§ 6. Amtsrecht und patrimonialfürstliche Satzung. Die Kodifikationen.

[482] Das imperium S. 482. »Ständische« oder »patriarchale« Struktur des patrimonialfürstlichen Rechts S. 485. Die treibenden Mächte der Kodifikationen S. 488. Die Rezeption des römischen Rechts und die Entwicklung der modernen Rechtslogik S. 491. Typus der patrimonialen Kodifikationen S. 493.


Die zweite autoritäre Macht, welche in den Formalismus und Irrationalismus der alten dinggenossenschaftlichen Justiz eingreift, ist das imperium (Banngewalt, Amtsgewalt) der Fürsten, Magistrate und Beamten. Es bleibt die Erörterung desjenigen Sonderrechts, welches der Fürst für seine persönliche Gefolgschaft, für seine beamteten Untergebenen und vor allem: für sein Heer schafft, und welches in recht wirksamen Resten auch bis heute weiter besteht, hier ganz beiseite. Es haben diese Rechtsschöpfungen in der Vergangenheit zu höchst wichtigen Partikularrechtsbildungen: Klientelrecht, Dienstrecht, Lehensrecht, geführt, welche alle, in der Antike wie im Mittelalter, sich dem gemeinen Recht und der normalen Judikatur entzogen und in sehr verschiedener und komplizierter Art dagegen abgrenzten. Denn ungeachtet der politischen Wichtigkeit dieser Erscheinungen tragen sie keine eigene formale Struktur an sich. Je nach dem allgemeinen Charakter des Rechts unterstanden diese Partikularitäten entweder, wie die Klientel im Altertum, einer Mischung von sakralen Normen einerseits und konventionellen Regeln andererseits, oder trugen sie, wie das Dienst- und Lehensrecht im Mittelalter, ständischen Charakter, oder sind sie endlich, wie das heutige Beamten- und Militärrecht, teils Spezialnormen des Verwaltungs- und Staatsrechts, teils einfach materiellen und prozessualen Sonderinstanzen unterstellt. Für uns handelt es sich vielmehr um die Einwirkung des imperium auf das gemeine Recht selbst, auf dessen Abänderung oder auf die Entstehung eines neben, statt oder gegen das gemeine Recht ebenfalls allgemein geltenden Rechtes und vor allem: um die Einwirkung dieses Zustandes auf die formale Struktur des Rechts überhaupt. Nur das eine ist allgemein festzustellen: das Maß der Entwicklung von Sonderrechten dieser Art ist allerdings eine Art von Maßstab für das gegenseitige Kräfteverhältnis des imperium zu den Schichten, mit denen es als Trägern seiner Macht zu rechnen hat. Das englische Königtum hat durchgesetzt, daß ein Lehensrecht als Sonderrecht, in der Art wie in Deutschland, dort nicht entstand, sondern in der einheitlichen »lex terrae«: dem Common Law, aufging. Dafür ist freilich das gesamte Bodenbesitz-, Familien- und Erbrecht stark feudal geprägt. Das römische[482] Statutarrecht hat von der Klientel in einigen Einzelbestimmungen, wesentlich Verfluchungsformeln, Notiz genommen, im übrigen aber dies für die soziale Stellung des römischen Adels wichtige Institut in das Gebiet der Regelung durch das bürgerliche Recht absichtlich nicht einbezogen. Die italienischen Statuten des Mittelalters haben, ähnlich dem englischen Recht, eine einheitliche lex terrae geschaffen. Auf dem mitteleuropäischen Kontinent hat derartiges erst der absolute Fürstenstaat unternommen, und zwar meist unter Schonung des materiellen Bestandes dieser Sonderrechte, welche erst durch die moderne Staatsanstalt ganz aufgesogen wurden. –

Woher der Fürst oder Magistrat oder Beamte die Legitimation und faktische Macht zur Schaffung oder Beeinflussung des gemeinen Rechts nahm und wieweit diese Macht in den einzelnen geographischen und sachlichen Rechtsgebieten reichte, bleibt ebenso wie die Besprechung der Motive seines Eingreifens der Erörterung der Herrschaftsformen vorbehalten. Tatsächlich war jene Macht höchst verschieden geartet und hat dementsprechend auch verschiedene Resultate hervorgebracht. Ganz allgemein pflegt eine der ersten Schöpfungen der fürstlichen Banngewalt ein rationales Strafrecht zu sein. Militärische ebenso wie allgemeine »Ordnungs«-Interessen drängten zur Regelung gerade dieses Gebietes. Nach der religiösen Lynchjustiz ist die fürstliche Amtsgewalt die zweite Hauptquelle eines gesonderten »Strafprozesses«. Sehr oft sind direkt priesterliche Einflüsse bei dieser Entwicklung beteiligt gewesen. So im Bereich des Christentums das Interesse an der Ausrottung der Blutrache und des Zweikampfs. Der russische knjäs, der in der älteren Zeit bloße Schiedsrichterfunktionen beansprucht, schafft unter dem Einfluß der Bischöfe sofort nach der Christianisierung ein kasuistisches Strafrecht: der Begriff »Strafe« (prodascha) taucht terminologisch erst jetzt auf. Ähnlich im Okzident; und auch im Islâm und zweifellos in Indien sind die rationalen Tendenzen der Priesterschaft mitbeteiligt. Und es scheint plausibel, daß auch die detaillierten Wergeld- und Bußtarifierungen aller alten Rechtssatzungen stets entscheidend durch fürstliche Einflüsse bestimmt wurden. Das Ursprüngliche scheint, nachdem sich überhaupt typische Sühnebedingungen entwickelt hatten, überall – wie Binding für das deutsche Recht gezeigt hat – das Nebeneinander eines Hauptbußsatzes für den Totschlag und äquivalente, Blutrache heischende Verletzungen und eines weit kleineren Bußsatzes für unterschiedlos alle anderen Frevel zu sein. Wohl unter fürstlichem Einfluß entstanden nun jene fast grotesken Taxen für alle nur erdenklichen Frevel, die jedermann gestatteten, sich sowohl vor Begehung der Tat wie vor Beschreitung des Rechtswegs zu überlegen, ob es sich »lohne«. Das starke Vorwalten rein ökonomischer Betrachtung der Straftaten und der Strafe ist allen bäuerlichen Schichten aller Zeiten gemeinsam. Der Formalismus der festen Abmessung der Bußen aber entspringt der Ablehnung der Willkür des Herrn. Dieser strenge Formalismus macht daher überall erst bei patriarchaler Entwicklung der Justiz einer elastischeren, schließlich zuweilen völlig arbiträren Strafzumessung Platz.

