möglichkeit christlicher Weltmission aber war die Folge. Ganz ebenso übernahmen die Puritaner gerade nicht das talmudische und auch nicht das alttestamentliche spezifisch jüdische rituelle Gesetz, sondern die sonstigen im Alten Testament bezeugten – schwankend, in welchem Umfang noch maßgebenden – Willensäußerungen Gottes, oft bis in Einzelheiten, und fügten sie zusammen mit den neutestamentlichen Normen. Nicht die frommen, orthodoxen Juden, wohl aber die der Orthodoxie entronnenen Reformjuden, noch jetzt z.B. Zöglinge der Educational Alliance, und vollends die getauften Juden werden in der Tat gerade von den puritanischen Völkern, speziell den Amerikanern, früher ohne weiteres und trotz allem auch noch jetzt relativ leicht bis zur absoluten Spurlosigkeit des Unterschieds resorbiert, während sie etwa in Deutschland durch lange Generationen eben »Assimilationsjuden« bleiben. Auch darin manifestiert sich die tatsächliche »Verwandtschaft« des Puritanismus mit dem Judentum. Aber gerade das Unjüdische am Puritanismus ist es, was diesen zu seiner Rolle in der Entwicklung der Wirtschaftsgesinnung ebenso befähigt hat, wie zu diesen Resorptionen von jüdischen Proselyten, welche religiös anders orientierten Völkern nicht gelungen ist.

[374] Wieder in einem gänzlich anderen Sinne »weltangepaßt« ist der durch alttestamentliche und judenchristliche Motive stark mitbedingte Spätling des vorderasiatischen Monotheismus: der Islâm. Die in seiner ersten mekkanischen Periode noch in einem weltabgewendeten städtischen Pietistenkonventikel auftretende eschatologische Religiosität Muhammeds schlug schon in Medîna und dann in der Entwicklung der frühislâmitischen Gemeinschaft in eine national-arabische und dann vor allem: ständisch orientierte Kriegerreligion um. Diejenigen Bekenner, deren Uebertritt den entscheidenden Erfolg des Propheten darstellte, waren durchweg Anhänger mächtiger Geschlechter. Das religiöse Gebot des heiligen Krieges galt nicht in erster Linie Bekehrungszwecken, vielmehr: »bis sie (die Anhänger fremder Buchreligionen) in Demut den Zins (dschizja) zahlen«, bis also der Islâm der an sozialem Prestige in dieser Welt Erste gegenüber Tributpflichtigen anderer Religionen sein wird. Nicht nur dies alles in Verbindung mit der Bedeutung der Kriegsbeute in den Ordnungen, Verheißungen und, vor allem, Erwartungen gerade des ältesten Islâm, stempelte ihn zur Herrenreligion, sondern auch die letzten Elemente seiner Wirtschaftsethik sind rein feudal. Gerade die Frömmsten schon der ersten Generation waren die Reichsten oder richtiger: die durch Kriegsbeute (im weitesten Sinn) am meisten Bereicherten von allen Genossen. Die Rolle aber, die dieser durch Kriegsbeute und politische Bereicherung geschaffene Besitz und der Reichtum überhaupt im Islâm spielt, ist höchst entgegengesetzt der puritanischen Stellungnahme. Die Tradition schildert mit Wohlgefallen den Kleiderluxus, die Parfüms und die sorgsame Bartcoiffüre der Frommen, und es ist das äußerste Gegenteil aller puritanischen Wirtschaftsethik, entspricht dagegen feudalen Standesbegriffen, wenn die Ueberlieferung Muhammed begüterten Leuten, die vor ihm im dürftigen Aufzug erscheinen, sagen läßt: daß Gott, wenn er einen Menschen mit Wohlstand segne, es liebe, daß »dessen Spuren auch an ihm sichtbar seien«, in unserer Sprache etwa: daß ein Reicher auch »standesgemäß zu leben« verpflichtet sei. Die strikte Ablehnung zwar nicht aller und jeder Askese (vor Fastern, Betern, Büßern bekundet Muhammed seinen Respekt), wohl aber jedes Mönchtums (rahbanija) im Korân mag, soweit dabei die Keuschheit in Betracht kommt, bei Muhammed persönlich ähnliche Gründe gehabt haben wie in den bekannten Aussprüchen, in denen Luthers derb-sinnliche Natur hervortritt; also in der auch dem Talmud eigenen Ueberzeugung, daß, wer mit einem bestimmten Alter nicht verheiratet sei, ein Sünder sein müsse. Aber wenn ein Prophetenspruch den Charakter dessen anzweifelt, der 40 Tage kein Fleisch genießt, oder wenn einer anerkannten, teilweise als Mahdî gefeierten Säule des alten Islâm auf die Frage, warum er, im Gegensatz zu seinem Vater 'Alî, Haarkosmetika brauche, die Antwort: »um bei den Frauen Erfolg zu haben« in den Mund gelegt wird, – so stände Derartiges wohl einzig in der Hagiologie einer ethischen »Erlösungsreligion« da. Allein eine solche ist der Islâm in dieser Ausprägung eben überhaupt nicht. Der Begriff »Erlösung« im ethischen Sinn des Worts ist ihm direkt fremd. Sein Gott ist ein unbegrenzt machtvoller, aber auch ein gnädiger Herr, und seinen Geboten zu entsprechen geht durchaus nicht über Menschenkraft. Die Beseitigung der Privatfehde im Interesse der Stoßkraft nach außen, die Regulierung des legitimen Geschlechtsverkehrs im streng patriarchalen Sinn und die Verpönung aller illegitimen Formen (infolge des Fortbestandes des Konkubinats mit Sklavinnen und der Leichtigkeit der Scheidung faktisch eine ausgeprägte sexuelle Privilegierung der Begüterten), die Verpönung des »Wuchers« sowie die Abgaben für den Krieg und die Unterstützung Verarmter waren Maßregeln wesentlich politischen Charakters. Zu ihnen traten als spezifische Unterscheidungspflichten im wesentlichen: das bloße Bekenntnis zum einen Gott und seinem Propheten als einzige dogmatische Anforderung, die einmalige Pilgerschaft nach Mekka, das Fasten unter Tags im Fastenmonat, die einmal wöchentliche Gottesdienstpräsenz und die täglichen Gebete; ferner für das Alltagsleben: Bekleidung (eine ökonomisch wichtige Vorschrift noch jetzt bei Bekehrungen[375] wilder Völkerschaften), die Meidung gewisser unreiner Speisen, des Weins und des Hasardspiels (was ebenfalls, für die Haltung zu Spekulationsgeschäften, wichtig wurde). Individuelle Heilssuche und Mystik ist dem alten Islâm fremd. Reichtum, Macht, Ehre sind die altislâmitischen Verheißungen für das Diesseits: Soldatenverheißungen also, und ein sinnliches Soldatenparadies sein Jenseits. Aehnlich feudal orientiert erscheint der ursprünglich genuine »Sünden«-Begriff. Die »Sündlosigkeit« des starken sinnlichen Leidenschaften und Zornausbrüchen aus kleinem Anlaß unterworfenen Propheten ist späte theologische Konstruktion, ihm selbst im Korân ganz fremd, ebenso aber auch seit seiner Uebersiedlung nach Medîna jede Art einer »Tragik« des Sündengefühls, und dieser letztere Zug ist dem orthodoxen Islâm geblieben: »Sünde« ist ihm teils rituelle Unreinheit, teils Religionsfrevel (wie die schirk: die Vielgötterei), teils Ungehorsam gegen die positiven Gebote des Propheten, teils ständische