§ 5. Formale und materiale Rationalisierung des Rechts. Theokratisches und profanes Recht.

[468] Bedeutung und allgemeine Bedingungen des Rechtsformalismus S. 468. Materiale Rationalisierung des Rechts: das sakrale Recht S. 470. Indisches Recht S. 472. Chinesisches Recht S. 473. Islâmisches Recht S. 474. Persisches Recht S. 476. Jüdisches Recht S. 477. Kanonisches Recht S. 480.


Wir sind mit diesen Erörterungen bei dem wichtigen, schon gelegentlich gestreiften Problem der Einwirkung der politischen Herrschaftsform auf die formalen Qualitäten des Rechts angelangt. Seine abschließende Erörterung setzt freilich die Analyse der Herrschaftsformen voraus, zu der wir erst weiterhin kommen. Aber einige allgemeine Bemerkungen sind schon hier zu machen. Die alte Volksjustiz, ursprünglich ein Sühneverfahren zwischen den Sippen, wird überall durch die Einwirkung der fürstlichen und magistratischen Gewalt (Bann, imperium) und, unter Umständen, der organisierten Priestergewalt aus ihrer primitiven formalistischen Irrationalität gerissen und zugleich auch der Rechtsinhalt von diesen Mächten nachhaltig beeinflußt. Und zwar verschieden je nach dem Charakter der Herrschaft. Je mehr der Herrschaftsapparat der Fürsten und Hierarchen ein rationaler, durch »Beamte« vermittelter war, desto mehr richtete sich auch ihr Einfluß (im ius honorarium und [in] den prätorischen Prozeßmitteln der Antike, in den Kapitularien der Frankenkönige, in den prozessualen Schöpfungen der englischen Könige und des Lordkanzlers, in der kirchlichen Inquisitionsprozedur) darauf, der Rechtspflege nach Inhalt und Form rationalen – freilich in verschiedenem Sinn rationalen – Charakter zu verleihen, irrationale Prozeßmittel auszuschalten und das materielle Recht zu systematisieren, und das bedeutete zugleich stets irgendwie: zu rationalisieren. In eindeutiger Weise hatten aber jene Gewalten diese rationalen Tendenzen nur da, wo entweder die Interessen ihrer eigenen rationalen Verwaltung sie auf diesen Weg wiesen (wie das päpstliche Kirchenregiment) oder wo sie im Bunde mit mächtigen Gruppen von Rechtsinteressenten standen, welche an dem rationalen Charakter des Rechts und Prozesses ein starkes Interesse hatten, wie die bürgerlichen Klassen in Rom, im ausgehenden Mittelalter und in der Neuzeit. Wo dies Bündnis fehlte, ist die Säkularisation des Rechts und die Herausdifferenzierung eines streng formal juristischen Denkens entweder in den Anfängen steckengeblieben, oder es ist ihr geradezu entgegengewirkt worden. Dies liegt, allgemein gesprochen daran, daß der »Rationalismus« der Hierarchen sowohl wie der Patrimonialfürsten materialen Charakters ist. Nicht die formal-juristisch präziseste, für die Berechenbarkeit der Chancen und die rationale Systematik des Rechts und der Prozedur optimale, sondern die inhaltlich den praktisch-utilitarischen und ethischen Anforderungen jener Autoritäten entsprechendste Ausprägung wird erstrebt; eine Sonderung von »Ethik« und »Recht« liegt, wie wir schon sahen, gar nicht in der Absicht dieser, jeder selbstgenugsam und fachmäßig »juristischen« Behandlung des Rechts durchaus fremd gegenüberstehenden Faktoren der Rechtsbildung. Speziell gilt dies in aller Regel von der theokratisch beeinflußten Rechtsbildung mit ihrer Kombination ethischer Anforderungen und juristischer Vorschriften. Aus den nichtjuristischen Bestandteilen einer von priesterlichen Einflüssen getragenen Rechtslehre konnten sich allerdings mit zunehmender Rationalisierung des Rechtsdenkens einerseits, der Vergesellschaftungsformen andererseits verschiedenerlei Konsequenzen ergeben. Entweder löste sich das heilige Gebot als »fas« von dem »ius« als dem gesatzten Recht für die Schlichtung der religiös indifferenten Interessenkonflikte der Menschen. Dann war diesem letzteren eine autonome Entwicklung zu einem, je nachdem mehr logisch oder mehr empirisch gearteten, rationalen und formalen Recht möglich, und [diese] ist auch in Rom ebenso wie im Mittelalter eingetreten. In welcher Art die Beziehungen zwischen religiös gebundenem Recht und[468] frei gesatztem Recht sich dabei regulierten, wird noch zu erörtern sein. Das religiöse Recht konnte dabei – wie wir noch sehen werden – mit wachsender Säkularisierung des Denkens einen Konkurrenten oder Ersatz in einem philosophisch begründeten »Naturrecht« erhalten, welches neben dem positiven Recht teils als ideales Postulat, teils als eine verschieden stark die Rechtspraxis beeinflussende Doktrin herging. Oder jene Lösung der heiligen Gebote vom weltlichen Recht fand nicht statt und die spezifisch theokratische Vermischung von religiösen und rituellen mit rechtlichen Anforderungen blieb bestehen. Dann entstand ein verschwommenes Ineinanderschieben von ethischen und rechtlichen Pflichten, sittlichen Vermahnungen und Rechtsgeboten ohne formale Schärfe: spezifisch unformales Recht also. Welche Alternative eintrat, hing teils von der früher schon erörterten inneren Eigenart der betreffenden Religion und ihrem prinzipiellen Verhältnis zu Recht und Staat ab, teils – wovon später zu reden sein wird – von der Machtstellung der Priesterschaft im Verhältnis zur politischen Gewalt, teils endlich von der Struktur dieser letzteren. Es ist eine Folge der später zu erörternden Bedingungen der Herrschaftsstrukturen, daß in fast allen asiatischen Rechtsgebieten der zuletzt genannte Zustand eintrat und bestehenblieb.

