Kapitel VI.

Die Marktvergesellschaftung

(Unvollendet.)

[382] Allen bisher besprochenen Gemeinschaftsgebilden, welche regelmäßig nur eine partielle Rationalisierung ihres Gemeinschaftshandelns in sich schließen, im übrigen aber in ihrer Struktur höchst verschieden geartet sind, – mehr oder minder amorph oder vergesellschaftet, mehr oder minder kontinuierlich oder diskontinuierlich, mehr oder minder offen oder geschlossen, – tritt nun als der [Arche-]Typos alles rationalen Gesellschaftshandelns die Vergesellschaftung durch Tausch auf dem Markt gegenüber. Von einem Markt soll gesprochen werden, sobald auch nur auf einer Seite eine Mehrheit von Tauschreflektanten um Tauschchancen konkurrieren. Daß sie sich örtlich auf dem Lokalmarkt, Fernverkehrsmarkt (Jahrmarkt, Messe), Kaufmannsmarkt (Börse) zusammenfinden, ist nur die konsequenteste Form der Marktbildung, welche allerdings allein die volle Entfaltung der spezifischen Erscheinung des Markts: des Feilschens, ermöglicht. Da die Erörterung der Marktvorgänge den wesentlichen Inhalt der Sozialökonomik bildet, sind sie hier nicht darzustellen. Soziologisch betrachtet, stellt der Markt ein Mit- und Nacheinander rationaler Vergesellschaftungen dar, deren jede insofern spezifisch ephemer ist, als sie mit der Uebergabe der Tauschgüter erlischt, sofern nicht etwa bereits eine Ordnung oktroyiert ist, welche den Tauschenden ihren Tauschgegnern gegenüber die Garantie des rechtmäßigen Erwerbs des Tauschgutes (Eviktionsgarantie) auferlegt. Der realisierte Tausch konstituiert eine Vergesellschaftung nur mit dem Tauschgegner. Das vorbereitende Feilschen aber ist stets ein Gemeinschaftshandeln, insofern die beiden Tauschreflektanten ihre Angebote an dem potentiellen Handeln unbestimmt vieler realer oder vorgestellter mitkonkurrierender anderer Tauschinteressenten, nicht nur an dem des Tauschgegners, orientieren, und um so mehr, je mehr dies geschieht. Jeder Tausch mit Geldgebrauch (Kauf) ist überdies Gemeinschaftshandeln kraft der Verwendung des Geldes, welches seine Funktion lediglich kraft der Bezogenheit auf das potentielle Handeln anderer versieht. Denn daß es genommen wird, beruht ausschließlich auf den Erwartungen, daß es seine spezifische Begehrtheit und Verwendbarkeit als Zahlungsmittel bewahren werde. Die Vergemeinschaftung kraft Geldgebrauchs ist der charakteristische Gegenpol jeder Vergesellschaftung durch rational paktierte oder oktroyierte Ordnung. Es wirkt vergemeinschaftend kraft realer Interessenbeziehungen von aktuellen und potentiellen Markt- und Zahlungsinteressenten, daß das Resultat: bei Vollentwicklung die sog. Geldwirtschaft, die sehr spezifischer Art ist, sich so verhält, als ob eine auf seine Herbeiführung abgezweckte Ordnung geschaffen worden wäre. Dies eben ist die Konsequenz davon, daß innerhalb der Marktgemeinschaft der Tauschakt, zumal aber der Geldtauschakt, sich nicht isoliert an dem Handeln des Partners, sondern, je rationaler er erwogen wird, desto mehr an dem Handeln aller potentiellen Tauschinteressenten orientiert. Die Marktgemeinschaft als solche ist die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können. Nicht weil der Markt einen Kampf unter[382] den Interessenten einschließt. Jede, auch die intimste, menschliche Beziehung, auch die noch so unbedingte persönliche Hingabe ist in irgendeinem Sinn relativen Charakters und kann ein Ringen mit dem Partner, etwa um dessen Seelenrettung, bedeuten. Sondern weil er spezifisch sachlich, am Interesse an den Tauschgütern und nur an diesen, orientiert ist. Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen. Sie alle bilden Hemmungen der freien Entfaltung der nackten Marktvergemeinschaftung und deren spezifische Interessen wiederum die spezifische Versuchung für sie alle. Rationale Zweckinteressen bestimmen die Marktvorgänge in besonders hohem Maße, und rationale Legalität, insbesondere: formale Unverbrüchlichkeit des einmal Versprochenen, ist die Qualität, welche vom Tauschpartner erwartet wird und den Inhalt der Marktethik bildet, welche in dieser Hinsicht ungemein strenge Auffassungen anerzieht: in den Annalen der Börse ist es fast unerhört, daß die unkontrollierteste und unerweislichste, durch Zeichen geschlossene Vereinbarung gebrochen wird. Eine solche absolute Versachlichung widerstrebt, wie namentlich Sombart wiederholt in oft glänzender Form betont hat, allen urwüchsigen Strukturformen menschlicher Beziehungen. Der »freie«, d.h. der durch ethische Normen nicht gebundene Markt mit seiner Ausnutzung der Interessenkonstellation und Monopollage und seinem Feilschen gilt jeder Ethik als unter Brüdern verworfen. Der Markt ist in vollem Gegensatz zu allen anderen Vergemeinschaftungen, die immer persönliche Verbrüderung und meist Blutsverwandtschaften voraussetzen, jeder Verbrüderung in der Wurzel fremd. Der freie Tausch findet zunächst nur nach außerhalb der Nachbargemeinschaft und aller persönlichen Verbände statt; der Markt ist eine Beziehung zwischen Orts-, Bluts- und Stammgrenzen, ursprünglich die einzige formell friedliche Beziehung zwischen ihnen. Einen Handel mit der Absicht, Tauschgewinn zu erzielen, kann es ursprünglich zwischen Gemeinschaftsgenossen nicht geben, wie er ja auch unter ihnen, in Zeiten agrarischer Eigenwirtschaften, kein Bedürfnis ist. Eine der charakteristischen Formen unentwickelten Handels: der stumme Tausch – Tausch unter Vermeidung persönlicher Berührung, bei dem das Angebot durch Niederlegung von Waren an üblicher Stelle, das Gegenangebot ebenso, das Feilschen durch Vermehrung der beiderseits angebotenen Objekte erfolgt, bis eine Partei entweder unbefriedigt abzieht oder befriedigt die Waren des Gegners mitnimmt – bringt den Gegensatz gegen die persönliche Verbrüderung drastisch zum Ausdruck. Die Garantie der Legalität des Tauschpartners beruht letztlich auf der beiderseits normalerweise mit Recht gemachten Voraussetzung, daß jeder von beiden an der Fortsetzung der Tauschbeziehungen, sei es mit diesem, sei es mit anderen Tauschpartnern auch für die Zukunft ein Interesse habe, daher gegebene Zusagen halten und mindestens eklatante Verletzungen von Treu und Glauben unterlassen werde. Soweit jenes Interesse besteht, gilt der Satz: »honesty is the best policy«, der natürlich keineswegs universale rationale Richtigkeit und daher auch schwankende empirische Geltung besitzt, die höchste natürlich für rationale Betriebe mit dauernd gegebenem Kundenkreis. Denn auf dem Boden fester, und daher einer Verknüpfung mit gegenseitiger persönlicher Würdigung in bezug auf die ethischen Marktqualitäten fähiger, Kundschaftsverhältnisse können die Tauschbeziehungen, getragen von dem Interesse der Beteiligten, den Charakter des schrankenlosen Feilschens am leichtesten wieder zugunsten einer im eigenen Interesse relativen Beschränkung der Preisschwankungen und der Ausnutzung der Augenblickskonstellation abstreifen. Die Einzelheiten der für die Preisbildung wichtigen Konsequenzen gehören nicht hierher. Der feste, d.h. der für alle Abnehmer gleiche Preis und die strikte Reellität sind nicht nur den regulierten lokalen Nachbarschaftsmärkten des Mittelalters im Okzident in spezifisch hohem Grade und im Gegensatz zum Orient und fernen Osten eigen, sondern sind außerdem eine[383] Voraussetzung und dann auch wieder Produkt eines bestimmten Stadiums kapitalistischer, nämlich der frühkapitalistischen Wirtschaft. Sie fehlen, wo dies Stadium nicht mehr besteht. Sie fehlen ferner allen denjenigen Ständen und anderen Gruppen, welche nicht regelmäßig und aktiv, sondern nur gelegentlich und passiv am Tausch beteiligt sind. Der Satz: caveat emptor gilt z.B. erfahrungsgemäß am meisten für den Verkehr mit feudalen Schichten oder etwa beim Pferdekauf unter Kameraden von der Kavallerie, wie jeder Offizier weiß. Die spezifische Marktethik ist ihnen fremd, der Handel für ihre Vorstellung wie für den bäuerlichen Nachbarverband ein- für allemal identisch mit einem Gebaren, bei dem die Frage lediglich die ist, wer betrogen wird.