Würdelosigkeit durch Verletzung der Sitte und Schicklichkeit. Die Selbstverständlichkeit der Sklaverei und der Hörigkeit, die Polygamie und die Art der Frauenverachtung und -domestikation, der vorwiegend ritualistische Charakter der religiösen Pflichten, verbunden mit großer Einfachheit der hierher gehörigen Ansprüche und noch größerer Bescheidenheit in den ethischen Anforderungen sind ebenso viele Merkmale spezifisch ständischen feudalen Geistes. Die große Spannweite, welche der Islâm durch Entstehung der theologisch-juristischen Kasuistik und der teils aufklärerischen, teils pietistischen Philosophenschulen einerseits, durch das Eindringen des persischen, von Indien herkommenden Ṣûfîsmus und die Bildung der noch bis heute sehr stark von Indern beeinflußten Derwîsch-Orden andererseits gewann, hat ihn dem Judentum und Christentum in den entscheidenden Punkten nicht näher gebracht. Diese waren ganz spezifisch bürgerlich-städtische Religiositäten, während für den Islâm die Stadt nur politische Bedeutung hatte. Die Art des offiziellen Kultus sowohl wie die sexuellen und rituellen Gebote können in der Richtung einer gewissen Nüchternheit der Lebensführung wirken. Das Kleinbürgertum ist in sehr starkem Maß Träger der fast universell verbreiteten Derwîsch-Religiosität, welche, stets zunehmend an Macht, die offizielle Kirchenreligiosität überragte. Aber diese teils orgiastische, teils mystische, stets aber außeralltägliche und irrationale Religiosität und ebenso die durch ihre große Einfachheit propagandistisch wirksame offizielle, durchaus traditionalistische Alltagsethik weisen die Lebensführung in Bahnen, welche im Effekt gerade entgegengesetzt der puritanischen und jeder innerweltlich-asketischen Lebensmethodik verlaufen. Gegenüber dem Judentum fehlt die Anforderung einer umfassenden Gesetzeskenntnis und jene kasuistische Denkschulung, welche dessen »Rationalismus« speist. Der Krieger, nicht der Literat, ist das Ideal der Religiosität. Und es fehlen auch alle jene Verheißungen eines messianischen Reichs auf Erden in Verbindung mit der peinlichen Gesetzestreue, welche im Zusammenhang mit der priesterlichen Lehre von der Geschichte, Erwählung, Sünde und Verbannung Israels, den Pariacharakter der jüdischen Religiosität und alles, was aus ihm folgte, begründeten. Asketische Sekten hat es gegeben. Ein gewisser Zug zur »Einfachheit« war breiten Kreisen der altislâmischen Kriegerschaft eigen und ließ sie von Anfang an in Gegensatz gegen die Omajjadenherrschaft treten. Ihre heitere Weltfreude galt als Verfall gegenüber der straffen Zucht in den Lagerfestungen, in denen Omar die islâmische Kriegerschaft im Eroberungsgebiet konzentriert hatte, und an deren Stelle nun die Entstehung einer Feudalaristokratie trat. Aber es ist eben Askese des Kriegslagers oder eines kriegerischen Ritterordens, nicht mönchische und erst recht nicht bürgerliche asketische Systematik der Lebensführung – immer nur periodisch wirklich herrschend und stets zum Umschlagen in Fatalismus disponiert. Ueber die durchaus andere Wirkung, welche unter solchen Verhältnissen der Vorsehungsglaube entfalten mußte, wurde schon gesprochen. Das Eindringen des Heiligenkults und schließlich der Magie hat vollends von jeder eigentlichen Lebensmethodik abgeführt.