Auf dem Gebiet des »bürgerlichen« Rechts, dessen Sphäre der Banngewalt des Fürsten nirgends so zugänglich sein konnte wie die als Sache formaler Ordnungs- und Sicherheitsgarantie betrachtete Strafrechtspflege, zeigt [sich] überall ein viel späteres und in der Form sowohl wie im Ergebnis sehr verschiedenes Eingreifen des imperium. Teilweise entstand ein fürstliches oder magistratisches Recht, welches dem gemeinen Recht gegenüber ganz ausdrücklich auf die besondere Quelle, der es entstammte, Bezug nahm. So das römische »ius honorarium« des prätorischen Edikts, das »writ«-Recht des englischen Königs, die »Equity« des englischen Lordkanzlers. Der Gerichtsbann der mit der Justizverwaltung betrauten Beamten schuf sie, gestützt auf die an den Bedürfnissen der Rechtsinteressenten orientierten Tendenzen der Rechtspraktiker, vor allem der Konsulenten (Rom) und Advokaten (England), also: der Rechtshonoratiorenschichten. Kraft ihrer Macht, entweder den entscheidenden Richter bindend zu instruieren (Prätor) oder den Parteien bindende Befehle (injunctions) zu erteilen – was in England im Streit mit den ordentlichen Gerichten durch[483] Jacob I. dem Lordkanzler (Fr. Bacon) generell zugestanden wurde – oder die Prozesse freiwillig oder zwangsweise an sich selbst oder an ein besonderes Gericht zu ziehen (in England an die Königsgerichte und später an den Chancery Court), schufen sie neue Rechtsmittel, welche im Effekt das geltende gemeine Recht (ius civile, Common Law) weitgehend außer Geltung setzten. Gemeinsam ist dabei diesen späteren amtsrechtlichen Neuschöpfungen von materiellem Recht, daß sie an das Bedürfnis nach rationaler Gestaltung des Prozesses anknüpften, welches vornehmlich von rational wirtschaftenden, d.h. von bürgerlichen Schichten ausging. Der sehr alte Interdiktionsprozeß und die actiones in factum machen es sicher, daß der römische Prätor nicht erst seit der lex Aebutia seine beherrschende Stellung im Prozeß: die Instruktionsgewalt gegenüber dem Geschworenen, innehatte. Aber wie ein Blick auf den materiell-rechtlichen Gehalt des Edikts zeigt: die Verkehrsbedürfnisse des Bürgertums mit zunehmender Verkehrsintensität schufen das Formularverfahren in seiner ediktmäßigen Geregeltheit, und damit verband sich das Bedürfnis nach Beseitigung gewisser ursprünglich magisch bedingter Formalismen. In England und Frankreich war es (wie in Rom) die Entbindung vom Wortformalismus und (in England) [von] den Ladungsformalitäten (Ladung sub poena durch den König), die Zulassung der Vernehmung der Parteien unter Eid (sehr verbreitet im Okzident), in England die jury und ferner, hier wie anderwärts, die Beweiskraft der Protokolle und der Ausschluß der für das Bürgertum unerträglichen irrationalen Beweismittel, speziell des Zweikampfs, was die Hauptanziehungskraft der Königsgerichte bildete. Materiellrechtliche Neuschöpfungen kamen auf dem Boden der Equity in England erst seit dem 17. Jahrhundert in größerem Umfang vor. Ludwig IX. ebenso wie Heinrich II. und seine Nachfolger (namentlich Edward III.) schufen daher vor allem ein (relativ) rationales Beweisverfahren und beseitigten überhaupt die Reste des dinggenossenschaftlichen und magischen Formalismus. Die »Equity« des englischen Lordkanzlers endlich beseitigte für ihren Bereich prozessual die große Errungenschaft des königsgerichtlichen Prozesses: die jury, für den Umkreis der neuen Rechtsmittel wieder, so daß der heutige formale Unterschied des auch in Amerika noch bestehenden Rechtsdualismus zwischen »Common Law« und »Equity« – zwischen deren Rechtsbehelfen der Kläger in vielen Fällen die Wahl hat – in dem Fehlen der jury hier, ihrer Mitwirkung dort, liegt. Da die technischen Mittel des Amtsrechts im ganzen aber ebenfalls rein empirischen und durchaus formalistischen Charakter hatten (besonders oft, schon in fränkischen Kapitularien, Gebrauch von Fiktionen), ganz entsprechend dem Charakter jedes aus der Rechtspraxis direkt herausgewachsenen Rechtes, so blieb auch der technische Charakter des Rechtes dabei unverändert. Ja es erfuhr dessen Formalismus zuweilen noch eine Steigerung, obwohl – wie schon der Name »Equity« zeigt – auch materiale ideologische Postulate an das Recht den Anstoß zum Eingreifen geben konnten. Es handelte sich hier eben um einen Fall, wo das imperium mit einer Rechtspflege in Konkurrenz trat, deren Legitimität ihm selbst unantastbar blieb und deren allgemeine Grundlagen es daher akzeptieren mußte, soweit nicht – wie beim Wortformalismus und der Beweisirrationalität – ihm sehr starke Tendenzen der Rechtsinteressenten entgegenkamen.

Eine Steigerung der Macht des imperium bedeuten demgegenüber jene Fälle, wo direkt eine Umgestaltung des geltenden Rechts durch neue, im gleichen Sinne als »gemeines« Recht geltende Anordnungen des Fürsten in Anspruch genommen wird, wie in einem Teil der fränkischen Kapitularien (den capitula legibus addenda), in den Ordonnanzen und Verfügungen der Signorien der italienischen Städte und in den späteren, vice legis geltenden Verfügungen des römischen Prinzipats (die erste Kaiserzeit kannte nur Verfügungen, welche die Beamten banden). Freilich handelt es sich dabei meist um Bestimmungen, welche mit Zustimmung der Honoratioren (Senat, Reichsbeamtenversammlung), teilweise sogar mit Zustimmung der Vertreter der Dinggenossenschaften erlassen waren. Auch blieb, wenigstens beim fränkischen Stamm, das Bewußtsein, daß diese Verfügungen nicht wirkliches »Recht« schaffen konnten, lange[484] lebendig und eine sehr fühlbare Erschwerung der fürstlichen Rechtsschöpfung. Von da aus führen zahlreiche Übergänge bis zu dem faktisch ganz souveränen Schalten militärischer Diktatoren des Okzidents oder patrimonialer Fürsten des Orients über das geltende Recht.

Auch die patrimonialfürstliche Rechtsschöpfung freilich pflegt die Tradition normalerweise weitgehend zu respektieren. Aber je mehr es ihr gelungen ist, die dinggenossenschaftliche Rechtspflege ganz zu beseitigen – und die Tendenz dazu hat sie meist –, desto freier bewegt sie sich und desto mehr kann sie dann die ihr spezifischen formalen Qualitäten dem Recht aufprägen. Diese aber können zweierlei sehr verschiedenen Charakter haben, – wie wir später sehen werden: entsprechend den verschiedenen politischen Existenzbedingungen der patrimonialen Fürstenmacht.

Entweder nämlich vollzieht sich die Rechtsschöpfung mehr in der Art, daß der Fürst, dessen eigene politische Macht als ein von ihm legitim erworbenes subjektives Recht in gleicher Art gilt wie irgendwelche gewöhnlichen Vermögensrechte, von dieser Machtfülle etwas abveräußert, indem er anderen: – Beamten, Untertanen, fremden Händlern oder wer sie seien, Einzelnen oder Verbänden – unter seiner Garantie ebenfalls subjektive Rechte (Privilegien) verleiht, deren Existenz dann von der fürstlichen Rechtspflege respektiert wird. Soweit dies der Fall ist, fallen dann »objektives« und »subjektives« Recht, »Norm« und »Anspruch« in der Art in eins, daß die Rechtsordnung – denkt man sich den Zustand in seine letzten Konsequenzen aus – den Charakter eines Bündels von lauter Privilegien annehmen müßte. Oder gerade umgekehrt: der Fürst verleiht niemandem Ansprüche, welche für ihn selbst und seine Justiz bindend wären. Sondern entweder gibt er nur Befehle von Fall zu Fall und nach seinem ganz freien Ermessen. Soweit dies der Fall ist, fehlt selbst der Begriff sowohl eines objektiven wie eines »subjektiven« Rechts. Oder er erläßt Reglements, welche generelle Anweisungen an seine Beamten enthalten. Der Inhalt geht, begrifflich gefaßt, dahin: die Angelegenheiten der Beherrschten und ihre Streitigkeiten in der generell bestimmten Art zu ordnen und zu schlichten, bis auf etwaige anderweite Verfügung. Dann ist die Chance des einzelnen Rechtsinteressenten, eine bestimmte Art von Entscheidung zugunsten seiner Wünsche und Interessen zu empfangen, nicht dessen »subjektives Recht«, sondern nur der faktische, rechtlich ihm unverbürgte »Reflex« jener Bestimmungen der Reglements, – im gleichen Sinne wie die Erfüllung der Wünsche eines Kindes durch seinen Vater, der sich an formale juristische Prinzipien und vollends an feste Formen einer Prozedur ebenfalls nicht bindet. Und in der Tat bedeuten die extremen Konsequenzen einer »landesväterlichen« Rechtspflege nur eine Übertragung des intrafamilialen Austrags von Streitigkeiten auf den politischen Verband. Die gesamte Rechtspflege würde sich, wenn man diesen Zustand in seine Konsequenzen getrieben denkt, in »Verwaltung« auflösen.