Gewisse gemeinsame Züge in der logischen Struktur des Rechts können aber Produkt untereinander sehr verschiedener Herrschaftsformen sein. Unformales Recht insbesondere pflegen auf der einen Seite die auf Pietät gestützten autoritären Gewalten zu schaffen, die Theokratie sowohl wie der Patrimonialfürst. Auf der anderen Seite können aber auch bestimmte Formen der Demokratie formal sehr ähnliche Konsequenzen haben. Der Grund liegt darin, daß in allen diesen Fällen es sich um Mächte handelt, deren Träger – der Hierarch, der Despot (gerade der »aufgeklärte«), der Demagoge – außer an solche Normen, die von ihnen für schlechthin religiös heilig und daher absolut verbindlich angesehen werden müssen, an keinerlei formale Schranken, auch nicht an die von ihnen selbst gesetzten Regeln, gebunden sein wollen. Ihnen allen steht der unvermeidliche Widerspruch zwischen dem abstrakten Formalismus der Rechtslogik und dem Bedürfnis nach Erfüllung materialer Postulate durch das Recht im Wege. Denn indem der spezifische Rechtsformalismus den Rechtsapparat wie eine technisch rationale Maschine funktionieren läßt, gewährt er dem einzelnen Rechtsinteressenten das relative Maximum an Spielraum für seine Bewegungsfreiheit und insbesondere für die rationale Berechnung der rechtlichen Folgen und Chancen seines Zweckhandelns. Er behandelt den Rechtsgang als eine spezifische Form befriedeten Interessenkampfs, den er an feste, unverbrüchliche »Spielregeln« bindet. Das urwüchsige Sühneverfahren zwischen den Sippen ebenso wie die dinggenossenschaftliche Justiz haben ein streng formal gebundenes Beweisrecht. Seinem Ursprung nach war dies, wie wir sahen, durch magische Vorstellungen bedingt: die Beweisfrage muß richtig und von der richtigen Seite gestellt werden. Und auch weiterhin bleibt der Gedanke, daß man durch rationale Mittel eine »Tatsache« im Sinn des heutigen Prozesses »feststellen« könne, insbesondere durch das heute wichtigste Mittel der Vernehmung von »Zeugen« oder durch »Indizien«, der Rechtspflege lange Zeit fremd. Der »Eideshelfer« des alten Prozesses schwört nicht, daß eine »Tatsache« wahr sei, sondern er bekräftigt das »Recht« seiner Partei durch Einsetzung seiner Person dem göttlichen Fluch gegenüber. Die Praxis selbst ist übrigens mindestens so realistisch wie die heutige: die Mehrzahl aller Zeugen auch im heutigen Prozeß faßt ihre Rolle kaum anders auf als so: daß sie zu schwören haben, wer »recht« habe. Das alte Recht faßt demgemäß den »Beweis« nicht als eine »Pflicht«, sondern mindestens sehr weitgehend als ein Recht der Partei auf, das es ihr zuweist. Der Richter aber ist streng an diese Regeln und an die traditionellen Beweismittel gebunden. Die moderne »Beweislast«-Theorie noch des »gemeinen« Prozesses unterscheidet sich davon nur durch die Auffassung des Beweises als »Pflicht«. Im übrigen aber bindet auch sie den Richter an die Beweisanträge und Beweismittel, welche die Parteien ihm darbieten. Nicht anders in der gesamten Behandlung des Prozeßbetriebs. Kraft der »Verhandlungsmaxime«[469] wartet der Richter die Anträge der Parteien ab. Was diese nicht beantragen oder nicht vorbringen, existiert für ihn nicht; was mit den allgemein geordneten Beweismitteln, irrationalen oder rationalen, nicht ermittelt wird, ebenfalls nicht. Er erstrebt also nur diejenige relative Wahrheit, welche innerhalb der durch Prozeßakte der Parteien gegebenen Grenzen erreichbar ist. Genau dies war auch hier[in] der Charakter der Rechtsfindung in deren scharf ausgeprägter ältester [uns] zugänglicher Form: dem Sühne- und Schiedsverfahren zwischen streitenden Sippen, mit Orakel oder Gottesurteil als Prozeßmitteln. Streng formal, wie alle auf Anrufung magischer oder göttlicher Mächte ausgerichtete Tätigkeit, erwartete dieser Rechtsgang ein material »richtiges« Urteil durch den irrationalen, übernatürlichen Charakter der entscheidenden Prozeßmittel. Wenn aber die Autorität dieser irrationalen Mächte und der Glaube an [sie] geschwunden ist und nun rationale Beweismittel und logische Urteilsbegründung an ihre Stelle treten müssen, so bleibt der formalen Rechtspflege lediglich der Charakter des in der Richtung einer wenigstens relativ optimalen Chance der Wahrheitsermittlung geregelten Interessenkampfs der Parteien. Deren Angelegenheit, nicht die der öffentlichen Gewalt, ist der Betrieb des Prozesses. Der Richter zwingt sie nicht, etwas zu tun, was sie nicht von sich aus verlangen. Eben deshalb kann er aber dem Bedürfnis nach optimaler Erfüllung materialer Anforderungen an eine dem konkreten Zweckmäßigkeits- oder Billigkeitsgefühl für den einzelnen Fall genügende Rechtspflege der Natur der Sache nach gar nicht entsprechen, möge es sich bei jenen materialen Forderungen nun um politisch-zweckrational oder ethisch-gefühlsmäßig motivierte Zumutungen an die Rechtspflege handeln. Denn jene durch formale Justiz gewährte maximale Freiheit der Interessenten in der Vertretung ihrer formal legalen Interessen muß schon infolge der Ungleichheit der ökonomischen Machtverteilung, welche durch sie legalisiert wird, immer wieder den Erfolg haben, daß materiale Postulate der religiösen Ethik oder auch der politischen Räson verletzt erscheinen. Dies aber gibt allen autoritären Gewalten: der Theokratie wie dem Patriarchalismus, Anstoß, schon deshalb, weil es die Abhängigkeit des Einzelnen von der freien Gnade und Macht der Autoritäten lockert, der Demokratie aber deshalb, weil es die Abhängigkeit der Rechtspraxis und damit der Einzelnen von Beschlüssen der Genossen mindert: so kann insbesondere die Chance einer zunehmenden Differenzierung der ökonomischen und sozialen Machtlage durch die Gestaltung des Prozesses zu einem friedlichen Interessenkampf noch gesteigert werden. In allen diesen Fällen verletzt sie inhaltliche Gerechtigkeitsideale durch ihren unvermeidlich abstrakten Charakter.

In eben diesem abstrakten Charakter aber pflegen andererseits nicht nur die jeweils ökonomisch Mächtigen und daher an der freien Ausbeutung ihrer Macht Interessierten, sondern auch alle ideologischen Träger solcher Bestrebungen, welche gerade die Brechung autoritärer Gebundenheit oder irrationaler Masseninstinkte zugunsten der Entfaltung der individuellen Chancen und Fähigkeiten herbeiführen möchten, einen entscheidenden Vorzug der formalen Justiz, in der unformalen dagegen nur die Chance absoluter Willkür und subjektivistischer Unstetheit [zu] sehen. Ihnen werden alle diejenigen politischen und ökonomischen Interessenten zufallen, welchen die Stetigkeit und Kalkulierbarkeit des Rechtsganges wichtig sein muß, also speziell die Träger rationaler ökonomischer und politischer Dauerbetriebe. Vor allem den ersteren wird die formale und zugleich rationale Justiz als Garantie der »Freiheit« gelten, eben desjenigen Gutes, welches theokratische oder patriarchal-autoritäre ebenso wie unter Umständen demokratische, jeden falls alle ideologisch an materialer Gerechtigkeit interessierten Mächte verwerfen müssen. Diesen allen ist nicht mit formaler, sondern mit »Kadijustiz« gedient. Die Volksjustiz in der unmittelbaren attischen Demokratie z.B. war eine solche in hohem Maße. Zwar nicht dem formalen Recht, wohl aber der Wirkung nach ist es nicht selten noch die moderne Geschworenenjustiz. Denn auch bei dieser immerhin stark formal eingeengten Form einer begrenzten Mitwirkung von Volksjustiz besteht die Neigung, sich an formale Rechtsregeln[470] nur soweit zu binden, als der Rechtsgang dazu technisch direkt nötigt. Im übrigen urteilt jede Volksjustiz, je mehr sie dies ist, nach dem konkreten, ethisch oder – besonders in Athen, aber auch heutzutage – politisch oder sozialpolitisch bedingten »Gefühl«. Darin begegnen sich die Tendenzen einer souveränen Demokratie mit den autoritären Mächten der Theokratie und des patriarchalen Fürstentums. Denn es ist das gleiche, wenn, dem formalen Recht zuwider, französische Geschworene den Ehemann, der den ertappten Ehebrecher tötet, regelmäßig freisprechen, oder wenn Friedrich II. [von Preußen] »Kabinettsjustiz« zugunsten des Müllers Arnold übte. Das ganze Wesen der theokratischen Justiz vollends besteht in dem Vorwalten konkreter ethischer Billigkeitsgesichtspunkte, deren unformale und antiformale Tendenz bei ihr nur in dem ausdrücklich festgelegten heiligen Recht ihre Schranke findet. Wo dessen Normen eingreifen, gebiert sie dagegen umgekehrt eine ungemein formalistische Kasuistik zwecks Anpassung an die Bedürfnisse der Rechtsinteressenten. Die weltliche patrimonial-autoritäre Justiz ist, auch wo sie sich ihrerseits an die Tradition binden muß, bei deren immerhin größerer Elastizität wesentlich freier gestellt. Die typische Honoratiorenjustiz endlich zeigt zuweilen ein doppeltes Gesicht, je nachdem es sich um die typischen Rechtsinteressen der Honoratiorenschicht selbst oder der von ihr beherrschten Schichten handelt. Die englische Justiz z.B. war in allen vor die Reichsgerichte gelangenden Angelegenheiten streng formale Justiz. Aber die Friedensrichterjustiz gegenüber den Alltagshändeln und -delikten der Massen war in einem Grade unformal und direkt »Kadijustiz«, wie es für uns auf dem Kontinent völlig unbekannt ist. Und die Kostspieligkeit der Anwaltsjustiz bedeutete andererseits für die Unbemittelten im Effekt hier ebenso wie aus anderen Gründen die republikanisch römische Justiz eine faktische Rechtsverweigerung, welche den Interessen der besitzenden, auch der kapitalistischen, Schichten weit entgegenkam. Wo ein solcher Dualismus der Rechtspraxis: formale Justiz für die Konflikte innerhalb der eigenen Schicht, Willkür oder faktische Rechtsverweigerung gegenüber den ökonomisch Schwachen, nicht zu erreichen ist, da pflegen kapitalistische Interessenten natürlich bei universeller Durchführung streng formaler, auf der Verhandlungsmaxime ruhender Justiz am besten zu fahren. Und da die Honoratiorenjustiz mit ihrer unvermeidlich wesentlich empirischen Rechtspraxis, ihrem komplizierten Prozeßmittelsystem und ihrer Kostspieligkeit auch ihren Interessen starke Hemmnisse bereiten kann: – nicht durch, sondern zum Teil auch trotz der Struktur seines Rechts gewann England den kapitalistischen Primat –, so pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis, und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt und also subjektives Recht nur aus objektiven Normen hervorgehen läßt. Die englischen Puritaner haben ein solches systematisch kodifiziertes Recht ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt. Bis dahin war aber ein weiter Weg.

