§ 7. Die formalen Qualitäten des revolutionär geschaffenen Rechts. Das Naturrecht und seine Typen.

[496] Die Eigenart des Code civil S. 496. Das Naturrecht als normativer Maßstab des positiven Rechts S. 497. Typen des Naturrechts. Naturrecht und Freiheitsrechte S. 498. Wandlung des formal-rationalen in material-rationales Naturrecht S. 499. Klassenbeziehungen der Naturrechtsaxiome S. 500. Praktische Einwirkung des Naturrechts auf Rechtsschöpfung und Rechtsfindung S. 501. Die Zersetzung der naturrechtlichen Axiomatik. Der Rechtspositivismus und der Juristenstand S. 501.


Vergleichen wir mit diesen Produkten der vorrevolutionären Zeit das Kind der Revolution, den Code civil, und die Nachahmungen, die er in ganz West-und Südeuropa gefunden hat, so ist der formale Unterschied bedeutend. Es fehlt jede Hineinmengung nichtjuristischer Bestandteile, jede belehrende und nur sittlich vermahnende Note und alle Kasuistik. Zahlreiche Sätze des Code wirken epigrammatisch und plastisch in gleichem Sinn wie Sätze der XII Tafeln, und viele von ihnen sind ebenso volkstümlicher Besitz geworden wie etwa alte Rechtssprichwörter, was gewiß weder einem Satz des Allgemeinen Landrechts noch anderer deutscher Kodifikationen geschehen ist. Wenn neben dem angelsächsischen Recht, dem Produkt der juristischen Praxis, und dem gemeinen römischen Recht, dem Produkt der theoretisch-literarischen juristischen Bildung (auf welchem die große Mehrzahl der ost- und mitteleuropäischen Kodifikationen ruht), das Recht des Code, als das Produkt der rationalen Gesetzgebung, das dritte große Weltrecht geworden ist, so bildeten den Grund dafür eben diese formellen Qualitäten, welche eine außerordentliche Durchsichtigkeit und präzise Verständlichkeit der Bestimmungen teils wirklich enthalten, teils vortäuschen. Diese Plastik vieler seiner Sätze verdankt der Code der Orientierung zahlreicher Rechtsinstitutionen an dem Recht der Coutumes. Ihr ist an formal juristischen Qualitäten und auch an Gründlichkeit der materialen Erwägung manches geopfert. Das Rechtsdenken aber wird durch die abstrakte Gesamtstruktur der Rechtssystematik und durch die axiomatische Art zahlreicher einzelner Bestimmungen im ganzen doch nicht zu eigentlich konstruktiver Bearbeitung von Rechtsinstitutionen in ihrem pragmatischen Zusammenhang angeregt, sondern sieht sich meist darauf hingewiesen, jene nicht seltenen Formulierungen des Code, welche nicht den Charakter von Rechtsregeln, sondern von »Rechtssätzen« an sich tragen, eben als »Sätze« zu nehmen und an der Hand der Probleme der Praxis zu adaptieren; und die formalen Qualitäten der modernen französischen Jurisprudenz sind vielleicht teilweise dieser etwas widerspruchsvollen Eigenart des Gesetzes zuzuschreiben. Diese selbst aber ist der Ausdruck einer spezifischen Art von Rationalismus: des souveränen Bewußtseins, daß hier zum ersten Mal rein rational ein von allen historischen »Vorurteilen« freies Gesetz, Benthams Ideal entsprechend, geschaffen werde, welches (vermeintlich) seinen Inhalt nur von dem sublimierten gesunden Menschenverstand in Verbindung mit der spezifischen Staatsräson der dem Genie, und nicht der Legitimität, ihre Macht verdankenden großen Nation empfängt. Die Art der Stellung zur Rechtslogik jedoch kommt, soweit sie der plastischen Gestaltung die juristische Sublimierung opfert, in einzelnen Fällen direkt auf Rechnung des persönlichen Eingreifens Napoleons. Ihre epigrammatische Theatralik aber entspricht der gleichen Art der Formulierung der »Menschen- und Bürgerrechte« in den amerikanischen und französischen Verfassungen. Bestimmte Axiome über den Inhalt von Rechtssätzen werden hier nicht in die Form nüchterner Rechtsregeln, sondern in postulatartige Spruchformen gebracht mit dem Anspruch, daß ein Recht nur dann wirklich legitim sei, wenn es jenen Postulaten nicht zuwiderlaufe. Wir haben uns mit dieser besonderen Art der Bildung abstrakter Rechtssätze in Kürze zu befassen.[496]