[376] Diesen im Effekt spezifisch ökonomisch-innerweltlichen religiösen Ethiken steht als extremste Ethik der Weltablehnung gegenüber die mystische Erleuchtungskonzentration des genuinen alten Buddhismus, nicht natürlich die völlig umgestalteten Abwandlungen, die er in der tibetanischen, chinesischen, japanischen Volksreligiosität erfuhr. Auch diese Ethik ist »rational« im Sinn einer stetigen wachen Beherrschung aller natürlichen Triebhaftigkeit, aber mit gänzlich anderem Ziel. Nicht Erlösung von Sünde und Leid allein, sondern von der Vergänglichkeit an sich, von dem »Rade« der Karmankausalität in die ewige Ruhe wird gesucht. Diese ist und kann nur sein das eigenste Werk des einzelnen Menschen. Es gibt keine Prädestination, aber auch keine göttliche Gnade, kein Gebet und keinen Gottesdienst. Die Karmankausalität des kosmischen Vergeltungsmechanismus setzt automatisch Prämien und Strafen auf jede einzelne gute und böse Tat, immer proportional, daher immer zeitlich begrenzt, und immer wieder, solange der Lebensdurst zum Handeln treibt, muß der Einzelne aus tierischem, himmlischem oder höllischem Dasein in immer neuem menschlichen Leben die Früchte seines Handelns auskosten und sich neue Zukunftschancen schaffen. Der edelste Enthusiasmus wie die schmutzigste Sinnlichkeit führen beide gleichmäßig immer wieder hinein in diese Verkettung der Individuation (für die buddhistische Metaphysik, die keine Seele kennt, [wird die Samsâra] sehr mit Unrecht »Seelenwanderung« genannt), solange nicht der »Durst« nach Leben, diesseitigem wie jenseitigem, der ohnmächtige Kampf um die eigene individuelle Existenz mit allen ihren Illusionen, vor allem derjenigen einer einheitlichen Seele und »Persönlichkeit«, absolut ausgerottet ist. Jedes rationale Zweckhandeln als solches – außer der inneren Tätigkeit konzentrierter, die Seele vom Weltdurst entleerender Kontemplation – und jede Verbindung mit welchen Interessen der Welt auch immer führt vom Heil ab. Dies Heil zu erreichen, ist aber nur wenigen selbst von denjenigen beschieden, welche sich entschließen, besitzlos, keusch, arbeitslos (denn Arbeit ist Zweckhandeln), also vom Bettel lebend und außer in der großen Regenzeit ewig unstet wandernd, losgelöst von allen persönlichen Banden an Familie und Welt, in Erfüllung der Vorschriften des richtigen Weges (Dharma) das Ziel der mystischen Erleuchtung zu erstreben. Ist es erreicht, so gibt es durch die hohe Freude und das zarte objektlose Liebesgefühl, welches ihr eignet, die höchste diesseitige Seligkeit bis zum Eingehen in den ewigen traumlosen Schlaf des Nirvâna, den einzigen, keinem Wechsel unterworfenen Zustand. Alle anderen mögen durch Annäherung an die Vorschriften der Regel und Enthaltung von groben Sünden die Chancen desjenigen künftigen Lebens verbessern, welches nach der Karmankausalität vermöge des nicht ausgeglichenen ethischen Kontos und des sozusagen nicht »abreagierten« Lebensdurstes durch neue Individuation unvermeidlich irgendwo zusammenschießt, wenn ihr eigenes erlischt, das wahrhafte ewige Heil aber bleibt ihnen unvermeidlich verschlossen. – Keinerlei Weg führt von dieser einzigen wirklich konsequent weltflüchtigen Position zu irgendeiner Wirtschafts-oder rationalen Sozialethik. Die universelle, auf alle Kreatur sich erstreckende »Mitleidsstimmung«, rational die Konsequenz der durch die gemeinschaftliche Karmankausalität hergestellten Solidarität aller lebenden und daher vergänglichen Wesen und psychologisch der Ausfluß des mystischen, euphorischen, universellen und akosmistischen Liebesempfindens, trägt keinerlei rationales Handeln, sondern führt von ihm direkt ab.