Nicht nur bei der theokratisch, sondern auch bei der durch weltliche Honoratioren, im Wege der Rechtsprechung oder der privaten oder offiziell anerkannten Rechtskonsultation, geleiteten Justiz und ebenso bei der auf dem imperium und der Banngewalt der die Prozesse instruierenden Magistrate, Fürsten und Beamten beruhenden Entwicklung des Rechts und Rechtsganges bleibt zunächst die Vorstellung unangetastet: daß das Recht grundsätzlich etwas von jeher gleichmäßig Geltendes, nur der eindeutigen Interpretation und Anwendung auf den Einzelfall Bedürftiges sei. Immerhin war, wie wir sahen, selbst bei ökonomisch sehr wenig differenzierten Verhältnissen ein Vordringen rational vereinbarter Normen an sich recht wohl möglich, sofern nur die Gewalt der magischen Stereotypierung gebrochen war. Die Existenz irrationaler Offenbarungsmittel als des einzigen Weges zu Neuerungen bedeutete immerhin faktisch oft eine weitgehende Beweglichkeit der Normen, ihr Fortfall nicht selten eine erhöhte Stereotypierung, weil nun die Macht der sakralen Tradition[471] ganz allein als »heilig« auf dem Plan blieb und von den Priestern zu einem System sakralen Rechts sublimiert wurde.

In sehr verschiedenem Maß ist die Herrschaft sakralen Rechts und sakraler Rechtsschöpfung in die einzelnen geographischen und sachlichen Rechtsgebiete eingedrungen und aus ihnen wieder zurückgedrängt worden. Wir lassen hier das durch ursprünglich rein magische Normen begründete spezifische Interesse des heiligen Rechts an allen Straf- und Sühneproblemen, ebenso sein in anderem Zusammenhang zu erörterndes Interesse am politischen Recht und endlich die ebenfalls ursprünglich magisch bedingten Normen über die sakralrechtlich statthaften Zeiten, Orte und Beweismittel der Prozedur ganz beiseite und wollen im wesentlichen nur das Gebiet des »Zivilrechts« im üblichen Sinn betrachten. Hier waren die Grundsätze über Zulässigkeit und Folgen der Eheschließung, das Familienrecht und das ihm dem Wesen nach zugehörige Erbrecht eine Hauptdomäne sakralen Rechts: in China und Indien ebenso wie im römischen fas, in der islâmischen scharî'a und im kanonischen Recht des Mittelalters. Die alten magischen Inzestverbote waren Vorläufer der religiösen Kontrolle der Ehe. Die Wichtigkeit gültiger Ahnenopfer und anderer sacra der Familie traten hinzu und bedingten das Eingreifen des heiligen Rechts in Familien- und Erbrecht. Im Gebiet des Christentums, wo die letztgenannten Interessen teilweise fortfielen, wirkte dann das fiskalische Interesse der Kirche an der Gültigkeit der Testamente in der Richtung der Aufrechterhaltung der Erbrechtskontrolle. Mit dem profanen Verkehrsrecht konnten zunächst die religiösen Normen über die religiösen Zwecken gewidmeten oder aus anderen Gründen heiligen oder (umgekehrt) magisch tabuierten Objekte und Örtlichkeiten in Konflikte geraten. In das Gebiet des Kontraktrechts griff das sakrale Recht aus formalen Gründen dann ein, wenn – was ungemein häufig, ursprünglich wohl regelmäßig, geschah – eine religiöse Verpflichtungsform, z.B. Eid, gewählt worden war. Aus materialen Gründen dann, wenn zwingende Normen der religiösen Ethik, wie z.B. das Wucherverbot, in Frage standen. Über diesen letzten Punkt ist schon bei der Erörterung der ökonomischen Bedeutung der religiösen Ethik gesprochen worden. Aus dem dort Gesagten geht auch hervor, daß sich die Beziehung des profanen zum sakralen Recht ganz allgemein höchst verschieden gestaltete, je nach dem prinzipiellen Charakter der religiösen Ethik. Soweit diese im Stadium magischen und ritualistischen Formalismus verharrte, konnte sie unter Umständen durch raffinierte Rationalisierung der magischen Kasuistik mit Hilfe ihrer eigenen Mittel bis zur vollkommenen Wirkungslosigkeit paralysiert werden. Das römische fas ist im Laufe der republikanischen Zeit gänzlich diesem Schicksal verfallen. Es gab schlechthin keine heilige Norm, für deren Ausschaltung nicht ein geeignetes sakral-technisches Mittel oder eine Umgehungsform erfunden worden wäre. Die religiöse Kassationsgewalt des Augurenkollegiums gegen Volksschlüsse – denn darauf lief der Einspruch wegen religiöser Formfehler und böser omina im Ergebnis hinaus – ist in Rom niemals, wie das ebenfalls sakral mitbedingte Kassationsrecht des Areiopags in Athen durch Ephialtes und Perikles, formell abgeschafft worden. Aber es diente bei der absoluten Herrschaft des weltlichen Amtsadels über die Priesterschaft wesentlich nur politischen Zwecken, und seine Kasuistik wurde auch in dieser Funktion, ganz ebenso wie die des materialen fas, durch sakraltechnische Mittel so gut wie unschädlich gemacht. Das durchaus säkularisierte »ius« war daher ebenso wie das hellenische Recht der Spätzeit vor Eingriffen von dieser Seite trotz des ungeheuren Raumes, welchen im römischen Leben die Rücksicht auf die rituellen Pflichten einnahm, durchaus gesichert. Die Unterwerfung der priesterlichen unter die profane Gewalt auf dem Boden der antiken Polis entschied, nächst gewissen früher erwähnten Eigentümlichkeiten der römischen Götterwelt und ihrer Behandlung, diese Entwicklung.