Soziologisch kommen die Vorstellungen über das »Recht des Rechtes« innerhalb einer rationalen und positiven Rechtsordnung nur soweit in Betracht, als aus der Art der Lösung dieses Problems praktische Konsequenzen für das Verhalten der Rechtsschöpfer, Rechtspraktiker und Rechtsinteressenten entstehen, wenn also die Überzeugung von der spezifischen »Legitimität« bestimmter Rechtsmaximen, [d.h.] von der durch keinerlei Oktroyierung von positivem Recht zu zerstörenden, unmittelbar verpflichtenden Kraft bestimmter Rechtsprinzipien, das praktische Rechtsleben wirklich fühlbar beeinflußt. Dies ist tatsächlich historisch wiederholt, speziell aber im Beginn der Neuzeit und in der Revolutionsepoche der Fall gewesen und ist es teilweise (in Amerika) noch. Die Inhalte solcher Maximen aber pflegt man als »Naturrecht« zu bezeichnen.

Wir lernten die »lex naturae« früher als eine wesentlich stoische Schöpfung kennen, die das Christentum übernahm, um zwischen seiner eigenen Ethik und den Normen der Welt eine Brücke zu finden. Es war das innerhalb der gegebenen Welt der Sünde und Gewaltsamkeit nach Gottes Willen legitime »Recht für Alle«, im Gegensatz zu Gottes direkt für seine Bekenner offenbartem und nur dem religiös Auserwählten einleuchtendem Gebot. Jetzt sehen wir die lex naturae von der anderen Seite her. »Naturrecht« ist der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren. Normen also, welche nicht kraft ihres Ursprungs von einem legitimen Gesetzgeber, sondern kraft rein immanenter Qualitäten legitim sind: die spezifische und einzig konsequente Form der Legitimität eines Rechts, welche übrigbleiben kann, wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen. Das Naturrecht ist daher die spezifische Legitimitätsform der revolutionär geschaffenen Ordnungen. Berufung auf »Naturrecht« ist immer wieder die Form gewesen, in welcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtsschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und Offenbarungen stützten. Zwar ist nicht jedes Naturrecht seinem gemeinten Sinn nach »revolutionär«, derart daß es bestimmten Normen die Berechtigung zuspräche, einer bestehenden Ordnung gegenüber durch gewaltsames Handeln oder durch passive Renitenz durchgesetzt zu werden. Nicht nur haben auch die verschiedensten Arten von autoritären Gewalten ihre »naturrechtliche« Legitimation erfahren. Sondern es gab auch ein einflußreiches »Naturrecht des historisch Gewordenen« als solchen gegenüber dem auf abstrakte Regeln gegründeten oder solche Regeln produzierenden Denken. Ein naturrechtliches Axiom dieser Provenienz lag z.B. der Theorie der historischen Schule von der Präeminenz des »Gewohnheitsrechts« – ein erst von ihr klar ausgebauter Begriff – zugrunde. Ganz ausdrücklich dann, wenn behauptet wurde: ein Gesetzgeber »könne« durch Satzung den Geltungsbereich des Gewohnheitsrechts gar nicht rechtswirksam einschränken, vor allem dessen derogatorische Kraft gegenüber den Gesetzen nicht ausschließen. Denn man »könne« dem geschichtlichen Werden nicht verbieten, daß es sich vollziehe. Aber auch alle nicht bis zu dieser Konsequenz gehenden, halb historischen, halb naturalistischen Theorien vom »Volksgeist« – als der einzig natürlichen und daher legitimen Quelle –, aus welchem Recht und Kultur emaniere, und speziell von dem »organischen« Wachstum alles echten, auf unmittelbarem »Rechtsgefühl« beruhenden und nicht »künstlichen«, d.h. zweckrational gesatzten Rechtes, oder wie sonst sich diese der Romantik eigentümlichen Gedankenreihen geben mochten, enthielten jene, das gesatzte Recht zu etwas »nur« Positivem deklassierende Voraussetzung.