Wir wollen die erste der beiden Formen als die »ständische«, die zweite als die »patriarchale« Art der patrimonialfürstlichen Rechtspflege bezeichnen. Bei der ständischen Rechtspflege und Rechtsschöpfung ist die Rechtsordnung zwar streng formal, aber durchaus konkret und in diesem Sinne irrational. Es kann sich nur eine »empirische« Rechtsinterpretation entwickeln. Alle »Verwaltung« ist auf Schritt und Tritt: Verhandlung, Feilschen, Paktieren über »Privilegien«, deren Bestand sie feststellen muß, und sie verläuft daher in der Art eines Gerichtsverfahrens, scheidet sich von der Rechtspflege formell nicht. So, wie schon früher erwähnt, das Verwaltungsverfahren des englischen Parlaments und ebenso der großen alten königlichen Behörden, die ursprünglich alle Verwaltungs- und Gerichtsbehörden zugleich waren. Denn das wichtigste und einzige voll entwickelte Beispiel des »ständischen« Patrimonialismus ist der okzidentale politische Verband des Mittelalters. Bei der rein »patriarchalen« Rechtsverwaltung ist gerade umgekehrt, soweit von einem »Recht« hier, wo das »Reglement« herrscht, überhaupt die Rede sein kann, dieses durchaus unformal. Die Rechtsverwaltung erstrebt materiale Wahrheitsermittlung und sprengt[485] daher das formal gebundene Beweisrecht. Sie gerät dadurch oft in Konflikt mit den alten magischen Prozeduren, und das Verhältnis des profanen zum sakralen Prozeß gestaltet sich verschieden. So kann in Afrika der Kläger nicht selten von dem Urteil des Fürsten an das Gottesurteil oder an die ekstatische Urteilsvision der Fetischpriester oder Oghangas, der Träger des alten sakralen Prozesses, appellieren. Auf der anderen Seite vernichtet aber die streng patriarchale fürstliche Justiz auch die formalen Garantien der subjektiven Rechte und die strenge »Verhandlungsmaxime« zugunsten des Strebens, ein objektiv »richtiges«, »Billigkeitsansprüchen« genügendes Resultat der Schlichtung von Interessenkonflikten zu erreichen. Rational im Sinne der Innehaltung fester Grundsätze kann dabei die patriarchale Rechtspflege tatsächlich sehr wohl sein. Aber wenn sie es ist, dann nicht im Sinn einer logischen Rationalität ihrer juristischen Denkmittel, sondern vielmehr im Sinne der Verfolgung materialer Prinzipien der sozialen Ordnung, seien diese nun politischen oder wohlfahrtsutilitarischen oder ethischen Inhalts. Rechtspflege und Verwaltung gehen auch hier in eins, aber nicht in dem Sinn, daß alle Verwaltung die Form der Rechtspflege, sondern in dem umgekehrten: daß alle Rechtspflege die Eigenart der Verwaltung annimmt. Fürstliche Verwaltungsbeamte sind zugleich die Richter, der Fürst selbst greift im Wege der »Kabinettsjustiz« nach Belieben in die Rechtspflege ein, entscheidet nach freiem Ermessen, nach Billigkeits-, Zweckmäßigkeits- und politischen Gesichtspunkten, behandelt die Rechtsgewährung als eine weitgehend freie Gnade, ein Privileg im Einzelfall, bestimmt ihre Bedingungen und Formen und beseitigt die irrationalen Formen und Beweismittel des Rechtsganges zugunsten freier amtlicher Wahrheitsermittlung (Offizialmaxime). Das Idealbild dieser rationalen Rechtspflege ist die »Kadijustiz« der »salomonischen« Urteile, wie sie der Held dieser Legende und – Sancho Pansa als Statthalter fällen. Alle patrimonialfürstliche Justiz hat an sich die Tendenz, diese Bahnen einzuschlagen. Die »writs« der englischen Könige wurden formell durch Anrufung ihrer freien Gnade erwirkt. Die »actiones in factum« lassen aber ahnen, wieweit selbst der römische Magistrat in der freien Klagegebung und Klageverweigerung (actiones temporales) ursprünglich gegangen sein mag. Als »Equity« gibt sich auch die englische Amtsjustiz der Neuzeit. Die Reform Ludwigs IX. in Frankreich tritt durchaus in patriarchalen Formen auf. Die orientalische Rechtspflege ist, soweit sie nicht theokratischen Charakter hat, wesentlich patriarchal. Ebenso die indische. Endlich die chinesische Rechtspflege ist ein Typus patriarchaler Verwischung der Grenze zwischen Justiz und Verwaltung. Erlasse der Kaiser, halb belehrenden, halb befehlenden Inhalts, greifen generell oder im Einzelfall ein. Die Urteilsfindung ist, soweit sie nicht magisch bedingt ist, an materialen, nicht an formalen Maßstäben orientiert und daher, an den letzteren oder an ökonomischen »Erwartungen« gemessen, stark irrationale und konkrete »Billigkeits«-Justiz.

Diese Art von Eingreifen des imperium in die Rechtspflege und Rechtsbildung findet sich auf den verschiedensten »Kulturstufen« und ist nicht ökonomisch, sondern primär politisch bedingt. So ist in Afrika überall da, wo die Häuptlingsmacht entweder durch Vereinigung mit dem Zauberpriestertum oder durch die Bedeutung des Krieges oder endlich durch Handelsmonopolisierung stark entwickelt ist, der alte formalistische und magische Prozeß und die ausschließliche Herrschaft der Tradition oft fast völlig verschwunden und einerseits ein Gerichtsverfahren mit öffentlicher Ladung namens des Fürsten (oft durch »Anschwörung« des Geladenen) und Exekution sowie rationalen Beweismitteln durch Zeugen anstelle der Ordalien, andererseits eine Rechtssatzung durch den Fürsten allein (Aschanti) oder durch ihn mit Akklamation der Gemeinde (Süd-Guinea) entstanden. Der Fürst oder Häuptling oder sein Richter aber entscheiden oft gänzlich nach freier Willkür und Billigkeit, ohne alle und jede formale Bindung an Regeln (so bei den Basuto, den Barolong, in Dahomey, im Reiche des Muata Cazembe, in Marokko – Gebieten von untereinander sehr verschiedener Kulturentwicklung). Nur die Gefahr, bei allzu flagranter Beugung des[486] Rechts, zumal der als heilig geltenden Traditionsnormen, auf denen letztlich die eigene »Legitimität« beruht, den Thron zu verlieren, schafft hier Schranken. Dieser antiformale, materiale Charakter der patriarchalen Verwaltung pflegt seinen Höhepunkt da zu erreichen, wo der (weltliche oder priesterliche) Fürst sich in den Dienst positiv religiöser Interessen stellt, und zwar speziell, wo nicht eine ritualistische, sondern eine Gesinnungsreligiosität von ihm in ihren Postulaten propagiert wird. Alle antiformalen Tendenzen der Theokratie verbinden sich dann, und zwar in diesem Fall auch von den sonst geltenden Schranken ritualistischer und deshalb formaler heiliger Normen losgelöst, mit den Formlosigkeiten einer, nur auf die Anerziehung des rechten inneren Habitus abzielenden, patriarchalen Wohlfahrtspflege, deren Verwaltung dabei dem Charakter der »Seelsorge« sich annähert. Alle Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit, Rechtszwang und väterlicher Vermahnung, legislatorischen Motiven und Zwecken und rechtstechnischen Mitteln sind niedergerissen. Die Edikte des buddhistischen Königs Ashoka nähern sich diesem »patriarchalen« Typus am meisten. In aller Regel herrscht aber in der patrimonialfürstlichen Rechtspflege eine Kombination ständischer und patriarchaler Bestandteile miteinander und mit dem formalen Rechtsgang der Dinggenossenschaften. Wieweit das eine oder das andere überwiegt, ist – wie später im Zusammenhang der Analyse der »Herrschaft« zu erörtern ist – ganz wesentlich durch politische Umstände und Machtverhältnisse bedingt. Im Okzident war neben diesen auch die (ebenfalls ursprünglich politisch bedingte) Tradition der dinggenossenschaftlichen Rechtspflege, welche dem König die Stellung als Urteiler prinzipiell absprach, von Bedeutung für das Vorwalten der »ständischen« Form der Rechtspflege.