Typische Schranken des Marktes sind durch sakrale Tabuierungen oder durch ständisch monopolistische Vergesellschaftungen, welche den Gütertausch nach außen unmöglich machen, gegeben. Gegen diese Schranken brandet nun unausgesetzt die Marktgemeinschaft an, deren bloße Existenz die Versuchung zur Teilnahme an ihren Gewinnchancen enthält. Ist der Appropriationsprozeß in einer monopolistischen Gemeinschaft einmal so weit fortgeschritten, daß sie nach außen geschlossen ist, sind also der Grund und Boden oder die Marknutzungsrechte in einer Dorfgemeinschaft definitiv und erblich appropriiert, so entsteht mit steigender Geldwirtschaft, welche steigende Differenzierung der durch indirekten Tausch zu befriedigenden Bedürfnisse und eine Existenz losgelöst vom Bodenbesitz ermöglicht, ein normalerweise steigendes Interesse der einzelnen Beteiligten daran, den appropriierten Besitz auch nach außen hin durch Tausch meistbietend verwerten zu können. Genau wie etwa Mitteilhaber einer ererbten Fabrik auf die Dauer fast stets zur Aktiengründung schreiten, um ihre Anteile frei veräußern zu können. Und von außen her andererseits verlangt eine entstehende kapitalistische Erwerbswirtschaft, je mehr sie erstarkt, desto mehr die Möglichkeit, sachliche Produktionsmittel und Arbeitsleistungen auf dem Markt, ungehemmt durch sakrale oder ständische Bindung, einhandeln [zu können] und ihre Absatzchancen von den Schranken ständischer Absatzmonopole befreit zu sehen. Die kapitalistischen Interessenten sind solange Interessenten der zunehmenden Erweiterung des freien Marktes, bis es einigen von ihnen gelingt, entweder durch Einhandelung von Privilegien aus der Hand der politischen Gewalt, oder lediglich kraft ihrer Kapitalmacht ihrem Güterabsatz oder auch für die Gewinnung ihrer sachlichen Produktionsmittel Monopole zu erringen und nun ihrerseits den Markt zu schließen. Der vollen Appropriation aller sachlichen Produktionsmittel folgt daher, – wenn die Interessenten des Kapitalismus in der Lage sind, die den Güterbesitz und die Art seiner Verwertung regulierenden Gemeinschaften zugunsten ihrer Interessen zu beeinflussen oder wenn innerhalb ständischer Monopolgemeinschaften die Interessen an der Verwertung des appropriierten Besitzes auf dem Markt die Uebermacht gewinnen, – zunächst die Sprengung der ständischen Monopole. Ferner die Beschränkung der durch den Zwangsapparat der den Güterbesitz regulierenden Gemeinschaft garantierten erworbenen und erwerbbaren Rechte lediglich auf sachliche Güter und Ansprüche aus Schuldverhältnissen mit Einschluß vereinbarter Arbeitsleistungen. Dagegen werden alle anderen Appropriationen, insbesondere alle Kundschaftsappropriationen und ständischen Absatzmonopole, vernichtet. Dies ist der Zustand, den wir freie Konkurrenz nennen und der solange dauert, bis andere: kapitalistische Monopole, auf dem Markt durch die Macht des Besitzes errungen, an seine Stelle treten. Diese kapitalistischen Monopole aber unterscheiden sich von den ständischen durch ihre rein ökonomisch rationale Bedingtheit. Die ständischen Monopole