Dem Irrationalismus dieser Axiome stehen nun die naturrechtlichen Axiome des Rechtsrationalismus kontradiktorisch gegenüber, und nur sie konnten Normen formaler Art überhaupt schaffen, so daß man unter Naturrecht a potiori mit Recht nur sie zu verstehen pflegt. Ihre Ausbildung in der Neuzeit war, neben den religiösen Grundlagen, welche sie bei den rationalistischen Sekten fanden, teils das Werk des[497] Naturbegriffs der Renaissance, welche überall den Kanon des von der »Natur« Gewollten zu erfassen strebte, teils entstanden sie in Anlehnung an den vor allem in England heimischen Gedanken bestimmter angeborener nationaler Rechte jedes Volksgenossen. Dieser spezifisch englische Begriff des »birthright« entstand sehr wesentlich unter dem Einfluß der populären Auffassung gewisser in der Magna Charta ursprünglich lediglich den Baronen verbriefter ständischer Freiheiten als nationaler Freiheitsrechte der englischen Untertanen als solcher, an denen sich weder der König noch irgendeine andere politische Gewalt vergreifen dürfe. Der Übergang zu der Vorstellung von Rechten jedes Menschen als solchen dagegen ist, unter zeitweise sehr starker Mitwirkung religiöser, namentlich täuferischer Einflüsse, im wesentlichen erst durch die rationalistische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts vollzogen worden.

Die Naturrechtsaxiome können unter sich verschiedenen Typen angehören, von denen wir hier nur diejenigen betrachten wollen, welche besonders nahe zur Wirtschaftsordnung in Beziehung stehen. Die naturrechtliche Legitimität positiven Rechts kann entweder mehr an formale Bedingungen geknüpft sein oder mehr an materiale. Der Unterschied ist graduell, denn ein ganz rein formales Naturrecht kann es nicht geben: es würde ja mit den inhaltleeren ganz allgemeinen juristischen Begriffen zusammenfallen müssen. Aber immerhin ist der Gegensatz praktisch sehr bedeutend. Der reinste Typus der ersten Gattung ist das Naturrecht, welches im 17. und 18. Jahrhundert zuerst unter den erwähnten Einflüssen entstand: vor allem in Gestalt der »Vertragstheorie«, und zwar speziell in deren individualistischer Form. Alles legitime Recht beruht auf Satzung, und Satzung ihrerseits letztlich immer auf rationaler Vereinbarung. Entweder real, auf einem wirklichen Urvertrag freier Individuen, welcher auch die Art der Entstehung neuen gesatzten Rechts für die Zukunft regelt. Oder in dem ideellen Sinn: daß nur ein solches Recht legitim ist, dessen Inhalt dem Begriff einer vernunftgemäßen, durch freie Vereinbarung gesatzten Ordnung nicht widerstreitet. Die »Freiheitsrechte« sind der wesentliche Bestandteil eines solchen Naturrechts, und vor allem: die Vertragsfreiheit. Der freiwillige rationale Kontrakt entweder als wirklicher historischer Grund aller Vergesellschaftungen einschließlich des Staats oder doch als regulativer Maßstab der Bewertung wurde eines der universellen Formalprinzipien naturrechtlicher Konstruktionen. Dies wie jedes formale Naturrecht steht also prinzipiell auf dem Boden des Systems der legitim durch Zweckkontrakt erworbenen Rechte und also, soweit es sich um ökonomische Güter handelt, auf dem Boden der durch Vollentwicklung des Eigentums geschaffenen ökonomischen Einverständnisgemeinschaft. Das legitim durch freien Vertrag mit allen (Urvertrag) oder mit einzelnen Anderen erworbene Eigentum und die Freiheit der Verfügung darüber, also prinzipiell freie Konkurrenz, gehört zu seinen selbstverständlichen Bestandteilen. Formale Schranken hat daher die Vertragsfreiheit nur insofern, als Verträge und Gemeinschaftshandeln überhaupt nicht gegen das sie legitimierende Naturrecht selbst verstoßen, also nicht die ewigen unverjährbaren Freiheitsrechte antasten dürfen, möge es sich nun um die privaten Abmachungen der Einzelnen oder um das anstaltsbezogene Handeln der Verbandsorgane und die Fügsamkeit der Mitglieder ihm gegenüber handeln. Man kann sich gültig weder in die politische noch in die privatrechtliche Sklaverei begeben. Aber im übrigen kann keine Satzung gültig die freie Verfügung des Einzelnen über seinen Besitz oder seine Arbeitskraft beschränken. Zum Beispiel ist deshalb jeder gesetzliche »Arbeiterschutz«, also jedes Verbot bestimmter Inhalte des »freien« Arbeitsvertrages, ein Eingriff in die Vertragsfreiheit, und die Judikatur des höchsten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten hat daher bis in die jüngste Zeit daran festgehalten: daß solche Bestimmungen schon rein formal, auf Grund der naturrechtlichen Präambeln der Verfassungen nichtig seien. Materialer Maßstab aber für das, was naturrechtlich legitim ist, sind »Natur« und »Vernunft«. Beide und die aus ihnen ableitbaren Regeln: allgemeine Regeln des Geschehens und allgemein geltende Normen also, werden[498] als zusammenfallend angesehen; die Erkenntnisse der menschlichen »Vernunft« gelten als identisch mit der »Natur der Sache«: der »Logik der Dinge«, wie man das heute ausdrücken würde; das Geltensollende gilt als identisch mit dem faktisch im Durchschnitt überall Seienden; die durch logische Bearbeitung von Begriffen: juristischen oder ethischen, gewonnenen »Normen« gehören im gleichen Sinn wie die »Naturgesetze« zu denjenigen allgemein verbindlichen Regeln, welche »Gott selbst nicht ändern kann« und gegen welche eine Rechtsordnung sich nicht aufzulehnen versuchen darf. Der Natur der Sache und dem Grundsatz der Legitimität erworbener Rechte entspricht z.B. nur die Existenz des auf dem Wege des freien Güteraustauschs zur Geldfunktion gelangten, also des metallischen Geldes. Eine Rechtsordnung hat daher z.B. die naturrechtliche Pflicht, den Staat – wie gelegentlich noch im 19. Jahrhundert von Fanatikern behauptet worden ist – lieber zugrunde gehen zu lassen, als den legitimen Bestand des Rechts durch die Illegitimität der »künstlichen« Schaffung von Papiergeld zu beflecken. Denn eine Verletzung legitimen Rechts hebt den »Begriff« des Staates auf.