Der Buddhismus gehört in den Kreis jener Erlösungslehren, wie sie der Intellektualismus vornehmer indischer Laienbildungsschichten in größerer Zahl vorher und nachher geschaffen hat, und ist nur deren konsequenteste Form. Seine kühle und stolze, den Einzelnen auf sich selbst stellende Befreiung vom Dasein als solchen konnte nie ein Massenerlösungsglaube werden. Seine Wirkung über den Kreis der Gebildeten hinaus knüpfte an das gewaltige Prestige an, welches der »Shramaṇa« (Asket) von jeher dort genoß und welches vorwiegend magisch-anthropolatrische Züge trug. Sobald er selbst eine missionierende »Volksreligiosität« wurde, verwandelte er sich demgemäß in eine Heilandsreligion auf der Basis der Karmanvergeltung[377] mit Jenseitshoffnungen, welche durch Andachtstechniken, Kultus- und Sakramentsgnade und Werke der Barmherzigkeit garantiert werden, und zeigt naturgemäß die Neigung, rein magische Vorstellungen zu rezipieren. In Indien selbst erlag er in den Oberschichten der Renaissance der auf vedischem Boden stehenden Erlösungsphilosophie, bei den Massen der Konkurrenz der hinduistischen Heilandsreligionen, namentlich der verschiedenen Formen des Vishnuismus, der tantristischen Zauberei und der orgiastischen Mysterienreligiosität, vor allem der Bhakti-(Gottesliebe-) Frömmigkeit. Im Lamaismus wurde der Buddhismus eine reine Mönchsreligiosität, deren religiöse Macht über die theokratisch beherrschten Laien durchaus magischen Charakters ist. In seinem ostasiatischen Verbreitungsgebiet ist er in sehr starker Umwandlung seines genuinen Charakters, konkurrierend und in mannigfachen Kreuzungen kombiniert mit dem chinesischen Taoismus, die spezifische, über das diesseitige Leben und den Ahnenkult hinausweisende, Gnade und Erlösung darbietende Volksreligiosität geworden. Aber weder die buddhistische noch die taoistische noch die hinduistische Frömmigkeit enthalten Antriebe zur rationalen Lebensmethodik. Die letztere insbesondere ist, wie schon früher ausgeführt, nach ihren Voraussetzungen die stärkste traditionalistische Macht, welche es überhaupt geben kann, weil sie die konsequenteste religiöse Begründung der »organischen« Gesellschaftsauffassung und die schlechthin bedingungslose Rechtfertigung der gegebenen, aus Schuld und Verdienst in einem früheren Dasein der Beteiligten, kraft mechanisch proportionaler Vergeltung folgenden Verteilung von Macht und Glück ist. Alle diese asiatischen volkstümlichen Religiositäten gaben dem »Erwerbstrieb« des Krämers ebenso wie dem »Nahrungs«-Interesse des Handwerkers und dem Traditionalismus des Bauern Raum und ließen daneben die philosophische Spekulation und ständisch konventionelle Lebensorientierung der privilegierten Schichten ihre eigenen Wege gehen, welche in Japan feudale, in China patrimonial-bürokratische und daher stark utilitarische, in Indien teils ritterliche, teils patrimoniale, teils intellektualistische Züge behielten. Keine von ihnen konnte irgendwelche Motive und Anweisungen zu einer rationalen ethischen Formung einer kreatürlichen »Welt« gemäß einem göttlichen Gebot enthalten. Denn für alle war diese Welt vielmehr etwas fest Gegebenes, die beste aller möglichen Welten, und für den höchsten Typus des Frommen: den Weisen, stand nur die Wahl frei: entweder sich dem »Tao«, dem Ausdruck der unpersönlichen Ordnung dieser Welt, als dem einzigen spezifisch Göttlichen, anzupassen, oder gerade umgekehrt aus ihrer unerbittlichen Kausalverkettung sich selbst durch eigene Tat in das einzig Ewige: den traumlosen Schlaf des Nirvâna, zu erlösen.