Ganz anders, wo eine herrschende Priesterschaft das gesamte Leben ritualistisch zu reglementieren vermochte und das gesamte Recht weitgehend unter ihrer Kontrolle behielt, wie namentlich in Indien. Dort ist der Theorie nach das gesamte Recht[472] in den Dharmasûtras enthalten. Die rein profane Rechtsbildung blieb daher auf die Entwicklung von Partikularrechten für die einzelnen Berufsstände: Kaufleute, Handwerker usw., beschränkt. Das Recht der Berufsverbände und Kasten, sich ihr Recht selbst zu setzen, also der Satz: Willkür bricht Landrecht, war von niemandem bezweifelt, und fast alles praktisch geltende profane Recht entstammt diesen Quellen. Da aber dies praktisch für die meisten profanen Lebensverhältnisse allein in Betracht kommende Recht nicht Gegenstand der Priesterlehre und der philosophischen Schullehre und also überhaupt gar keiner berufsmäßigen Pflege war, entbehrt es jeglicher Rationalisierung und, trotz praktisch oft weitgehender Unbekümmertheit um die sakralen, der Theorie nach auch hier absolut zwingenden Normen, doch in Abweichungsfällen der sicheren Geltungsgarantie. Die indische Rechtsfindung verleugnet die eigentümliche Mischung aus magischen und rationalen Elementen nicht, welche dem Charakter der Religiosität einerseits, der theokratisch-patriarchalen Lebensreglementierung andererseits entspricht. Der Formalismus des Rechtsganges ist im ganzen gering; dinggenossenschaftlichen Charakter besitzen die Gerichte nicht; die Bindung des Königs an das Urteil des Oberrichters und die Vorschrift der Zuziehung von Laienbeisitzern (Kaufleute und Schreiber in den älteren, Zunftmeister und Schreiber in den jüngeren Quellen) entstammt rationaler Ordnung. Der autonomen Rechtssatzung der Verbände entspricht die große Bedeutung der privaten Schiedsgerichte. Andererseits ist aber von den organisierten Gerichten der Verbände prinzipiell die Berufung an die öffentlichen Gerichte zulässig. Die Beweismittel sind heute primär rational: Urkunden und Zeugen. Die Ordale waren für die Fälle der mangelnden Eindeutigkeit des rationalen Beweises reserviert; hier aber waren sie, speziell der Eid (Wartefrist auf die Folgen der Selbstverfluchung) in ihrer ungebrochenen magischen Bedeutung erhalten. Ebenso standen die magischen Zwangsvollstreckungsmittel (Verhungern des Gläubigers vor der Tür des Schuldners) neben der amtlichen Exekution und neben legalisierter Selbsthilfe. Ein ziemlich vollständiger Parallelismus sakralen und profanen Rechtsbestand im Kriminalverfahren; aber auch die Tendenz zur Verschmelzung beider fand sich entwickelt, und im ganzen waren sakrales und profanes Recht praktisch eine ungeschiedene Einheit geworden, welche die Reste des alten arischen Rechts überdeckte, ihrerseits aber wieder durch die autonome Justiz der Verbände, vor allem aber durch die Kastenjustiz durchbrochen wurde, die über das wirksamste aller Zwangsmittel verfügte: die Ausstoßung aus der Kaste. – Keineswegs gering war auch der legislatorische Einfluß buddhistischer Ethik innerhalb des Geltungsbereichs des Buddhismus als Staatsreligion (Ceylon, Hinterindien, namentlich Kambodscha und Birma). Die Gleichstellung von Mann und Weib (kognatisches Erbrecht, Gütergemeinschaft), die Elternpietät im Interesse des jenseitigen Elternschicksals (daher Schuldenhaftung der Erben), die gesinnungsethische Sublimierung des Rechts, der Sklavenschutz, die Milde des Strafrechts (mit Ausnahme des, im Kontrast dazu, oft höchst grausamen politischen Strafrechts), die Wohlverhaltensbürgschaft kommen auf seine Rechnung. Im übrigen aber war selbst die relativierte Weltethik des Buddhismus so durchaus auf die Gesinnung einerseits, rituellen Formalismus andererseits abgestellt, daß ein eigentliches heiliges »Recht«, als Objekt einer besonderen Doktrin, auf diesem Boden schwer entstehen konnte. Immerhin hat sich doch eine Rechtsbuchliteratur hinduistischen Gepräges entwickelt und es ermöglicht, in Birma 1875 das »buddhistische Recht« (d.h. ein buddhistisch modifiziertes Recht indischer Provenienz) zum offiziellen Recht zu proklamieren.

In China hat umgekehrt die alleinherrschende Bürokratie die magischen und animistischen Pflichten auf das rein rituelle Gebiet beschränkt, von wo aus sie freilich, wie wir schon sahen und noch sehen werden, ziemlich tiefgreifende Einflüsse auch auf die Wirtschaft ausgeübt haben. Die Irrationalitäten der Justiz aber sind dort patrimonial, nicht theokratisch bedingt. Wie die Prophetie überhaupt, so ist auch die Rechtsprophetie in historischer Zeit in China unbekannt. Es findet sich auch[473] keine Schicht respondierender Juristen und überhaupt, scheint es, keine spezifische Rechtsschulung, dem patriarchalen Charakter des politischen Verbandes entsprechend, welcher der Entwicklung eines formalen Rechts widerstrebte. Konsulenten über magische Riten sind die »Wu« und »Hi'« (»taoistische« Zauberpriester); als Berater in zeremoniellen und rechtlichen Angelegenheiten fungieren für Familie, Sippe, Dorf die examinierten, also literarisch gebildeten Mitglieder aus ihrer Mitte.

Der Islâm kennt der Theorie nach so gut wie kein Gebiet des Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen der Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten. Der Tatsache nach haben umfassende Rezeptionen hellenischen und römischen Rechts stattgefunden. Offiziell aber wird das gesamte bürgerliche Recht als Interpretation oder gewohnheitsrechtliche Fortbildung des Korân in Anspruch genommen. Dies geschah namentlich, nachdem der Sturz der Omajjaden und die Begründung der 'Abbâsidenherrschaft unter dem Schlagwort der Rückkehr zur heiligen Tradition die cäsaropapistischen Prinzipien der zarathustrischen Sasaniden auf den Islâm übertrug. Die Stellung des heiligen Rechts im Islâm ist ein geeignetes Paradigma für die Wirkung heiliger Rechte in eigentlichen prophetisch geschaffenen »Buchreligionen«. Der Korân enthält eine ganze Reihe rein positiver rechtlicher Vorschriften (etwa die Aufhebung des Eheverbots mit der Adoptivschwiegertochter – Muhammed gab sich selbst diese Freiheit). Aber der Schwerpunkt der juristischen Vorschriften hat einen anderen Ursprung. Formell kleiden sie sich in aller Regel in die Gestalt des »ḥadîth«: exemplarischer Handlungen und Aussprüche des Propheten, deren Authentizität durch Sukzession der Garanten bis zu Zeitgenossen, ursprünglich bis zu besonders qualifizierten Lebensgefährten Muhammeds von Mund zu Mund sich zurückverfolgen läßt. Sie sind oder gelten um dieser unentbehrlichen Ununterbrochenheit der persönlichen Garantenreihe willen als ausschließlich mündlich überliefert und bilden die »sunna«. Diese ist nicht etwa Korân-»Interpretation«, sondern Tradition neben dem Korân; ihr ältester Bestand stammt zum sehr wesentlichen Teil aus der vorislâmischen Zeit, speziell aus der Coutume von Medîna, deren Redaktion als sunna auf Mâlik ibn Anas zurückgeführt wird. Aber weder Korân noch sunna sind als solche die unmittelbaren Rechtsquellen, welche der Richter benutzt. Sondern diese werden durch den »fiqh« gebildet, die Produkte der spekulativen Arbeit der Juristenschulen, Sammlungen von ḥadîths, entweder nach Autoren geordnet (musnad) oder systematisch nach Gegenständen (muṣannaf, von denen 6 den Traditions-Canon bilden). Der fiqh umfaßt sittliche wie rechtliche Gebote und enthält, seit der Immobilisierung des Rechts, immer zahlreichere Partien völlig obsoleten Charakters. Die Immobilisierung aber vollzog sich offiziell dadurch, daß die charismatische, rechtsprophetische Kraft (idschtihâd) der Rechtsausle gung für seit dem 7./8. Jahrhundert der Hidschra, dem 13./14. der christlichen Ära, erloschen galt, – ähnlich der uns bekannten Auffassung der christlichen Kirche und des Judentums über den Abschluß des prophetischen Zeitalters. Die Rechtspropheten: mudschtahidîn, des charismatischen Zeitalters galten noch als Träger der Rechtsoffenbarung, in vollem Umfang allerdings nur noch die Gründer der vier als orthodox anerkannten Rechtsschulen (madhhab). Nach dem Erlöschen der idschtihâd dagegen gibt es nur noch muqallidîn, Kommentatoren, und ist die Stabilität des Rechts absolut. Der Kampf der vier Rechtsschulen war zunächst ein Kampf um die Qualitäten der orthodoxen sunna, wurde aber im Zusammenhang damit zum Kampf um die Auslegungsmethode, und auch ihr Gegensatz wurde seit der Immobilisierung des Rechts zunehmend stereotypiert. Während die kleine ḥanbalitische Schule alle »bida'«, alles neue Recht, alle neueren ḥadîths, alle rationalen Mittel der Rechtsauslegung ablehnt und sich auch durch den Grundsatz »coge intrare« von den anderen, prinzipiell gegeneinander toleranten Schulen scheidet, trennt diese wesentlich die Rolle, welche der juristischen Kunst für die Rechtsschöpfung zugewiesen wird. Die, lange Perioden hindurch in Afrika und Arabien herrschende mâlikitische Schule war, ihrem Ursprung am ältesten politischen Sitz des Islâm (Medîna) entsprechend, besonders unbefangen in der[474] Übernahme vorislâmischen Rechts, gilt aber gegenüber der ḥanafitischen, aus dem 'Irâq stammenden, daher stark byzantinisch beeinflußten, am Hof der Khalifen maßgebenden, in der Türkei offiziell rezipierten und auch in Ägypten offiziell herrschenden Schule [als] stärker traditionsgebunden. Die stärker höfisch adaptierte Jurisprudenz der Ḥanafiten scheint vornehmlich die empirische Technik der islâmischen Juristen, die Verwertung der Analogie (qijâs), entwickelt und daneben speziell auch das »ra'j«, die wissenschaftliche Lehrmeinung, als eine selbst den rezipierten Korâninterpretationen gegenüber selbständige Quelle vertreten zu haben. Die schâfi'itische Schule endlich, von Bagdad ausgegangen, in Südarabien, Ägypten, Indonesien verbreitet, gilt als die wissenschaftliche Technik und die fremdrechtlichen Anleihen der Ḥanafiten ebenso wie die freie Stellung der Mâlikiten zur Tradition ablehnend, also traditionalistisch, scheint aber den gleichen Effekt durch massenhafte Rezeption von zweifelwürdigen ḥadîths in die Tradition zu erreichen. Der Kampf zwischen den Aṣḥab al-Ḥadîth, den konservativen Traditionalisten, und den Aṣḥab al-Fiqh, den rationalistischen Juristen, durchzog die ganze islâmische Rechtsgeschichte.