Erweichungen dieses Formalismus entstanden im Naturrecht auf verschiedenem Wege. Zunächst mußte es, um mit der bestehenden Ordnung überhaupt Beziehungen zu gewinnen, legitime Erwerbsgründe von Rechten akzeptieren, welche aus der Vertragsfreiheit nicht ableitbar waren. Vor allem den Erwerb kraft Erbrechts. Da die mannigfachen Versuche, das Erbrecht naturrechtlich zu begründen, durchweg nicht formalrechtlichen, sondern rechtsphilosophischen Charakters sind, lassen wir sie hier ganz beiseite. Fast immer ragen letztlich materiale Motive hinein, noch öfter aber [sind es] höchst künstliche Konstruktionen. Zahlreiche andere Institutionen des geltenden Rechts ferner waren lediglich praktisch utilitarisch, nicht aber formal, zu legitimieren. Durch deren »Rechtfertigung« glitt die naturrechtliche »Vernunft« leicht überhaupt auf die Bahn utilitarischer Betrachtungsweise, und dies äußerte sich in der Verschiebung des Begriffs des »Vernünftigen«. Beim rein formalen Naturrecht ist das Vernünftige das aus ewigen Ordnungen der Natur und der Logik – beides wird gern ineinandergeschoben – Ableitbare. Aber namentlich der englische Begriff des »reasonable« barg von Anfang an auch die Bedeutung: »rationell« im Sinn von »praktisch zuträglich« in sich. Darauf ließ sich der Schluß aufbauen: das praktisch zu absurden Konsequenzen Führende könne nicht das durch Natur und Vernunft gewollte Recht sein, und dies bedeutete das ausdrückliche Hineintragen materialer Voraussetzungen in den Begriff der Vernunft, die ja freilich der Sache nach latent von jeher in ihm lebendig gewesen waren. Tatsächlich hat mit Hilfe dieser Verschiebung jenes Begriffes z.B. der Supreme Court der Vereinigten Staaten sich in der neuesten Zeit sehr weitgehend der Gebundenheit an das formale Naturrecht zu entziehen gewußt und sich die Möglichkeit verschafft, z.B. die Gültigkeit gewisser Teile der sozialen Gesetzgebung anzuerkennen.