Das Vordringen formalistisch-rationaler Elemente auf Kosten dieser typischen Zustände des patrimonialen Rechts, wie wir es im Okzident in der Neuzeit beobachten, konnte dem eigenen internen Bedürfnis der patrimonialfürstlichen Verwaltung entspringen. Dies ist namentlich der Fall, soweit es sich um die Beseitigung der Vorherrschaft ständischer Privilegien und des ständischen Charakters der Rechtspflege und Verwaltung überhaupt handelt. Jenen gegenüber gingen ja die Interessen ansteigender Rationalität und das heißt in diesem Fall: steigender Herrschaft formaler Rechtsgleichheit und objektiver formaler Normen mit den Machtinteressen der Fürsten gegenüber den Privilegierten Hand in Hand. Das »Reglement« anstelle des »Privilegs« dient beidem. Anders soweit umgekehrt die Einschränkung der ganz freien patriarchalen Willkür zugunsten 1. fester Regeln und 2. vollends der Schaffung fester Ansprüche der Beherrschten an die Justiz: Garantie »subjektiver Rechte« also, in Frage stand. Beides ist, wie wir wissen, an sich nicht identisch: eine nach festen Verwaltungsreglements verfahrende Streitschlichtung bedeutet noch nicht das Bestehen garantierter »subjektiver Rechte«. Aber das letztere, die Existenz nicht nur objektiver fester Normen, sondern objektiven »Rechts« im strengen Sinn also, ist mindestens im privatrechtlichen Gebiet die einzig sichere Form der Garantie jener Gebundenheit an objektive Normen überhaupt. Auf eine solche Garantie aber wirken ökonomische Interessengruppen hin, welche der Fürst unter Umständen zu begünstigen und an sich zu fesseln wünscht, weil dies seinen fiskalischen und politischen Machtinteressen dient. Vor allem natürlich: bürgerliche Interessenten, welche ein eindeutiges, klares, irrationaler Verwaltungswillkür ebenso wie den irrationalen Störungen durch konkrete Privilegien entzogenes, vor allem die Rechtsverbindlichkeit von Kontrakten sicher garantierendes und infolge aller dieser Eigenschaften berechenbar funktionierendes Recht verlangen müssen. Ein Bündnis von fürstlichen und von Interessen bürgerlicher Schichten gehörte daher zu den wichtigsten treibenden Kräften formaler Rechtsrationalisierung. Nicht in dem Sinn, daß eine direkte »Kooperation« dieser Mächte immer erforderlich wäre. Denn dem privatwirtschaftlichen Rationalismus der bürgerlichen Schichten kommt als selbständiger Faktor der utilitarische Rationalismus jeder Beamtenverwaltung schon von sich aus weit entgegen. Und das fiskalische Interesse des Fürsten sucht, weit[487] über das Gebiet der aktuellen Bedeutung schon bestehender kapitalistischer Interessen hinaus, diesen das Bett zu bereiten, schon ehe sie da sind. Aber eine Garantie von Rechten, die von Fürsten und Beamtenwillkür unabhängig sind, liegt allerdings keineswegs in den genuinen eigenen Entwicklungstendenzen der Bürokratie. Übrigens liegt sie auch nicht ohne Vorbehalt in der Richtung der kapitalistischen Interessen. Ganz im Gegenteil, soweit es sich um die ältere, wesentlich politisch orientierte Form des Kapitalismus handelt, von deren Gegensatz zum spezifisch modernen, »bürgerlichen« Kapitalismus wir noch oft zu reden haben werden. Und selbst die Anfänge des bürgerlichen Kapitalismus zeigen jene typische Interessiertheit an garantierten subjektiven Rechten noch nicht oder nur in begrenztem Maße, oft genug aber das Gegenteil. Denn nicht nur die großen Kolonial- und Handelsmonopolisten, sondern auch die monopolistischen Großunternehmer der merkantilistischen Manufakturperiode stützen sich in aller Regel auf fürstliches Privileg, welches oft genug das geltende gemeine Recht, namentlich das Zunftrecht, durchbricht, den zornigen Widerstand des bürgerlichen Mittelstandes herausfordert und also den Kapitalisten darauf hinweist, seine privilegierten Erwerbschancen durch eine dem Fürsten gegenüber prekäre Rechtsstellung zu erkaufen. Der politisch und monopolistisch orientierte und selbst noch der frühmerkantilistische Kapitalismus kann so zum Interessenten an der Schaffung und Erhaltung der patriarchalen Fürstenmacht gegenüber Ständen und auch gegenüber dem bürgerlichen Gewerbestand werden, wie er es in der Zeit der Stuarts war und wie er es heute auf breiten Gebieten wieder zunehmend geworden ist und noch weiter werden wird. Trotz alledem ist dem Eingreifen des imperium, speziell des fürstlichen imperium, in das Rechtsleben, je stärker und dauernder seine Gewalt sich gestaltete, desto mehr, überall ein Zug zur Vereinheitlichung und Systematisierung des Rechts eigen gewesen: zur »Kodifikation«. Der Fürst will »Ordnung«. Und er will »Einheit« und Geschlossenheit seines Reichs. Und zwar auch aus einem Grunde, der sowohl technischen Bedürfnissen der Verwaltung wie persönlichen Interessen seiner Beamten entspringt: die unterschiedslose Verwertbarkeit seiner Beamten im ganzen Gebiet seiner Herrschaft wird durch Rechtseinheit ermöglicht und ergibt erweiterte Karrierechancen für die Beamten, die nun nicht mehr an den Bezirk ihrer Herkunft dadurch gebunden sind, daß sie dessen Recht allein kennen. Und allgemein streben die Beamten nach »Übersichtlichkeit« des Rechts, die bürgerlichen Schichten nach »Sicherheit« der Rechtsfindung.

Wenn so Interessen des Beamtentums, bürgerliche Erwerbsinteressen und fürstliche fiskalische und verwaltungstechnische Interessen in der Tat normale Träger von Kodifikationen gewesen sind, so sind sie deshalb nicht die einzig möglichen. Auch andere politisch beherrschte Schichten als nur ein Bürgertum können ein Interesse an der eindeutigen Fixierung des Rechts haben, und auch die herrschenden Gewalten, an welche sich ihr Verlangen danach richtet und die ihnen, gezwungen oder freiwillig, nachgeben, müssen nicht notwendig Fürsten sein.