schließen durch Beschränkung entweder der Verkaufsmöglichkeit überhaupt, oder der zulässigen Verkaufsbedingungen den Marktmechanismus mit seinem Feilschen und vor allem mit seiner rationalen Kalkulation innerhalb ihres Machtbereichs aus. Die durch die Macht des Besitzes allein bedingten Monopole dagegen beruhen gerade umgekehrt auf rationaler Monopolistenpolitik, also auf einer durch rationalen Kalkül geleiteten Beherrschung der[384] möglicherweise formell gänzlich frei bleibenden Marktvorgänge. Die sakralen, ständischen und traditionellen Gebundenheiten sind die allmählich beseitigten Schranken der rationalen Marktpreisbildung, die rein ökonomisch bedingten Monopole sind umgekehrt deren letzte Konsequenz. Die ständischen Monopolisten behaupten ihre Macht gegen den Markt, schränken ihn ein, der rationale ökonomische Monopolist herrscht durch den Markt. Wir wollen diejenigen Interessenten, deren ökonomische Lage sie in den Stand setzt, vermöge der formalen Marktfreiheit zur Macht zu gelangen, die Marktinteressenten nennen.

Ein konkreter Markt kann einer autonom von den Marktbeteiligten vereinbarten oder einer von den verschiedensten Gemeinschaften, namentlich von politischen oder religiösen Verbänden oktroyierten Ordnung unterworfen sein. Soweit diese nicht eine Einschränkung der Marktfreiheit, d.h. des Feilschens und Konkurrierens, enthält oder Garantien für die Innehaltung der Marktlegalität, die Art der Zahlungen und Zahlungsmittel festsetzt, bezweckt sie in Epochen interlokaler Unsicherheit vor allem die Gewährleistung des Marktfriedens, dessen Garantie, da der Markt ursprünglich eine Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden, ist, zunächst regelmäßig, ebenso wie die völkerrechtsartigen Kriegsbräuche, göttlichen Mächten anheimgegeben wird. Sehr oft wird der Marktfrieden unter den Schutz eines Tempels gestellt, weiterhin pflegt aber dieser Friedensschutz vom Häuptling oder Fürsten zu einer Gebührenquelle gemacht zu werden. Denn der Tausch ist die spezifisch friedliche Form der Gewinnung ökonomischer Macht. Selbstverständlich kann er sich mit Gewaltsamkeit alternativ verbinden. Der Seefahrer der Antike und des Mittelalters nimmt sehr gern unentgeltlich, was er gewaltsam bekommen kann, und verlegt sich auf das friedliche Feilschen nur da, wo er dies entweder gegenüber ebenbürtiger Macht tun muß oder im Interesse sonst gefährdeter künftiger Tauschchancen es zu tun für klug hält. Die intensive Expansion der Tauschbeziehungen geht aber überall parallel mit einer relativen Befriedung. Die Landfrieden des Mittelalters stehen alle im Dienst von Tauschinteressen, und die Aneignung von Gütern durch freien, rein ökonomisch rationalen Tausch ist in der Form, wie Oppenheimer immer wieder betont hat, der begriffliche Gegenpol der Aneignung von Gütern durch Zwang irgendwelcher Art, am meisten: physischen Zwang, dessen geregelte Ausübung insbesondere für die politische Gemeinschaft konstitutiv ist.[385]


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 382-387.
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