Prinzipiell aber wandelte sich das formale Naturrecht in ein materiales, sobald die Legitimität eines erworbenen Rechts nicht mehr an formal juristischen, sondern an material ökonomischen Merkmalen der Erwerbsart haftete. In Lassalles System der erworbenen Rechte wird noch versucht, ein bestimmtes Problem naturrechtlich mit formalen Mitteln, aber mit denen der Hegelschen Entwicklungslehre, zu entscheiden. Die Unantastbarkeit der auf Grund einer positiven Satzung formal legitim erworbenen Rechte wird vorausgesetzt; aber an dem Problem der sogenannten rückwirkenden Kraft der Gesetze und der damit zusammenhängenden Frage der Entschädigungspflicht des Staates im Falle der Aufhebung von Privilegien tritt die naturrechtliche Schranke dieses Rechtspositivismus hervor. Der hier nicht interessierende Lösungsversuch ist durchaus formalen und naturrechtlichen Charakters.

Der entscheidende Umschlag zum materialen Naturrecht knüpft vornehmlich an sozialistische Theorien von der ausschließlichen Legitimität des Erwerbs durch eigene Arbeit an. Denn damit ist nicht nur dem entgeltlosen Erwerb durch Erbrecht oder garantierte Monopole, sondern dem formalen Prinzip der Vertragsfreiheit und der[499] grundsätzlichen Legitimität aller durch Vertrag erworbenen Rechte überhaupt abgesagt, weil alle Appropriation von Sachgütern nun material daraufhin geprüft werden muß, wieweit sie auf Arbeit als Erwerbsgrund ruhe.

Natürlich haben ebenso das formale rationalistische Naturrecht der Vertragsfreiheit wie dies materiale Naturrecht der ausschließlichen Legitimität des Arbeitsertrags sehr starke Klassenbeziehungen. Die Vertragsfreiheit und alle Sätze über das legitime Eigentum, welche daraus abgeleitet wurden, waren selbstverständlich das Naturrecht der Marktinteressenten als der an [der] endgültigen Appropriation der Produktionsmittel Interessierten. Daß umgekehrt das Dogma von der spezifischen Unappropriierbarkeit des Grund und Bodens, weil ihn niemand durch seine Arbeit produziert habe, also: der Protest gegen die Schließung der Bodengemeinschaft, der Klassenlage ländlicher proletarisierter Bauern entspricht, deren verengerter Nahrungsspielraum sie unter das Joch der Bodenmonopolisten zwingt, ist klar. Und ebenso, daß diese Parole speziell da pathetische Macht gewinnen muß, wo für den Ertrag der landwirtschaftlichen Gütererzeugung wirklich noch vorwiegend die natürliche Beschaffenheit des Bodens ausschlaggebend und zugleich die Bodenappropriation wenigstens nach innen noch nicht geschlossen ist, wo ferner ein rationaler »Großbetrieb« als Arbeitsorganisation in der Landwirtschaft fehlt, die Rente der Grundherren vielmehr entweder reine Pachtrente ist oder doch mit Bauerninventar und Bauerntechnik herausgewirtschaftet wird, wie sehr vielfach auf dem Gebiet der »schwarzen Erde«. Positiv gewendet ist aber dieses kleinbäuerliche Naturrecht vieldeutig, denn es kann sowohl 1. ein Recht auf Bodenanteil im Ausmaß der vollen Ausnutzung der eigenen Arbeitskraft (russisch: »trudowaja norma«), wie 2. ein Recht auf Bodenbesitz im Ausmaß der traditionell unentbehrlichen Bedarfsdeckung (russisch: »potrebitjelnaja norma«) – also in der üblichen Terminologie: entweder ein »Recht auf Arbeit« oder ein »Recht auf das Existenzminimum« – und, mit beiden verbunden, 3. das »Recht auf den vollen Arbeitsertrag« in sich schließen. Die nach heute absehbarer Wahrscheinlichkeit letzte naturrechtliche Agrarrevolution, welche die Welt gesehen haben wird: die russische des letzten Jahrzehnts32, hat sich an den unaustragbaren Gegensätzen jener [ersten] beiden möglichen Naturrechtsnormen untereinander und gegenüber den historisch oder realpolitisch oder praktisch-ökonomisch oder endlich – in hoffnungsloser Konfusion, weil im Widerspruch mit den eigenen Grunddogmen – marxistisch-evolutionistisch motivierten Bauernprogrammen in sich selbst auch rein ideell verblutet. Jene drei »sozialistischen« Individualrechte haben bekanntlich auch in der Ideenwelt des gewerblichen Proletariats ihre Rolle gespielt. Von ihnen sind das erste und zweite sowohl unter handwerksmäßigen wie unter kapitalistischen Existenzbedingungen der Arbeiterschaft theoretisch sinnvoll möglich; das dritte dagegen nur unter handwerksmäßigen, [jedoch] unter kapitalistischen gar nicht oder doch nur, wenn man sich eine streng traditionelle Innehaltung bestimmter Kostpreise beim Tausch universell durchgeführt (und durchführbar) denkt. Auf dem Boden der Landwirtschaft aber ebenso nur bei kapitalloser Produktion. Denn kapitalistische Produktionsteilung verschiebt sofort die Zurechnung des Ertrags des landwirtschaftlichen Bodens von der direkten landwirtschaftlichen Produktionsstätte hinweg in die Werkstätten landwirtschaftlicher Werkzeuge, künstlicher Düngemittel usw., und auf dem Gebiet des Gewerbes gilt das gleiche. Wo aber überhaupt Verwertung der Produkte auf einem Markt mit freier Konkurrenz den Ertrag bestimmt, verliert der Inhalt jenes Rechts des Einzelnen unvermeidlich den Sinn eines – gar nicht mehr existierenden – individuellen »Arbeitsertrags« und kann nur als Kollektivanspruch der in gemeinsamer Klassenlage Befindlichen Sinn behalten. Praktisch wird es dann zu einem Anspruch auf den »living wage«, also zu einer Spielart des »Rechts auf das durch die üblichen Bedürfnisse bestimmte Existenzminimum«, ähnlich dem von der kirchlichen Ethik geforderten »justum pretium« des Mittelalters,[500] welches im Fall des Zweifels durch Prüfung (und eventuell: Probe): ob bei dem betreffenden Preise der betreffende Handwerker seinen standesgemäßen Lebensunterhalt finden könne, bestimmt wurde.