»Kapitalismus« hat es auf dem Boden aller dieser Religiositäten gegeben. Eben solchen, wie es [ihn] in der okzidentalen Antike und im abendländischen Mittelalter auch gab. Aber keine Entwicklung, auch keine Ansätze einer solchen, zum modernen Kapitalismus und vor allem: keinen »kapitalistischen Geist« in dem Sinn, wie er dem asketischen Protestantismus eignete. Es hieße den Tatsachen in das Gesicht schlagen, wollte man dem indischen oder chinesischen oder islâmischen Kaufmann, Krämer, Handwerker, Kuli einen geringeren »Erwerbstrieb« zuschreiben als etwa dem protestantischen. So ziemlich das gerade Gegenteil ist wahr: gerade die rationale ethische Bändigung der »Gewinnsucht« ist das dem Puritanismus Spezifische. Und jede Spur eines Beweises dafür fehlt: daß geringere natürliche »Begabung« für technischen und ökonomischen »Rationalismus« den Grund des Unterschieds abgebe. Alle diese Völker lassen sich heute eben dies »Gut« als wichtigstes Erzeugnis des Okzidents importieren, und die Hemmungen dabei liegen nicht auf dem Gebiet des Könnens oder Wollens, sondern der gegebenen festen Traditionen, ebenso wie bei uns im Mittelalter. Soweit dabei nicht die später zu erörternden rein politischen Bedingungen (die inneren Strukturformen der »Herrschaft«) mitspielen, ist der Grund vornehmlich in der Religiosität zu suchen. Nur der asketische Protestantismus machte der Magie, der Außerweltlichkeit der Heilssuche und der intellektualistischen[378] kontemplativen »Erleuchtung« als deren höchster Form wirklich den Garaus, nur er schuf die religiösen Motive, gerade in der Bemühung im innerweltlichen »Beruf« – und zwar im Gegensatz zu der streng traditionalistischen Berufskonzeption des Hinduismus: in methodisch rationalisierter Berufserfüllung – das Heil zu suchen. Für die asiatische volkstümliche Religiosität jeder Art blieb dagegen die Welt ein großer Zaubergarten, die Verehrung oder Bannung der »Geister« oder ritualistische, idolatrische, sakramentale Heilssuche der Weg, sich in ihr, für das Diesseits und Jenseits, praktisch zu orientieren und zu sichern. Und so wenig wie von der Weltanpassung des Konfuzianismus oder der Weltablehnung des Buddhismus oder der Weltwaltung des Islâm oder den Pariahoffnungen und dem ökonomischen Pariarecht des Judentums führte von jener magischen Religiosität der asiatischen Nichtintellektuellen ein Weg zur rationalen Lebensmethodik.

Magie und Dämonenglauben stehen nun auch an der Wiege der zweiten großen, in einem spezifischen Sinn »weltablehnenden« Religion: des alten Christentums. Sein Heiland ist vor allen Dingen ein Magier, das magische Charisma eine nie fortzudatierende Stütze seines spezifischen Selbstgefühls. Aber dessen Eigenart ist nun im besonderen bedingt einmal durch die in aller Welt einzigartigen Verheißungen des Judentums – das Auftreten Jesu fällt in eine Epoche intensivster messianischer Hoffnungen – einerseits und durch den intellektualistischen Schriftgelehrsamkeitscharakter der jüdischen Frömmigkeit höchster Ordnung. Das christliche Evangelium entstand demgegenüber als eine Verkündigung eines Nichtintellektuellen nur an Nichtintellektuelle, an die »geistlich Armen«. Das »Gesetz«, von dem Jesus keinen Buchstaben fortnehmen wollte, handhabte und verstand er so, wie die Unvornehmen und Ungelehrten, die ländlichen und kleinstädtischen Frommen es meist verstanden und den Bedürfnissen ihres Berufs anpaßten, im Gegensatz zu den hellenisierten Vornehmen und Reichen und zu dem kasuistischen Virtuosentum der Schriftgelehrten und Pharisäer: meist, so namentlich in den rituellen Vorschriften, speziell in der