Das islâmische heilige Recht ist durchweg spezifisches »Juristenrecht«. Seine Geltung beruht auf dem »idschmâ'« (idschmâ'-al–'ammah = tacitus consensus omnium), der praktisch als Übereinstimmung der Rechtspropheten, der großen Juristen (fuqahâ') also, definiert ist. Offiziell gilt neben der Infallibilität des Propheten selbst nur die Infallibilität des idschmâ'. Korân und sunna sind nur die historischen Quellen des letzteren. Nicht sie, sondern die Kompilationen des idschmâ' schlägt der Richter auf; die selbständige Interpretation der heiligen Schriften und Tradition ist ihm untersagt. Die Stellung der Juristen als solcher war an sich derjenigen der römischen ähnlich, an die ja auch die Schulorganisation erinnert: ein Nebeneinander von Konsultationspraxis und Unterricht von Schülern, also Beziehung sowohl zu den praktischen Bedürfnissen der Rechtsinteressenten wie zu den, systematische Gliederung erheischenden praktisch-pädagogischen Bedürfnissen. Allein die rechtliche Gebundenheit an die festgelegte Interpretationsmethode des Schulhauptes und an die gegebenen Kommentare schloß, seit dem Abschluß der idschtihâd-Periode, jede freie Bewegung aus, und in den offiziellen Universitäten, wie etwa Al-Azhar in Kairo – die Vertreter jeder der vier orthodoxen Schulen als Lehrer umfaßt –, verwandelte sich die Lehre in ein äußerst mechanisches Vor- und Nachsprechen feststehender Sentiments. –

Wesentlich die Organisation des Islâm: das Fehlen sowohl von Konzilien wie eines unfehlbaren Lehramts, bedingte diese Entwicklung des heiligen Rechts zu einem stereotypierten Juristenrecht. Im praktischen Effekt blieb die unmittelbare Geltung des heiligen Rechts auf bestimmte fundamentale Institutionen, und zwar im ganzen auf einen nicht sehr wesentlich größeren Umkreis sachlicher Rechtsgebiete beschränkt wie z.B. das mittelalterliche kanonische Recht. Nur hat der prinzipielle Universalismus der Herrschaft der heiligen Tradition die Konsequenz gehabt, daß unabweisliche Neuerungen regelmäßig sich nur auf ein für den Einzelfall eingeholtes oder erschlichenes Fetwâ oder auf die strittige Kasuistik der verschiedenen konkurrierenden orthodoxen Rechtsschulen stützen konnten. Daraus ergab sich neben der früher erwähnten mangelnden formalen Rationalität des Rechtsdenkens vor allem auch die Unmöglichkeit einer systematischen Rechtsschöpfung zum Zweck der inneren und äußeren Vereinheitlichung des Rechts. Das heilige Recht konnte weder beseitigt noch, trotz aller Adaptierungen, wirklich in der Praxis durchgeführt werden. Die gegebenenfalls vom Qâḍî oder [von] den Interessenten, ganz nach römischer Analogie, einzuholenden maßgebenden Responsen der amtlich zugelassenen Juristen: Muftîs, mit dem Scheich ul-Islâm an der Spitze, sind ungemein stark opportunistisch bedingt, schwankend von Person zu Person, ergehen nach Art der Orakel ohne Angabe rationaler Gründe und haben nicht das geringste zu einer Rationalisierung des Rechts beigetragen, vielmehr die Irrationalität des heiligen Rechts praktisch[475] noch gesteigert. Und dabei gilt das heilige Recht nur als Standesrecht für die Rechtsgenossen des Islâm, nicht für die unterworfenen Andersgläubigen. Die Folge war der Fortbestand der Rechtspartikularität in allen ihren Formen: sowohl als ständische für die verschiedenen geduldeten und teils positiv, teils negativ privilegierten Konfessionen, wie als Orts- oder Berufsgebrauch nach dem Satz: Willkür bricht Landrecht, so zweifelhaft hier wie anderwärts dessen Tragweite gegenüber den, ihrem Anspruch nach unbedingt geltenden, dabei aber schwankend interpretierten, heiligen Normen sein mußte. Das islâmische Geschäftsrecht speziell hat in Fortbildung der spätantiken Rechtstechnik für den Handel Institutionen entwickelt, welche der Okzident teilweise direkt übernahm. Aber ihre Geltung war innerhalb des Islâm zum erheblichen Teil nur durch die Verkehrsloyalität und den ökonomischen Einfluß der Kaufleute auf die Rechtsprechung garantiert, nicht durch Satzungen oder sichere Prinzipien eines rationalen Rechts: die heilige Tradition hätte den meisten dieser Institutionen eher bedrohlich werden können, als daß sie sie gefördert hätte. Sie bestanden praeter legem.

Die Hemmung der inneren und äußeren Rechtsein heit ist naturgemäß diejenige Erscheinung, welche überall eingetreten ist, wo mit der Geltung eines heiligen Rechts oder einer unabänderlichen Tradition überhaupt dauernd Ernst gemacht wurde, in China und Indien ebenso wie in den islâmischen Rechtsgebieten. Sogar innerhalb des Islâm selbst gilt die Rechtspersonalität für die vier orthodoxen Schulen wie im Karolingerreich für die Volksrechte. Die Schaffung einer »lex terrae«, wie es das englische Common Law von der Zeit der Eroberung an und ganz offiziell seit Heinrich II. war, wäre ganz unmöglich gewesen. Praktisch besteht heute in den großen islâmischen Reichen überall der Dualismus weltlicher und geistlicher Rechtspflege: neben dem Qâḍî steht der weltliche Beamte, neben der scharî'a das weltliche Amtsrecht: Qânûn, welches, wie die Kapitularien der Karolinger, stets von Anfang an, schon seit der Omajjadenherrschaft, neben dem geistlichen Juristenrecht erwuchs und steigende Bedeutung gewann, je mehr das letztere sich stereotypierte. Es ist für den weltlichen Richter bindend, der in allen Angelegenheiten außer über Tutel, Ehe, Erbrecht, Scheidung, unter Umständen Stiftungsgut und dadurch Grundbesitz überhaupt, entscheidet. Er fragt nach den Verboten des geistlichen Rechts überhaupt nicht, sondern entscheidet – da die Ingerenz des geistlichen Rechts jede systematische Geschlossenheit auch der weltlichen Gesetze ausschließt (der offizielle, von 1869 an publizierte türkische Kodex ist keine »Kodifikation«, sondern eine Sammlung von ḥanafitischen Rechtsregeln) – in der Mehrzahl aller Fälle nach Ortsgebrauch. Eine logische Systematisierung des Rechts in formalen juristischen Begriffen ist durch diese Zustände ausgeschlossen. Die ökonomische Tragweite dieses Zustandes ist, wie wir sehen werden, nicht gering.