Systematische Rechtskodifikationen können auch das Produkt einer universellen bewußten Neuorientierung des Rechtslebens sein, wie sie infolge äußerer politischer Neuschöpfungen oder von Stände- oder Klassenkompromissen, welche die innere soziale Einigung eines politischen Verbandes bezwecken, unter Umständen auch beider zugleich, notwendig wird. Entweder handelt es sich um planvolle Neuschöpfung von Verbänden auf Neuland: so bei den leges datae der antiken Kolonien. Oder um die Neugründung eines politischen Verbandes, wie etwa der israelitischen Eidgenossenschaft, welcher sich dabei in bestimmten Hinsichten einem einheitlichen Recht unterstellt. Oder um den Abschluß von Revolutionen durch einen Kompromiß von Ständen oder Klassen. So – angeblich – bei den XII Tafeln. Oder es wird wenigstens im Interesse der Rechtssicherheit nach sozialen Konflikten die systematische Rechtsaufzeichnung vorgenommen. Dabei pflegen die Interessenten der Aufzeichnung naturgemäß diejenigen Schichten zu sein, welche bisher unter dem Mangel eindeutig feststehender und allgemein zugänglicher, also zur Kontrolle der Rechtspflege geeigneter,[488] Normen am meisten gelitten haben. Insbesondere also bäuerliche und bürgerliche Schichten gegenüber der adligen oder von Adligen beherrschten Honoratiorenjustiz oder der priesterlichen Rechtspflege: der in der Antike typische Zustand. Die systematische Rechtsaufzeichnung pflegt in diesen Fällen weitgehende Neusatzungen von Recht zu enthalten und wird daher sehr regelmäßig durch Propheten oder prophetenartige Vertrauensmänner (Aisymneten) als lex data kraft Offenbarung oder eingeholten Orakels oktroyiert. Die Interessen, um deren Sicherung es sich handelt, pflegen dabei einerseits den verschiedenen beteiligten Interessenten ziemlich eindeutig vorzuschweben, und auch die möglichen Arten der rechtlichen Schlichtung pflegen durch Erörterung und Agitation weitgehend geklärt und für den prophetischen oder aisymnetischen Machtspruch reif geworden zu sein. Den Interessenten liegt andererseits mehr an einem formalen und klaren, die gerade streitigen Punkte eindeutig schlichtenden als an einem systematischen Recht. Die rechtliche Normierung pflegt daher einerseits in der gleichen charakteristischen epigrammatischen und insoweit rechtssprichwortartigen Kürze zu erfolgen, wie sie Orakeln und Weistümern oder den Responsen von Rechtskonsulenten eignet. Wir finden sie denn auch sehr ähnlich in den XII Tafeln – deren Provenienz aus einer uno actu erfolgten Gesetzgebung man deshalb sehr mit Unrecht bezweifelt – wie im Dekalog und im jüdischen Bundesbuch. Die charakteristische Form dieser beiden Komplexe von Geboten und Verboten spricht allein schon für ihre echt rechtsprophetische und zugleich aisymnetische Provenienz. Beide teilen auch die Eigenschaft miteinander, zugleich religiöse und bürgerliche Gebote zu enthalten: Die XII Tafeln schleudern das Anathema (»sacer esto«) gegen den Sohn, der den Vater schlägt, und gegen den Patron, der dem Klienten die Treue nicht hält. Bürgerliche Rechtsfolgen waren in beiden Fällen ausgeschlossen. Nötig wurden die Gebote offenbar, weil die Hausdisziplin und Hauspietät in Verfall geraten war. Nur ist der religiöse Inhalt der jüdischen Kodifikation im Dekalog und [Bundesbuch] systematisiert, der des römischen Gesetzes besteht aus einzelnen Bestimmungen; das religiöse Recht als Ganzes stand fest, und eine neue religiöse Offenbarung lag nicht vor. Eine ganz andere und nebensächliche Frage ist: ob die »12« Tafeln, auf welchen das römische, durch Rechtspropheten gesatzte Stadtrecht aufgezeichnet gewesen sein und die im gallischen Brande zugrunde gegangen sein sollen, sehr viel historischer sind als die beiden Tafeln des mosaischen Gesetzes. Aber weder sprachliche – gerade bei nur mündlicher Überlieferung der Satzung gar nicht relevante –, noch sachliche Gründe nötigen zur Verwerfung der Tradition über das Alter und die Einheitlichkeit der Gesetzgebung. Die Meinung, es könne sich um Kollektionen von Rechtssprichwörtern oder von Produkten der Spruchpraxis der Rechtshonoratioren handeln, hat die innere Wahrscheinlichkeit gegen sich. Es handelt sich um generelle Normen ziemlich abstrakten Charakters, welche ferner zum einen Teil greifbar einen überaus tendenziösen, ihres Zwecks bewußten Charakter, zum andern den eines Kompromisses zwischen ständischen Interessen an sich tragen. Es ist zum mindesten unwahrscheinlich, daß derartiges einer Spruchpraxis entstamme, noch mehr, daß das literarische Produkt eines Sammlers von Rechtssprüchen: etwa des Sex. Aelius Paetus Catus, in einer von rationalen Interessenkämpfen durchzogenen Zeit auf dem Raum einer Stadt eine solche Autorität habe gewinnen können. Auch die Analogie anderer aisymnetischer Leistungen ist eine zu augenfällige. – Eine »systematische« Kodifikation freilich ergeben die für aisymnetische Rechtssatzung typische Situation und die von ihr zu befriedigenden Bedürfnisse natürlich nur in rein formalem Sinn. Eine solche war ebensowenig der Dekalog für die Ethik wie die XII Tafeln und die rechtlichen Anordnungen des Bundesbuchs für das Geschäftsleben. System und juristische »ratio« bringt erst – in begrenztem Umfang – die Arbeit der Rechtspraktiker hinein. Vor allem die Bedürfnisse des Rechtsunterrichts. In vollem Maße erst die Arbeit fürstlicher Beamter. Sie sind die eigentlichen Kodifikationssystematiker, denn sie sind naturgemäß die Interessenten einer für sie »übersichtlichen« Systematik als solcher, und daher pflegen fürstliche Kodifikationen einen[489] in systematischer Hinsicht wesentlich rationaleren Charakter zu tragen als selbst die umfassendsten aisymnetischen oder prophetischen Satzungen.

Auf anderem Wege als durch fürstliche Kodifikation pflegt »Systematik« in das Recht nur durch didaktisch-literarische Produkte, namentlich durch »Rechtsbücher« hineingebracht zu werden, die dann nicht selten zu einem kanonischen, die Rechtspflege ebenso wie ein Gesetz beherrschenden Ansehen gelangen. Eine systematische Rechtsaufzeichnung pflegt aber in beiden Fällen zunächst nur als Zusammenstellung bereits geltenden Rechts zur Beseitigung entstandener Zweifel und Konflikte aufzutreten. Zahlreiche, äußerlich als »Kodifikationen« sich gebende, im Auftrag von Patrimonialfürsten geschaffene Sammlungen von obrigkeitlich gesatztem Recht und Reglements haben – wie etwa die offizielle chinesische Gesetzsammlung und was ihr ähnelt – trotz einer gewissen »Systematik« der Einteilung mit kodifikatorischer Rechtssatzung gar nichts zu schaffen, weil sie nichts als mechanische Leistungen sind. Andere Kodifikationen wollen nur das schon geltende Recht in eine geordnete und systematische Form bringen. So im wesentlichen die Lex Salica und die meisten ihr gleichartigen »Volksrechte« die Rechtspraxis der dinggenos senschaftlichen Justiz, die Assisen von Jerusalem mit ihrem weitreichenden Einfluß die in Präjudizien festgelegten Handelsbräuche, die Siete Partidas und ähnliche Kodifikationen bis zurück zu den »Leges Romanae« die praktisch lebendig gebliebenen Teile des römischen Rechts. Dennoch bedeutet schon dies unvermeidlich in irgendeinem Grade eine Systematisierung und in diesem Sinn: Rationalisierung des Rechtsstoffs, und die Interessenten daran sind also die gleichen wie an einer eigentlichen Kodifikation im Sinne der systematischen inhaltlichen Revision bestehenden Rechts. Beides ist nicht scharf zu scheiden. An der durch Kodifikation geschaffenen »Rechtssicherheit« pflegt schon als solcher ein starkes politisches Interesse zu bestehen. Bei allen politischen Neuschöpfungen pflegen daher Kodifikationen besonders nahezuliegen. Die Schaffung des Mongolenreichs durch Dschingis Khan sah solche Ansätze (Sammlung der Yasa) ebenso wie viele ähnliche Vorgänge bis herab zur Reichsgründung Napoleons. Für den Okzident liegt daher eine Kodifikationsepoche scheinbar gegen die historische Ordnung ganz am Beginn seiner Geschichte: in den leges der neugeschaffenen Germanenreiche auf römischem Boden. Die Befriedung der ethnisch gemischten politischen Gebilde erheischte hier unbedingt die Feststellung des wirklich geltenden Rechts, und der militärische Umsturz aller Verhältnis se erleichterte den formellen Radikalismus der Durchführung. Die Herstellung innerlicher Rechtssicherheit im Interesse eines präzisen Funktionierens des amtlichen Apparats, daneben (speziell bei Iustinian) [das] Prestigebedürfnis des Monarchen hat die spätrömischen Gesetzsammlungen und schließlich die Iustinianische Rechtskodifikation motiviert und ebenso die fürstlichen rein römisch-rechtlichen Kodifikationen des Mittelalters nach Art etwa der spanischen Siete Partidas. In allen diesen Fällen sind ökonomische Interessen Privater schwerlich direkt im Spiel gewesen. Dagegen läßt gerade die älteste einigermaßen vollständig überlieferte und in dieser Art einzigartige aller erhaltenen Kodifikationen: das Gesetzbuch Hammurabis, mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß eine relativ starke Schicht von Güterverkehrsinteressenten vorhanden war und daß der König in seinem eigenen politischen und fiskalischen Interesse die Rechtssicherheit des Güterverkehrs zu stützen wünschte. Wir befinden uns eben hier auf dem Boden eines Städtekönigtums. Die erhaltenen Reste früherer Rechtssatzungen lassen durchaus vermuten, daß die für die antike Stadt typischen ständischen und klassenmäßigen Gegensätze auch dort am Werk gewesen waren, nur infolge der abweichenden politischen Struktur mit anderen Ergebnissen. Von der Hammurabischen Kodifikation ist, soweit es sich an der Hand älterer Urkunden nachprüfen läßt, festgestellt, daß sie kein eigentlich neues Recht setzte, sondern bestehendes Recht kodifizierte und auch nicht die erste ihrer Art war. Über den ökonomischen und den religiösen, in der eindringlichen Regelung der – hier wie überall dem Patriarchalismus sehr am Herzen liegenden – Familien- und namentlich Kindespietätspflichten[490] zutage tretenden Interessen steht sicherlich bei dieser wie bei den meisten anderen fürstlichen Kodifikationen das politische Interesse an der Einheit des Rechts rein als solcher innerhalb des Reiches. Auch die meisten anderen fürstlichen Kodifikationen gehen aus den uns bekannten Motiven auf Beseitigung des Satzes »Willkür bricht Landrecht« aus. Diese Motive wirkten verstärkt bei den mit dem Entstehen des Beamtenstaats sich häufenden fürstlichen Kodifikationen der Neuzeit. Sie sind nur zum sehr geringen Teil wirkliche Neuschöpfungen. Vielmehr war, wenigstens in Zentral- und Westeuropa, die Geltung des römischen und [des] kanonischen Rechts als Universalrechte ihre Voraussetzung. Das kanonische Recht beanspruchte für seine Vorschriften zwingende universelle Geltung, das römische Recht galt »subsidiär«, ließ also dem Satz: Willkür bricht Landrecht, den Vortritt. In Wahrheit stand es mit zahlreichen Bestimmungen des kanonischen Rechts nicht anders.