Das »justum pretium« selbst, der wichtigste naturrechtliche Einschlag der kanonistischen Wirtschaftslehre, ist ganz allgemein dem gleichen Schicksal verfallen. Man kann mit Fortschreiten der Marktvergemeinschaftung in der kanonistischen Literatur bei der Erörterung der Bestimmungsgründe des »justum pretium« die allmähliche Zurückdrängung dieses dem »Nahrungsprinzip« entsprechenden Arbeitswertpreises durch den Konkurrenzpreis als »natürlichen« Preis verfolgen. Schon bei Antonin von Florenz hat dieser das entschiedene Übergewicht. Bei den Puritanern dominiert er natürlich vollends. Der als »unnatürlich« verwerfliche Preis war nunmehr ein solcher, welcher nicht auf freier, d.h. durch Monopole oder andere willkürliche menschliche Eingriffe ungestörter, Marktkonkurrenz beruht. Dieser Satz hat in der ganzen puritanisch beeinflußten angelsächsischen Welt bis in die Gegenwart hinein seine Wirkungen geübt. Er hat sich, kraft seiner naturrechtlichen Dignität, als eine immerhin viel tragfähigere Stütze des Ideals der »freien Konkurrenz« erwiesen als die rein utilitarischen ökonomischen Theorien Bastiatschen Gepräges auf dem Kontinent. –