Im Schî'itentum, welches in Persien die offizielle Konfession ist, steigert sich die Irrationalität des heiligen Rechts noch weiter. Es fehlen die immerhin relativ festen Anhaltspunkte, welche die sunna gibt; der Glaube an den unsichtbaren, theoretisch mit Unfehlbarkeit ausgestatteten Imâm ist dafür gewiß kein Ersatz. Die Zulassung der Richter erfolgt seitens des Schah der Sache nach unter sehr starker – für ihn als religiös illegitimen Herrscher auch unbedingt gebotener – Rücksichtnahme auf die Ansichten der örtlichen Honoratioren. Sie ist, auch der Sache nach, keine amtliche »Anstellung«, sondern nur eine Plazetierung der von den zünftigen Theologenschulen diplomierten Anwärter, und sie kennt zwar Sprengel, aber, wie es scheint, keine eindeutig feststehende Kompetenz des Einzelrichters. Vielmehr stehen oft mehrere von diesen konkurrierend nebeneinander zur Auswahl der Partei. Der charismatische Charakter dieser Rechts propheten tritt auch darin deutlich hervor. Die streng sektiererische, durch zarathustrische Einflüsse in diesem Charakter noch gesteigerte Eigenart der Schî'a würde jeden ökonomischen Güterverkehr mit Ungläubigen als verunreinigend direkt rituell ausschließen, wenn nicht zahlreiche Fiktionen schließlich das praktisch vollständige Aufgeben dieser Ansprüche des heiligen Rechts[476] und damit dessen fast gänzliches Zurückziehen aus der Sphäre des ökonomisch und – seit der Konstitutionalismus durch Fetwâs auf Grund von Korânstellen »begründet« wurde – auch des politisch Relevanten herbeigeführt hätten. Allein selbst bis heute30 ist die Theokratie dennoch weit entfernt davon, ökonomisch eine quantité négligeable zu sein. Für die Wirtschaft war und ist – neben der später zu erörternden Eigenart des orientalischen Patrimonialismus als Herrschaftsform – der theokratische Einschlag in der Justiz trotz aller zunehmenden Begrenztheit ihrer Sphäre von recht erheblicher Bedeutung. Weit weniger – hier ebenso wie anderwärts – kraft der positiven Normen des heiligen Rechts als wegen der prinzipiellen »Gesinnung« der Rechtspflege. Diese erstrebt »materiale« Gerechtigkeit, nicht formale Regelung eines Interessenkampfes. Sie urteilt daher, auch z.B. in Grundbesitzprozessen, soweit diese unter ihre Zuständigkeit fallen, sehr weitgehend nach konkreten Billigkeitsgesichtspunkten, um so leichter, wo ein kodifiziertes Recht fehlt, und entzieht sich daher in ihren Chancen der Berechenbarkeit (»Kadijustiz«). Die Folge war z.B. für Tunis, solange und soweit die »Chara« (geistliches Gericht) für Grundbesitzprozesse zuständig blieb, die Unmöglichkeit kapitalistischer Ausbeutung des Bodens. Kapitalistischen Interessen gelang es, die Beseitigung dieser Zuständigkeit durchzusetzen. Der Vorgang ist typisch für die Wirkung, welche theokratische Rechtspflege der rationalen Wirtschaft überall, nur in verschieden fühlbarem Maß, entgegensetzt und kraft ihres immanenten Charakters entgegensetzen muß.

Das jüdische heilige Recht befand sich in einer dem islâmischen formal ähnlichen, wennschon gerade entgegengesetzt bedingten Lage. Auch hier galt die Thora und die interpretierende und ergänzende heilige Tradition als universelle, dem Anspruch nach den gesamten Umkreis des Rechtslebens beherrschende Norm. Auch hier galt wie im Islâm das heilige Recht nur für die Glaubensgenossen: dagegen war nicht, wie im Islâm, ein herrschender Stand, sondern ein Pariavolk der Träger. Der Verkehr nach außen war infolgedessen rechtlich Fremdverkehr. Für ihn galten, sahen wir, teilweise andere ethische Normen. Für das Recht aber paßte sich dabei der Jude den in seiner Umwelt geltenden Normen soweit an, als ihm dies einerseits von jener Umwelt ermöglicht wurde und als nicht andererseits auf seiner Seite rituelle Bedenken entgegenstanden. Das alte Losorakel (Ûrîm und Tummîm) war schon in der Königszeit durch die lebendige Rechtsprophetie ersetzt, welche hier wirksamer als im germanischen Recht dem König die Zuständigkeit zum Erlaß von Rechtsgeboten bestritten hatte. Nachdem die »nebî'îm« – Wahrsager und sicherlich auch Rechtspropheten – der Königszeit nach dem Exil durch das »Schriftgelehrtentum« – anfänglich, wie wir sahen, durchaus eine vornehme Literatenschicht hellenistischen Gepräges, später daneben auch ein Nebenberuf von Kleinbürgern – abgelöst worden waren, entwickelte sich spätestens im letzten vorchristlichen Jahrhundert die schulmäßige Behandlung ritueller und rechtlicher Fragen und damit die juristische Technik der Thoraausleger und konsultierenden Juristen an den beiden orientalischen Zentren des Judentums: Jerusalem und Babylon. Sie waren, ganz ähnlich den islâmischen und indischen Juristen, Träger einer die Thora teils interpretierenden, teils aber auch von ihr selbständigen Tradition – Gott hatte sie Moses während seines 40tägigen Verkehrs mit ihm auf dem Sinai mitgeteilt –, durch deren Inhalt die offiziellen Institute, etwa die Leviratsehe, ganz ähnlich stark umgewandelt wurden wie im Islâm und in Indien. Ebenso wie dort war sie zunächst streng mündliche Tradition. Die schriftliche Fixierung durch die »Tannâ'îm« begann mit zunehmender Zersplitterung der Diaspora und Entwicklung [der] Schulmäßigkeit seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung (Schulen Hillel's und Schammai's), zweifellos zur Sicherung der Einheitlichkeit, nachdem die Bindung der Richter an die Responsen der konsultierenden Rechtsgelehrten und damit an die Präjudizien durchgeführt war. Wie in Rom und England pflegten die Gewährsmänner der einzelnen Rechtssprüche zitiert[477] zu werden, und Lehre, Prüfung und Konzessionierung traten nun endgültig an die Stelle der formell freien Rechtsprophetie. Die Mischna ist noch Produkt der Tätigkeit der Respondenten selbst, gesammelt von dem Patriarchen Jehuda. Die offiziellen Kommentare dazu (Gemârâ) waren dagegen das Produkt der Tätigkeit lehrender Juristen, der Amoräer, hervorgegangen aus den Interpreten, welche die hebräisch vom Vorleser den Hörern dargebotene Stelle ins Aramäische übersetzten und interpretierten. Sie führten in Palästina den Titel »rabbî«, in Babylon einen entsprechenden (»mâr«). Eine »dialektische« Behandlung nach Art der okzidentalen Theologie fand sich wesentlich an der »Akademie« [von] Pumbeditha in Babylonien; aber diese Methode ist in der späteren Zeit der Orthodoxie grundsätzlich verdächtig geworden und [ist] heute verpönt: eine spekulative theologische Behandlung der Thora ist seitdem unmöglich. Deutlicher als in Indien und im Islâm waren dogmatisch-erbauliche und juristische Bestandteile der Tradition – haggâḏâ und halâchâ – arbeitsteilig und auch literarisch geschieden. Äußerlich rückte das Zentrum der Gelehrtenorganisation zunehmend nach Babylon. Seit der hadrianischen Zeit nachweislich und bis in das 11. Jahrhundert residierte dort der Rêsch Gâlûthâ (Exilarch). Sein in der davidischen Familie erbliches Amt war von den parthischen und persischen, dann den islâmischen Fürsten staatlich anerkannt, mit einem pontifikalen Hofhalt ausgestattet und mit Jurisdiktion, lange Zeit auch krimineller, zuletzt, unter den Arabern, mit geistlicher Exkommunikationsgewalt ausgestattet. Die Träger der Rechtsentwicklung waren die beiden konkurrierenden Akademien von Sura und dem schon erwähnten Pumbeditha – die erste die vornehmere –, deren Vorsitzende, die Ge'ônîm, richterliche Tätigkeit als Sanhédrîn-Mitglieder mit konsultierender Praxis für die gesamte Diaspora und mit akademischer Rechtslehre verbanden. Der Gâ'ôn wurde teils von den zugelassenen Lehrern gewählt, teils vom Exilarchen ernannt. Die äußere akademische Organisation glich den mittelalterlichen und orientalischen Schulen. [Die] ständigen Studenten lebten im Internat; zu ihnen traten im Kallah-Monat massenhaft reifere Hörer, Reflektanten auf Rabbinenstellen, von auswärts, um den seminaristischen Talmuddiskussionen beizuwohnen. Seine Responsen gab der Gâ'ôn teils direkt von sich aus, teils nach vorangegangener Diskussion im Kallah oder mit den Studenten. Rein äußerlich trat die literarische Arbeit der Ge'ônîm (etwa seit dem 6. Jahrhundert), als reiner Kommentatoren, wesentlich bescheidener auf als die ihrer Vorgänger, der Amoräer und selbst noch der Nachfolger der letzteren, der Saboräer, von denen die ersteren die Mischna schöpferisch ausgelegt, die letzteren noch relativ frei kommentiert hatten, und vollends der Tannâ'îm. Aber praktisch setzten sie vermöge der festen Organisation ihres Betriebs die Überlegenheit der Geltung des babylonischen gegenüber dem jerusalemischen Talmud durch. Zwar galt diese Suprematie vornehmlich in den islâmischen Ländern, aber bis ins 10. Jahrhundert fügte sich auch der Okzident. Erst seitdem und seit dem Erlöschen des Exilarchenamts (durch Verfolgung) emanzipierte sich der Westen von dem östlichen Einfluß. Die fränkischen Rabbinen setzten in der Karolingerzeit z.B. den Übergang zur Monogamie durch, und nach den von der Orthodoxie freilich als rationalistisch abgelehnten wissenschaftlichen Arbeiten des Maimonides und des Ascher gelang es schließlich dem spanischen Juden Josef Karo, im »Schulchân 'Arûch« ein im Vergleich mit den islâmischen kanonischen Systemen sehr handliches und kurzes Kompendium zu schaffen, welches der Sache nach die Autorität der talmudischen Responsen ersetzte und z.B. in Algier, aber vielfach auch im kontinentalen Europa, wie ein Gesetzbuch die Praxis beherrschte. Formell zeigte die eigentlich talmudische Jurisprudenz jene typischen Eigenschaften heiliger Rechte, deren merkliches Hervortreten hier aus der starken Schulmäßigkeit und der – gerade in der Zeit der Entstehung der Mischna-Kommentare – relativ, im Gegensatz zu früheren sowohl wie späteren Epochen, gelockerten Beziehung zur Gerichtspraxis folgen mußte: ein erhebliches Überwiegen rein theoretisch konstruierter, praktisch unlebendiger Kasuistik, welche bei den engen Schranken rein rationaler Konstruktion doch nicht zu einer[478] eigentlichen Systematik sich fortbilden konnte. Die kasuistische Sublimierung des Rechts war an sich keineswegs gering. Lebendes und totes Recht aber wurden ineinander verschlungen, juristisch bindende und ethische Normen nicht geschieden.