Sabbatheiligung, milde, in einigen Hinsichten, so in den Ehescheidungsgrundsätzen, strenger. Und es scheint, daß hier der paulinischen Auffassung insofern präludiert ist, wenn die Anforderungen des mosaischen Gesetzes als durch die Sündhaftigkeit der angeblich Frommen bedingt, bezeichnet werden. In jedem Fall stellt Jesus gelegentlich so eigene Gebote pointiert der alten Tradition gegenüber. Nicht angebliche »proletarische Instinkte« aber geben ihm jenes spezifische Selbstgefühl, das Wissen: daß er eins ist mit dem göttlichen Patriarchen, daß durch ihn und nur durch ihn der Weg zu jenem führt. Sondern daß er, der Nichtschriftgelehrte, das Charisma der Dämonenherrschaft und seiner gewaltigen Predigt besitzt, so besitzt, wie beide keinem Schriftgelehrten und Pharisäer zu Gebote stehen, daß er die Dämonen zwingen kann, wo die Menschen an ihn glauben, nur dort, sonst nicht, aber dann auch bei den Heiden, daß er in seiner Vaterstadt, bei seiner Familie, bei den Reichen und Vornehmen des Landes, bei den Schriftgelehrten und Gesetzesvirtuosen diesen Glauben, der ihm die magische Wunderkraft gibt, nicht findet, wohl aber bei den Armen und Bedrängten, bei Zöllnern, Sündern und selbst bei römischen Soldaten, – dies sind, was nie vergessen werden sollte, absolut entscheidende Komponenten seines messianischen Selbstgefühls. Deshalb erklingt das »Wehe« über die Galiläerstädte ganz ebenso wie der zornige Fluch über den widerspenstigen Feigenbaum, und deshalb wird ihm die Erwählung Israels immer wieder problematisch, die Bedeutung des Tempels zweifelhaft und die Verwerfung der Pharisäer und Schriftgelehrten zur Sicherheit.

Zwei absolute »Todsünden« kennt Jesus: die eine ist die »Sünde gegen den Geist«, die der Schriftgelehrte begeht, der das Charisma und seine Träger verachtet, die andere ist: zum Bruder zu sagen: »Du Narr« – der unbrüderliche Hochmut des Intellektuellen gegen den geistlich Armen. Dieser antiintellektualistische Zug, die Verwerfung der hellenischen wie der rabbinischen Weisheit, ist das einzige »ständische« und höchst spezifische Element der Verkündigung. Diese ist im übrigen[379] weit davon entfernt, eine Verkündigung für Jedermann und alle Schwachen zu sein. Gewiß, das Joch ist leicht, aber nur für die, welche wieder werden können wie die Kinder. In Wahrheit stellt sie gewaltige Anforderungen und ist streng heilsaristokratisch. Nichts liegt Jesus ferner als der Gedanke an einen Universalismus göttlicher Gnade, gegen den vielmehr seine ganze Verkündigung streitet: wenige sind auserwählt, durch die enge Pforte zu gehen, sie, die Buße tun und an ihn glauben; die anderen verstockt und verhärtet Gott selbst, und es sind naturgemäß gerade die Stolzen und Reichen, die am meisten diesem Schicksal verfallen. Das war gegenüber anderen Prophetien nichts völlig Neues: auch die altjüdische Prophetie hatte schließlich angesichts der Hoffahrt der Großen dieser Erde den Messias als einen König kommen sehen, der auf dem Lasttier der Armen in Jerusalem einzieht. Keinerlei »soziale« Position spricht daraus. Jesus speist bei wohlhabenden Leuten, die den Gesetzesvirtuosen ein Greuel sind. Auch dem reichen Jüngling wird das Verschenken des Reichtums ausdrücklich nur für den Fall geboten, daß er »vollkommen«, d.h.: ein Jünger, sein wolle. Das freilich setzt die Loslösung aus allen Banden der Welt voraus, aus der Familie so gut wie aus dem Besitz, wie bei Buddha und allen ähnlichen Propheten auch. Aber freilich – obwohl bei Gott alles möglich ist – bleibt die Anhänglichkeit an den »Mammon« eines der schwersten Hemmnisse für die Errettung zum Gottesreich. Sie lenkt von dem