An Bedeutung für die Umwälzung des Rechtsdenkens und auch des geltenden materiellen Rechts konnte sich keine von ihnen mit der Rezeption des römischen Rechts messen. Deren Geschichte zu verfolgen, wäre hier nicht der Ort, es muß vielmehr bei wenigen Bemerkungen darüber sein Bewenden haben. Die Rezeption des römischen Rechts war, soweit dabei die Kaiser (Friedrich I.) und später die Fürsten als mitwirkend in Betracht kamen, wesentlich durch die in der Kodifikation Iustinians hervortretende souveräne Stellung des Monarchen veranlaßt. Im übrigen herrscht ungeschlichteter und vielleicht gar nicht einheitlich zu schlichtender Streit darüber: ob und welche ökonomischen Interessen hinter der Rezeption standen und durch sie gefördert wurden, und ebenso: wessen Initiative das Vordringen des gelehrten, d.h. des universitätsgebildeten, Richtertums, des Trägers sowohl des Romanismus wie der patrimonialfürstlichen Prozeduren, zu danken ist. Vor allem: ob es wesentlich die Rechtsinteressenten waren, welche durch Schiedsvertrag die juristisch geschulten Verwaltungsbeamten der Fürsten statt der Gerichte anriefen und so die Entscheidung »von Amts wegen« anstelle der Entscheidung »von Rechts wegen« einbürgerten und die alten Gerichte verdrängten (Stölzel) oder ob (wie namentlich Rosenthal eingehend nachzuweisen gesucht hat) die Gerichte selbst infolge der Initiative der Fürsten zunehmend Juristen statt der Honoratioren als Beisitzer in sich aufnahmen. Wie dem nun sei, so viel steht fest: da nach den Quellen auch diejenigen ständischen Schichten, welche dem Aufkommen des römischen Rechts mit Mißtrauen gegenüberstanden, selbst im allgemeinen die Teilnahme einiger »Doktoren« als Beisitzer nicht anzufechten pflegten und nur deren Übergewicht und vor allem die Zuziehung von Ausländern bekämpften, so ist es offenbar, daß jedenfalls sachliche Notwendigkeiten des Rechtsbetriebs: vor allem die durch Fachschulung erworbene Fähigkeit, komplizierte Tatbestände zu juristisch eindeutiger Fragestellung zu bearbeiten und, ganz allgemein gesprochen, die Notwendigkeit einer Rationalisierung des Prozeßverfahrens, das Vordringen der Fachjuristen bedingten. Insoweit begegneten sich die Betriebsinteressen der Rechtspraktiker mit den Interessen der privaten Rechtsinteressenten, vor allem der bürgerlichen, aber auch der adligen. An der Rezeption der materiellen Bestimmungen des römischen Rechts waren dagegen gerade die »modernsten«, also die bürgerlichen Rechtsinteressenten gar nicht interessiert; die Institute des mittelalterlichen Handels- und des städtischen Grundbesitzrechts entsprachen ihren Bedürfnissen weitaus besser. Nur die allgemeinen formalen Qualitäten des römischen Rechts waren es, welche ihm mit unvermeidlich zunehmender Fachmäßigkeit des Rechtsbetriebs überall da zum Siege verhalfen, wo nicht, wie in England, eine eigene nationale Rechtsschulung bestand und durch starke Interessenten gehütet wurde. Diese formalen Qualitäten bedingten es auch, daß die patrimonialfürstliche Justiz des Okzidents nicht in die Bahnen genuin patriarchaler Wohlfahrts- und materialer Gerechtigkeitspflege ausmündete wie anderwärts. Sehr wesentlich auch die Tatsache der formalistischen Schulung der Juristen, auf die sie als Beamte angewiesen war, stand ihr dabei im Wege und erhielt damals der[491] Rechtspflege des Okzidents das Maß juristisch formalen Charakters, welches ihr im Gegensatz zu den meisten anderen patrimonialen Rechtsverwaltungen spezifisch ist. Der Respekt vor dem römischen Recht und der romanistischen Schulung beherrschte daher auch alles, was die beginnende Neuzeit an fürstlichen Kodifikationen – durchweg Schöpfungen des universitätsgebildeten Juristenrationalismus – erlebte.