Inhaltlich waren schon in vortalmudischer Zeit massenhafte Rezeptionen vollzogen worden: aus der vorderasiatischen, zunächst vorwiegend babylonisch, dann hellenistisch und byzantinisch beeinflußten Umwelt. Aber nicht alles, was im jüdischen Recht dem gemein vorderasiatischen Recht entspricht, ist rezipiert, und andererseits erscheint die gelegentliche moderne Hypothese, daß die Juden wichtige Rechtsinstitute des kapitalistischen Verkehrsrechtes auf dem Boden ihres eigenen Rechtes entwickelt und dann in den Okzident importiert hätten, etwa: das Inhaberpapier, wie behauptet worden ist, schon an sich unwahrscheinlich. Urkunden mit Inhaberklausel sind dem babylonischen Recht der Zeit Hammurabis bekannt, und fraglich kann nur sein, ob sie rechtlich Legitimations-oder nicht Inhaberpapiere waren. Die ersteren kannte auch das hellenistische Recht. Aber die Rechtskonstruktion ist eine andere als bei den okzidentalen, durch die germanische Auffassung der Urkunde als »Trägers« des Rechts bedingten und dadurch im Sinn der »Kommerzialisierung« ungleich wirksameren Inhaberurkunden, und auch die Provenienz der Vorfahren des okzidentalen Wertpapiers gerade aus Interessen des frühmittelalterlichen Prozesses in dessen rationaler Form ist zu evident, als daß hier ein Einfluß gerade jüdischer Rechtspraxis besonders wahrscheinlich wäre. Denn die Klauseln, welche den »Wertpapier«-Charakter der Urkunde vorbereiteten, dienten ursprünglich keineswegs kommerziellen, sondern rein prozessualen Zwecken, vor allem: die fehlende prozessuale Stellvertretung zu ersetzen. Bisher ist ein Import gerade durch Juden für kein einziges Rechtsinstitut sicher nachweisbar. Nicht im Okzident, sondern im Orient hat das jüdische Recht eine wirkliche Rolle als rezipiertes Recht fremder Völker gespielt. Wichtige Bestandteile des mosaischen Rechts sind mit der Christianisierung in das armenische Recht als eine der Komponenten von dessen weiterer Entwicklung rezipiert worden. Im Chazarenreich war das Judentum die offizielle Religion, und dadurch gewann das jüdische Recht dort in aller Form Geltung. Und endlich scheint die Rechtsgeschichte der Russen wahrscheinlich zu machen, daß auf diesem Wege gewisse Bestandteile auch des ältesten russischen Rechts unter dem Einfluß jüdisch-talmudischer Rechtssätze entstanden sind. Dagegen der Okzident kennt ähnliches nicht. Soweit sich dort ein Import von Geschäftsformen unter Vermittlung der Juden vollzogen haben sollte – was gewiß nicht als unmöglich gelten kann –, wären dies wohl schwerlich national-jüdische, sondern syrisch-byzantinische und möglicherweise, auf dem Umweg über diese, hellenistische und schließlich vielleicht gemeinorientalische, im Ursprung auf babylonisches Recht zurückgehende Institutionen gewesen. Es ist zu berücksichtigen, daß beim Import der orientalischen Handelstechnik in den Okzident, wenigstens in der Spätantike, mit den Juden vor allem die Syrer konkurrierten. Das genuin jüdische Recht als solches, gerade auch das Obligationenrecht, ist schon seinem formalen Charakter nach, trotz einer freieren Entwicklung der rechtsgeschäftlichen Typen, doch keineswegs ein besonders geeigneter Nährboden für solche Institute gewesen, wie sie der moderne Kapitalismus braucht. Um so mächtiger ist natürlich der Einfluß des jüdischen heiligen Rechts im internen Leben der Familie und Synagoge gewesen. Auch hier insbesondere, soweit es »Ritus« war. Denn die ökonomischen Normen waren teils (wie das Sabbathjahr) auf das heilige Land beschränkt (auch hier ist es jetzt31 durch Dispens der Rabbinen beseitigt), teils wurden sie durch die Veränderung der Wirtschaftsverfassung obsolet oder konnten, wie überall, durch konstruktive Handlungen praktisch umgangen werden. Es war schon vor der Judenemanzipation von Ort zu Ort sehr verschieden, in welchem Umfang und Sinn das heilige Recht noch gültig war. Formal bot es keine Besonderheiten gegenüber anderen seinesgleichen. Als Partikularrecht und als immerhin nur unvollkommen[479] rational systematisiertes und rationalisiertes, kasuistisch und doch nicht rein logisch durchgebildetes Recht zeigt das jüdische heilige Recht vielmehr die allgemeinen Eigenarten eines unter der Kontrolle heiliger Normen und ihrer Bearbeitung durch Priester und theologische Juristen entwickelten Produkts. Wir haben hier, so interessant das Thema an sich ist, keinen Anlaß zu einer speziellen Betrachtung.