religiösen Heil, auf das allein alles ankommt, ab. Nicht ausdrücklich gesagt ist: daß sie auch zur Unbrüderlichkeit führe. Aber der Gedanke liegt in der Sache. Denn die verkündeten Gebote enthalten an sich auch hier die urwüchsige Nothilfeethik des Nachbarschaftsverbandes der kleinen Leute. Aber freilich ist alles »gesinnungsethisch« zur brüderlichen Liebesgesinnung systematisiert, dies Gebot »universalistisch« auf jeden, der jeweils gerade der »Nächste« ist, bezogen und zur akosmistischen Paradoxie gesteigert an der Hand des Satzes: daß Gott allein vergelten wolle und werde. Bedingungsloses Verzeihen, bedingungsloses Geben, bedingungslose Liebe auch des Feindes, bedingungsloses Hinnehmen des Unrechts, ohne dem Uebel mit Gewalt zu widerstehen, – diese Forderungen an den religiösen Heroismus könnten ja Produkt eines mystisch bedingten Liebesakosmismus sein. Aber es darf doch nicht, wie es oft geschieht, übersehen werden, daß sie bei Jesus überall mit dem jüdischen Vergeltungsgedanken in Beziehung gesetzt werden: Gott wird dereinst vergelten, rächen und lohnen, darum soll es der Mensch nicht tun und sich auch seiner Guttat nicht rühmen: sonst hat er sich seinen Lohn vorweggenommen. Deshalb, um sich Schätze im Himmel zu sammeln, soll man auch dem leihen, von dem man vielleicht nichts wiederbekommen wird, – denn sonst ist es kein Verdienst. Mit dem gerechten Ausgleich der Schicksale wird stark in der Lazaruslegende und auch sonst gelegentlich operiert: schon deshalb also ist Reichtum eine gefährliche Gabe. Im übrigen ist aber völlig entscheidend die absolute Indifferenz der Welt und ihrer Angelegenheiten. Das Himmelreich, ein Reich der leidlosen und schuldlosen Freude auf Erden ist ganz nahe herbeigekommen, dies Geschlecht wird nicht aussterben, ohne es zu sehen, es wird kommen wie der Dieb in der Nacht, ja es ist eigentlich schon mitten unter den Menschen im Anbruch begriffen. Man mache sich Freunde mit dem ungerechten Mammon, statt an ihm zu hängen. Man gebe dem Kaiser, was sein ist, – was liegt an solchen Dingen? Man bete zu Gott um das tägliche Brot und sorge sich nicht um den kommenden Tag. Das Kommen des Reichs kann ein menschliches Tun nicht beschleunigen. Aber man bereite sich darauf vor, daß es komme. Und hier wird dann, obwohl das Gesetz formell nicht aufgehoben wird, allerdings doch schlechthin alles auf die Art der Gesinnung abgestellt, der ganze Inhalt von Gesetz und Propheten mit dem einfachen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe identifiziert und der weittragende Satz hinzugefügt: daß man die echte Gesinnung an ihren Früchten, an ihrer Bewährung also, erkennen solle.

Nachdem dann die Auferstehungsvisionen, wohl sicher mit unter dem Einfluß der rundum weit verbreiteten soteriologischen Mythen, einen gewaltigen Ausbruch[380] pneumatischer Charismata und die Gemeindebildung, mit der eigenen, bisher ungläubigen Familie an der Spitze, und die folgenschwere Bekehrung des Paulus die Zerbrechung der Pariareligiosität unter Erhaltung der Kontinuität mit der alten Prophetie und die Heidenmission zur Folge gehabt hatte, blieb für die Stellung der Gemeinden des Missionsgebiets zur »Welt« die Wiederkunftserwartung einerseits, die überwältigende Bedeutung der charismatischen Gaben des »Geistes« andererseits, maßgebend. Die Welt bleibt, wie sie ist, bis der Herr kommt. Der Einzelne bleibe ebenso in seiner Stellung und seinem »Beruf« (κλῆσις), untertan der Obrigkeit, es sei denn, daß sie die Sünde von ihm verlangt)20.[381]


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 367-382.
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