Die Rezeption des römischen Rechts schuf – darauf beruhte soziologisch seine Machtstellung – eine neuartige Schicht von Rechtshonoratioren: die auf Grundliterarischer Rechtsbildung mit dem Doktordiplom der Universitäten versehenen Rechtsgelehrten. Die Tragweite für die formalen Qualitäten des Rechts war sehr bedeutend. Schon in der römischen Kaiserzeit hatte das römische Recht begonnen, ein Gegenstand rein literarischen Betriebs zu werden. Das bedeutete hier natürlich etwas anderes als etwa die Schaffung von »Rechtsbüchern« durch die mittelalterlichen Rechtshonoratioren Deutschlands und Frankreichs oder von Grundrissen des geltenden Rechts von seiten englischer Juristen, – so bedeutend übrigens auch deren Auswirkung war. Denn unter dem Einfluß der, sei es auch oberflächlichen, philosophischen Bildung der antiken Juristen nahm die Bedeutung des rein logischen Elements im Rechtsdenken bedeutend zu. Und zwar hier, wo keine Gebundenheit an ein heiliges Recht und keine theologischen oder material ethischen Interessen dies Denken banden und dadurch in die Bahn der rein spekulativen Kasuistik drängten, mit wesentlich stärkeren Konsequenzen für die Gestaltung der Rechtspraxis. Ansätze zu dem Grundsatz, daß, was der Jurist nicht »denken« und »konstruieren« könne, auch rechtswirksam nicht existieren könne, finden sich in der Tat bereits bei den römischen Juristen. Rein logische Sätze wie »quod universitati debetur, singulis non debetur« oder »quod ab initio vitiosum est, non potest tractu temporis convalescere« und ähnliche in großer Zahl gehören dahin. Nur handelt es sich dabei um unsystematische Gelegenheitsproduktionen abstrakter Rechtslogik, welche zur Begründung der im Einzelfall gegebenen, konkret motivierten Entscheidung beigefügt wurden, die aber in anderen Fällen, zuweilen selbst vom gleichen Juristen, wieder achtlos beiseite geworfen wurden. Der wesenhaft induktive, empirische Charakter des Rechtsdenkens wurde dadurch nicht oder wenig alteriert. Ganz anders aber wurde die Situation bei der Rezeption des römischen Rechts. Zunächst setzte sich der Prozeß des Abstraktwerdens der Rechtsinstitute selbst, welcher mit der Entwicklung des römischen Zivilrechts zum Reichsrecht eingesetzt hatte, nun naturgemäß in gesteigertem Maße fort. Um überhaupt rezipiert werden zu können, mußten – wie namentlich Ehrlich mit Recht betont – die römischen Rechtsinstitute aller Reste nationaler Gebundenheit entkleidet und gänzlich in die Sphäre des logisch Abstrakten erhoben, [mußte] das römische Recht zum »logisch richtigen« Recht schlechthin verabsolutiert werden. Dies ist im Verlauf der mehr als sechshundertjährigen Arbeit der gemeinrechtlichen Jurisprudenz tatsächlich geschehen. Zugleich aber verschob sich die Art des Rechtsdenkens weiter nach der formal logischen Seite. Die gelegentlichen glänzenden Aperçus der römischen Juristen von der Art der vorhin zitierten Sätze wurden, aus dem Zusammenhang mit dem konkreten Fall gerissen, wie sie in den Pandekten ohnehin sich vorfanden, zu letzten Rechtsprinzipien gesteigert, aus denen nun deduktiv argumentiert wurde. Was den römischen Juristen in starkem Maß gefehlt hatte: die rein systematischen Kategorien, [das] wurde nun geschaffen. Begriffe wie etwa der des »Rechtsgeschäfts« oder der »Willenserklärung«, für welche in der antiken Jurisprudenz selbst die einheitlichen Namen fehlten, wurden konstruiert. Vor allem aber gewann jetzt der Satz, daß, was der Jurist nicht denken kann, auch rechtlich nicht existiert, wirklich praktische Bedeutung. Bei den antiken Juristen hatte, zufolge der historisch bedingten analytischen Natur des römischen Rechtsdenkens, die eigentlich konstruktive Fähigkeit, wenn nicht gefehlt, so doch eine geringe Bedeutung gehabt. Jetzt, bei der Übertragung dieses Rechts auf ganz fremdartige, der Antike unbekannte Tatbestände trat die Aufgabe: den Tatbestand widerspruchsfrei juristisch zu »konstruieren«, fast alleinherrschend in den Vordergrund, und damit wurde die[492] heute vorherrschende Auffassung des Rechts als eines in sich logisch widerspruchslos und lückenlos geschlossenen Komplexes von »Normen«, die es »anzuwenden« gilt, allein maßgebend für das Rechtsdenken. Bei dieser spezifischen Art von Logisierung des Rechts waren aber keineswegs, wie bei der Tendenz zum formalen Recht an sich, Bedürfnisse des Lebens, etwa der bürgerlichen Interessenten nach einem »berechenbaren« Recht, entscheidend beteiligt. Denn dieses Bedürfnis wird, wie alle Erfahrung zeigt, ganz ebensogut und oft besser durch ein formales empirisches, an Präjudizien gebundenes Recht gewahrt. Die Konsequenzen der rein logischen juristischen Konstruktion verhalten sich vielmehr zu den Erwartungen der Verkehrsinteressenten ungemein häufig gänzlich irrational und geradezu disparat: die vielberedete »Lebensfremdheit« des rein logischen Rechts hat hier ihren Sitz. Sondern es waren interne Denkbedürfnisse der Rechtstheoretiker und der von ihnen geschulten Doktoren: einer typischen Aristokratie der literarischen »Bildung« auf dem Gebiet des Rechts, von welcher jene Entwicklung getragen wurde. Fakultätsgutachten waren auf dem Kontinent die letzte Autorität in zweifelhaften Rechtsfällen, die akademisch gebildeten Richter und Notare, daneben die Advokaten die typischen Rechtshonoratioren. – Wo immer ein organisierter nationaler Juristenstand fehlte, drang das römische Recht mit Hilfe jener siegreich vor: mit Ausnahme Englands, Nordfrankreichs und Skandinaviens eroberte es Europa von Spanien bis Schottland und Rußland. In Italien waren, anfänglich wenigstens, vorwiegend die Notare, im Norden vornehmlich die fürstlichen gelehrten Richter die Träger der Bewegung, hinter welcher fast überall das Fürstentum stand. Die Entwicklung keines okzidentalen Rechts hat sich von diesen Einflüssen ganz frei zu halten vermocht. Auch nicht die des englischen. Nicht nur vieles in seiner Systematik und zahlreiche einzelne Rechtsinstitute weisen die Spuren davon auf, sondern auch die Definition der Quellen des Common Law: richterliche Präjudizien und »legal principles«, zeugt davon, so ungeheuer allerdings der Unterschied in der inneren Struktur blieb. Die eigentliche Heimat freilich blieb Italien, namentlich unter dem Einfluß der genueser und anderer gelehrter Gerichtshöfe (Rotae), deren gesammelte elegante und konstruktive Entscheidungen im 16. Jahrhundert in Deutschland gedruckt wurden und Deutschland unter den Einfluß des Reichskammergerichts und der gelehrten Landesgerichte [brachten].