Das kanonische Recht des Christentums nahm gegenüber allen anderen heiligen Rechten eine mindestens graduelle Sonderstellung ein. Es war zunächst in beträchtlichen Partien wesentlich rationaler und stärker formaljuristisch entwickelt als die anderen heiligen Rechte. Und es stand ferner von Anfang an in relativ klarem Dualismus – mit leidlich deutlicher Scheidung der beiderseitigen Gebiete, wie sie in dieser Art anderwärts nirgends existiert hat – dem profanen Recht gegenüber. Dies letztere war zunächst die Konsequenz des Umstandes, daß die Kirche in der Antike jahrhundertelang jegliche Beziehung zu Staat und Recht abgelehnt hatte. Der relativ rationale Charakter aber ergab sich als Folge verschiedener Umstände. Als die Kirche ein Verhältnis zu den profanen Mächten zu suchen sich veranlaßt sah, legte sie sich, wie wir sahen, diese Beziehung mit Zuhilfenahme der stoischen Konzeptionen des »Naturrechtes« zurecht, eines rationalen Gedankengebildes also. In ihrer eigenen Verwaltung ferner lebten die rationalen Traditionen des römischen Rechtes weiter. Bei Beginn des Mittelalters suchte alsdann die okzidentale Kirche bei der ersten eigentlich systematischen Rechtsbildung, welche sie schuf: den Bußordnungen, Anlehnung gerade an die am meisten formalen Bestandteile des germanischen Rechtes. Im Mittelalter sonderte dann die abendländische Universitätsbildung den Lehrbetrieb der Theologie auf der einen Seite und den des weltlichen Rechts auf der anderen Seite von der kanonistischen Rechtslehre und hemmte so die Entstehung theokratischer Mischbildungen, wie sie überall sonst eingetreten sind. Die streng logische und fachjuristische Methodik, welche an der antiken Philosophie einerseits, an der antiken Jurisprudenz andererseits geschult war, mußte auch auf die Behandlung des kanonischen Rechts sehr stark einwirken. Die Sammlertätigkeit der kirchlichen Rechtskundigen hatte sich daher hier nicht auf Responsen und Präjudizien – wie fast überall sonst –, sondern auf Konzilsschlüsse, amtliche Reskripte und Dekretalen zu richten und, was nur auf dem Boden dieses Kirchentums geschehen ist, solche eventuell zweckbewußt durch Fälschung zu schaffen (Pseudoisidor). Und schließlich und vor allem wirkte auf den Charakter der kirchlichen Rechtssatzung der – nach Ablauf der charismatischen Epoche der alten Kirche – für die kirchliche Organisation charakteristische rationale bürokratische Amtscharakter ihrer Funktionäre, der, nach der feudalen Unterbrechung im frühen Mittelalter, seit der gregorianischen Zeit wieder auflebte und alleinherrschend wurde. Auch er war Folge der Anknüpfung an die Antike. In ungleich stärkerem Maße als irgendeine andere religiöse Gemeinschaft hat daher die okzidentale Kirche den Weg der Rechtsschöpfung durch rationale Satzung beschritten. Und die streng rationale hierarchische Organisation der Kirche erleichterte ihr auch, im Wege von allgemeinen Verfügungen ökonomisch undurchführbare und daher lästige Satzungen als dauernd oder zeitweilig (ratione temporum habita) obsolet zu behandeln, wie wir dies für das Wucherverbot sahen. So wenig trotzdem das kanonische Recht in zahlreichen Einzelfällen die spezifische Eigenart theokratischer Rechtsbildung: Vermischung von materialen legislatorischen Motiven und materialen sittlichen Zwecken mit den formaljuristisch relevanten Bestandteilen der Satzungen und die daraus folgende Einbuße an Präzision verleugnete, so war es doch von allen heiligen Rechten am meisten an streng formaler juristischer Technik orientiert. Es fehlte hier die Fortbildung durch respondierende Juristen, wie sie dem islâmischen und jüdischen Recht eigen war, und das Neue Testament enthielt nur ein solches Minimum formal bindender Normen rituellen oder rechtlichen Charakters – eine Folge der eschatologischen Weltabgewandtheit –, daß eben dadurch die Bahn völlig frei war für rein rationale Satzung. Eine Analogie zu den Muftîs, Rabbinen und[480] Ge'ônîm stellten erst die gegenreformatorischen Beichtväter und directeurs de l'âme und, in den altprotestantischen Kirchen, die Pastoren dar, deren seelsorgerische Kasuistik denn auch, wenigstens auf katholischem Boden, gewisse entfernte Ähnlichkeiten mit den talmudischen Produkten aufweist. Aber alles unterstand hier der Kontrolle der zentralen Behörden der Kurie, und nur durch deren, höchst elastische, Anordnungen erfolgte die Fortbildung der bindenden ethisch-sozialen Normen. Dadurch ist hier das zwischen sakralem und profanem Recht sonst nirgends bestehende Verhältnis entstanden: daß das kanonische Recht für das profane Recht geradezu einer der Führer auf dem Wege zur Rationalität wurde. Und zwar infolge des rationalen »Anstalts«-Charakters der katholischen Kirche, der sonst sich nirgends wiederfindet. Auf dem Gebiet des materiellen Rechts war – neben Einzelheiten wie der Spolienklage und dem [possessorium] summariissimum, der Anerkennung des formlosen Vertrages, vor allem aber der Unterstützung der Testierfreiheit im Interesse letztwilliger frommer Stiftungen – prinzipiell von größter Bedeutung der kanonistische Korporationsbegriff: die Kirchen waren die ersten »Anstalten« im Rechtssinn, und mit von da aus begann die juristische Konstruktion der öffentlichen Verbände als Korporationen. Davon wurde schon gesprochen. Die direkte praktische Tragweite des kanonischen Rechts im Umkreise des uns hier vorwiegend interessierenden materiellen Zivilrechts, vor allem des Geschäftsrechts, war im übrigen schwankend, im ganzen aber, selbst im Mittelalter, gegenüber dem weltlichen Rechte relativ gering. In der Antike, noch bis zu Iustinian, hatte es nicht einmal die wirkliche rechtliche Beseitigung der freien Ehescheidung durchzusetzen vermocht und war die geistliche Gerichtsbarkeit rein freiwillig geblieben. Die prinzipielle Schrankenlosigkeit des Anspruchs auf materiale Beherrschung der gesamten Lebensführung, welche es mit allen theokratischen Rechten teilte, blieb im Okzident für die juristische Technik um deswillen relativ unschädlich, weil in Gestalt des römischen Rechts ein formal zu ungewöhnlicher Vollendung gediehenes und durch die historische Kontinuität zum universalen Weltrecht gestempeltes profanes Recht ihm Konkurrenz machte: die alte Kirche selbst hatte das römische Imperium und sein Recht als für die Dauer der diesseitigen Welt endgültig bestehend behandelt. Gegen die Ansprüche des kanonischen Rechts aber reagierten einerseits die ökonomischen Interessen des Bürgertums, auch der mit dem Papst verbündeten italienischen Städte, sehr energisch und im Resultat erfolgreich. Wir finden in den städtischen und Gildestatuten, in den ersteren auch in Deutschland, in beiden in Italien, scharfe Strafbestimmungen gegen Bürger, welche das geistliche Gericht anrufen, und daneben fast zynisch wirkende Reglements über die Pauschalablösung der wegen »Wucher« verwirkten geistlichen Strafen von Zunft wegen. Und andererseits erhoben sich in den nationalen Advokatenzünften und Ständeversammlungen gegen das kirchliche Recht die gleichen materiellen und ideellen Klasseninteressen der Rechtsinteressenten und vor allem auch der Rechtspraktiker wie, teilweise, auch gegen das römische. Sein Einfluß auf die profane Justiz lag, von Einzelinstitutionen abgesehen, hauptsächlich auf dem Gebiet des Prozeßverfahrens. Hier hat das Streben aller theokratischen Justiz nach materialer und absoluter, nicht nur formaler, Wahrheit, im Gegensatz zu dem formalistischen und auf der Verhandlungsmaxime ruhenden Beweisrecht des profanen Prozesses, besonders frühzeitig [die] rationale, aber freilich spezifisch materiale Methodik des Offizialverfahrens entwickelt. Eine theokratische Justiz kann die Wahrheitsermittlung nicht der Parteiwillkür überlassen, ebensowenig wie die Sühne geschehenen Unrechts. Sie verfährt »von Amts wegen« (Offizialmaxime) und schafft sich ein Beweisverfahren, welches ihr die Gewähr optimaler Feststellung des wirklich Geschehenen zu bieten scheint: im Okzident den »Inquisitionsprozeß«, den dann die weltliche Strafjustiz übernahm. Der Kampf um das materiale kanonische Recht wurde im Okzident späterhin eine wesentlich politische Angelegenheit, und seine heute noch bestehenden Ansprüche liegen in ihrer praktischen Bedeutung nicht mehr auf Gebieten, welche ökonomisch relevant sind. –

[481] In den orientalischen Kirchen wurde die Lage, infolge des Fehlens eines unfehlbaren Lehramts und konziliarer Gesetzgebung seit dem Ausgang der frühbyzantinischen Zeit, ähnlich derjenigen im Islâm. Nur daß wenigstens der byzantinische Monarch wesentlich stärkere cäsaropapistische Prätentionen erhob, als die Sultane des Ostens sie nach der Loslösung des Sultanats vom 'abbâsidischen Khalifat erheben konnten und als auch die Türkensultane sie, selbst nach der Übertragung des Khalifats von Mutawakkil auf Sultan Selim, geltend gemacht haben, von der prekären Legitimität der persischen Schahs gegenüber ihren schî'itischen Untertanen ganz zu schweigen. Immerhin hat weder der spätbyzantinische, noch haben die russischen und sonstigen cäsaropapistischen Herrscher den Anspruch erhoben, neues heiliges Recht setzen zu können. Es fehlte daher dafür jedes Organ, auch [fehlten] Rechtsschulen, nach Art der islâmischen, gänzlich, und die Folge war, daß das kanonische Recht dort, auf seine ursprüngliche Sphäre beschränkt, gänzlich stabil, aber auch gänzlich einflußlos auf das ökonomische Leben blieb.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 468-482.
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