Erst die Epoche des vollentwickelten »aufgeklärten Despotismus« suchte seit dem 18. Jahrhundert über diesen spezifisch formal rechtslogischen, in aller Welt nur hier entwickelten Charakter des gemeinen Rechts und seiner akademischen Rechtshonoratioren bewußt hinwegzukommen. Dabei spielte zunächst der allgemeine Rationalismus der Bürokratie in ihrer selbstherrlichsten Entfaltung und ihrem naiven Besserwissen die entscheidende Rolle. Die im Kern patriarchale politische Herrschaft hat den später zu erörternden Typus des Wohlfahrtsstaats angenommen und schreitet unbekümmert über das konkrete Wollen der Rechtsinteressenten ebenso wie über den Formalismus des geschulten juristischen Denkens hinweg. Dies fachmäßige Denken möchte sie am liebsten gänzlich unterdrücken. Denn das Recht soll seiner fachjuristischen Qualität entkleidet und so gestaltet werden, daß es nicht nur die Beamten, sondern vor allem auch die Untertanen über ihre Rechtslage ohne fremde Beihilfe erschöpfend belehrt. Dieses Verlangen nach einer von juristischen Spitzfindigkeiten und Formalismen gesäuberten, materiale Gerechtigkeit erstrebenden Rechtspflege ist an sich, sahen wir, jedem fürstlichen Patriarchalismus eigen. Aber er kann dieser Neigung nicht immer rückhaltlos nachgeben. Die Iustinianische Kodifikation hatte für das sublimierte Juristenrecht, das sie kodifizierend systematisierte, nicht an »Laien« als Lernende und Verstehende denken können. Zu einer Ausrottung der juristischen Fachlehre war sie den Leistungen der klassischen Juristen und ihrer durch das Zitiergesetz offiziell anerkannten Autorität gegenüber nicht in der Lage. Sie konnte sich selbst daher nur als die fortan allein maßgebende Zitatensammlung geben, welche dem Unterrichtsbedürfnis der Studenten diente und deshalb als Einführung ein in die Form eines Gesetzes gekleidetes Lehrbuch (»Institutionen«) darzubieten[493] hatte. Unumschränkter dagegen schaltete der Patriarchalismus in dem klassischen Denkmal des modernen »Wohlfahrtsstaats«, dem »Allgemeinen Landrecht« Preußens. Gerade umgekehrt wie im ständischen Kosmos »subjektiver Rechte« ist dies »objektive Recht« hier vorwiegend ein Kosmos von Rechtspflichten: die Universalität der »verdammten Pflicht und Schuldigkeit« ist die beherrschende Qualität der Rechtsordnung, deren hervorstechendes Merkmal ein systematischer Rationalismus nicht sowohl formaler, als vielmehr, wie in solchen Fällen immer, materialer Art bildet. Wo das material »Vernünftige« gelten will, hat das bloß faktisch für Recht Gehaltene zu weichen. Daher vor allem das »Gewohnheitsrecht«. Alle modernen Kodifikationen bis herab zum ersten Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs haben ihm den Krieg erklärt. Die nicht auf ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzgebers beruhenden Gepflogenheiten der Rechtspraxis und jede traditionelle Art der Rechtsinterpretation waren diesen, wie jedem rationalistischen Gesetzgeber, durchaus minderwertige Quellen für die Rechtsanwendung und höchstens so lange zu dulden, als das Gesetz noch nicht gesprochen hat. Die Kodifikation selbst sollte »erschöpfend« sein und glaubte, es sein zu können. Für Zweifelsfälle war der preußische Richter, um jede Neubildung von Recht durch die verhaßte Jurisprudenz hintanzuhalten, auf Rückfrage bei einer eigens dafür gebildeten Kommission hingewiesen. Die Folgen dieser allgemeinen Tendenzen zeigen sich in den formalen Qualitäten des geschaffenen Rechts. Der Versuch der Emanzipation von der Fachjurisprudenz durch direkte Belehrung des Publikums von seiten des Gesetzgebers selbst mußte im preußischen Landrecht, gegenüber den an den römischen Rechtsbegriffen orientierten festen Denkgewohnheiten der Praxis, mit welchen zu rechnen war, eine höchst minutiöse Kasuistik zur Folge haben, welche aber dennoch, infolge des Strebens nach materialer Gerechtigkeit statt nach formaler Schärfe, sehr oft nur zu mangelnder Präzision führte. Dabei blieb die Gebundenheit an den Begriffsvorrat und die Methodik des römischen Rechts, trotz noch so vieler Einzelabweichungen und trotz der hier zum erstenmal in einem deutschen Gesetz unternommenen energischen Verdeutschung der Terminologie, dennoch unentrinnbar. Die zahlreichen lehrhaften oder nur sittlich vermahnenden Sätze ließen oft Zweifel entstehen, inwieweit im Einzelfall eine erzwingbare Rechtsnorm wirklich gewollt sei. Da endlich die Systematik zum Teil nicht von formal juristischen Begriffen, sondern von praktischen Beziehungen der Interessenten zum Recht ausging, zerriß sie vielfach die Erörterung der Rechtsinstitute und schuf dadurch trotz ihres Bestrebens nach Deutlichkeit Unklarheiten. Das Ziel der Ausschaltung der fachjuristischen Bearbeitung des Rechtes erreichte der Gesetzgeber in der Tat weitgehend. Freilich teilweise in anderem Sinn, als er es gemeint hatte. Wirkliche Rechtskenntnis des Publikums konnte durch ein bändereiches Werk mit Zehntausenden von Paragraphen am allerwenigsten erreicht werden, und wenn darunter die Emanzipation von Anwälten und anderen fachjuristischen Praktikern verstanden wurde, so war dies Ziel auch der Natur der Sache nach unter den Bedingungen des modernen Rechtslebens an sich unerreichbar. Die Präjudizienautorität hat sich, nachdem das Obertribunal eine offiziöse Sammlung seiner Entscheidungen erscheinen zu lassen begann, in Preußen so stark entwickelt wie irgendwo außerhalb Englands. Dagegen die wissenschaftliche Behandlung eines Rechts, welches weder ganz präzise formale Normen noch plastische Rechtsinstitute schuf – und beides lag nicht auf dem Wege dieses utilitarischen Gesetzgebers –, konnte in der Tat niemanden reizen. Der patrimoniale materiale Rationalismus hat überhaupt naturgemäß nirgends formal juristisches Denken anregen können. Die Kodifikation trug daher an ihrem Teile dazu bei, daß die eigentlich wissenschaftliche Arbeit der Juristen sich teils erst recht dem römischen Recht, teils, unter dem Einfluß der nationalen Idee, den aus der Vergangenheit überkommenen plastischen Rechtsinstituten des alten deutschen Rechts zuwandte und nunmehr beide mit den Mitteln historischer Methodik in ihrem ursprünglichen, »reinen« Gehalt herauszupräparieren suchte.

Für das römische Recht mußte dies zur Folge haben, daß es unter den[494] Händen der fachmäßig historisch gebildeten Juristen diejenigen Umwandlungen wieder abstreifte, durch welche es bei seiner Rezeption den Bedürfnissen der Rechtsinteressenten angepaßt worden war: der »Usus modernus Pandectarum«, das Produkt der gemeinrechtlichen Bearbeitung des Iustinianschen Rechts, geriet in Vergessenheit und wurde von dem wissenschaftlichen historischen Purismus ebenso verdammt wie die Latinität des Mittelalters dereinst von seiten der wissenschaftlichen Arbeit der humanistischen Philologen. Und wie hier als Folge der Untergang der lateinischen Gelehrtensprache eintrat, so dort der Verlust der Angepaßtheit des römischen Rechts an moderne Verkehrsinteressen. Nun erst wurde die Bahn für die abstrakte Rechtslogik ganz frei. Es war also nur eine Verschiebung der Wirkung des wissenschaftlichen Rationalismus auf ein anderes Gebiet eingetreten, nicht aber – wie die Historiker oft glauben – seine Überwindung. Eine rein logische Neusystematisierung des alten Rechts freilich gelang den historischen Juristen begreiflicherweise nicht in überzeugender Weise. Bekanntlich und nicht zufällig sind bis auf das Windscheidsche Kompendium hinab fast alle Lehrbücher der Pandekten unvollendet geblieben. Eine streng formale juristische Sublimierung der nicht aus dem römischen Recht stammenden Institute gelang andererseits der germanistischen Partei der historischen Rechtsschule ebensowenig. Denn was an ihnen den Historiker wissenschaftlich reizte, war gerade das irrationale, der ständischen Rechtsordnung entstammende, also antiformale Element in ihnen. Nur die von den bürgerlichen Verkehrsinteressenten autonom an ihre Bedürfnisse angepaßten und durch die Praxis der Spezialgerichte empirisch rationalisierten Rechtspartikularitäten, vor allem also: das Wechsel- und Handelsrecht, gelang es, wissenschaftlich und schließlich kodifikatorisch ohne Verlust an praktischer Angepaßtheit zu systematisieren, weil hier zwingende und eindeutige ökonomische Bedürfnisse im Spiel waren. Aber als nach sieben Jahrzehnten der Herrschaft der Historiker und einer in keinem anderen Lande auch nur annähernd erreichten Entwicklung der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft, infolge der Schöpfung des Deutschen Reichs, eine Vereinheitlichung des bürgerlichen Rechts pathetisch als eine nationale Aufgabe hingestellt wurde, trat der deutsche Juristenstand, in sich gespalten und teilweise widerwillig, an dies Werk in einer höchst wenig dafür vorbereiteten Verfassung heran.

Dem gleichen Typus dieser patrimonialfürstlichen Kodifikationen gehörten auch noch andere, insbesondere das österreichische und russische Gesetzbuch an; das letztere freilich bedeutete im wesentlichen nur ein ständisches Recht der an Zahl geringen privilegierten Schichten und ließ die Rechtspartikularitäten der einzelnen Stände, insbesondere der Bauern, also der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Untertanen, ganz unberührt, beließ ihnen sogar ihre eigene Jurisdiktion in einem immerhin praktisch bedeutsamen Umfang. Ihren gegenüber dem preußischen Recht kompendiöseren Umfang erkauften beide Kodifikationen durch eine oft wesentlich geringere Präzision der Bestimmungen, das österreichische Gesetzbuch auch durch weit geringere Originalität gegenüber dem römischen Recht. Wissenschaftliches Denken hat sich auch seiner erst nach Jahrzehnten (in Ungers Werk) bemächtigt, und dann fast ganz mit romanistischen Kategorien.[495]


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 482-496.
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