Alle Naturrechtsdogmen haben die Rechtsschöpfung ebenso wie die Rechtsfindung mehr oder minder erheblich beeinflußt. Sie haben die ökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung teilweise beträchtlich überdauert und bildeten eine selbständige Komponente der Rechtsentwicklung. Formal steigerten sie zunächst die Neigung zum logisch abstrakten Recht, überhaupt die Macht der Logik im Rechtsdenken. Material war ihr Einfluß überaus verschieden stark, überall aber bedeutend. Es ist hier nicht der Ort, dies und die Wandlungen und Kompromisse der verschiedenen naturrechtlichen Axiome im einzelnen zu verfolgen. Nicht nur die revolutionären, sondern auch schon die Kodifikationen des vorrevolutionären rationalistischen modernen Staats und Beamtentums waren von Naturrechtsdogmen beeinflußt und leiteten die spezifische Legitimität des von ihnen geschaffenen Rechts letztlich weitgehend aus seiner »Vernünftigkeit« ab. Wir sahen schon, wie leicht an der Hand eben dieses Begriffs der Umschlag aus dem ethisch und juristisch Formalen in das utilitarisch und technisch Materiale sich vollziehen konnte und vollzog. Dieser Umschlag lag freilich, aus Gründen, die wir kennenlernten, den vorrevolutionären patriarchalen Mächten besonders nahe, während umgekehrt die unter dem Einfluß der bürgerlichen Klassen sich vollziehenden Kodifikationen der Revolution die formalen naturrechtlichen Garantien des Individuums und seiner Rechtssphäre gegenüber der politischen Herrschaftsgewalt betonten und steigerten. Das Emporwachsen des Sozialismus bedeutete dann zwar zunächst die steigende Herrschaft materialer Naturrechtsdogmen in den Köpfen der Massen und mehr noch in den Köpfen ihrer der Intellektuellenschicht angehörigen Theoretiker. Einen direkten Einfluß auf die Rechtsprechung haben aber diese materialen Naturrechtsdogmen nicht erlangen können, schon weil sie, ehe sie überhaupt dazu befähigt gewesen wären, schon wieder durch die zunehmend rasch arbeitende positivistische und relativistisch-evolutionistische Skepsis eben dieser Intellektuellenschichten zersetzt wurden. Unter dem Einfluß dieses antimetaphysischen Radikalismus suchte die eschatologische Erwartung der Massen Anhalt an Prophetien statt an Postulaten. Auf dem Boden der revolutionären Rechtstheorien wurde infolgedessen die Naturrechtslehre zerstört durch die evolutionistische Dogmatik des Marxismus. Auf der Seite der offiziellen Wissenschaft wurde sie teils durch Comtesche Entwicklungsschemata, teils durch die »organischen« Entwicklungstheoreme des Historismus vernichtet. Die gleiche Wirkung hatte auch der Einschlag von »Realpolitik«, welchen unter dem Eindruck der modernen Machtpolitik vor allem die Behandlung des öffentlichen Rechts annahm.

Die Methodik der publizistischen Theoretiker verfuhr von jeher und verfährt vollends heute in weitgehendem Maße so: daß sie als Konsequenz einer bekämpften[501] juristischen Konstruktion praktisch-politisch absurd scheinende Folgerungen33 aus derselben aufzeigt und sie damit als erledigt betrachtet. Diese Methode ist derjenigen des formalen Naturrechts direkt entgegengesetzt. Sie enthält andererseits auch nichts von materialem Naturrecht in sich. Im übrigen arbeitete die kontinentale Jurisprudenz mit dem bis in die jüngste Vergangenheit im wesentlichen unangefochtenen Axiom von der logischen »Geschlossenheit« des positiven Rechts. Ausdrücklich verkündet ist es wohl zuerst von Bentham, im Protest gegen die Präjudizienwirtschaft und Irrationalität des Common Law. Gestützt wurde es indirekt durch alle jene Richtungen, welche alles überpositive Recht, insbesondere das Naturrecht, ablehnten, insofern also auch durch die historische Schule. Gänzlich auszurotten ist freilich der latente Einfluß naturrechtlicher, uneingestandener, Axiome auf die Rechtspraxis schwerlich. Aber nicht nur infolge der unausgleichbaren Kampfstellung formaler und materialer Naturrechtsaxiome gegeneinander und nicht nur infolge der Arbeit der verschiedenen Formen der Entwicklungslehre, sondern auch infolge der fortschreitenden Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome überhaupt, teils durch den juristischen Rationalismus selbst, teils durch die Skepsis des modernen Intellektualismus im allgemeinen, ist die naturrechtliche Axiomatik heute in tiefen Mißkredit geraten. Sie hat jedenfalls die Tragfähigkeit als Fundament eines Rechts verloren. Verglichen mit dem handfesten Glauben an die positive religiöse Offenbartheit einer Rechtsnorm oder an die unverbrüchliche Heiligkeit einer uralten Tradition sind auch die überzeugendsten durch Abstraktion gewonnenen Normen für diese Leistung zu subtil geartet. Der Rechtspositivismus ist infolgedessen in vorläufig unaufhaltsamem Vordringen. Das Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen hat die Möglichkeit, das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten, prinzipiell vernichtet: es ist heute allzu greifbar in der großen Mehrzahl und gerade in vielen prinzipiell besonders wichtigen seiner Bestimmungen als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt. Aber eben dieses Absterben seiner metajuristischen Verankerung gehörte zu denjenigen ideologischen Entwicklungen, welche zwar die Skepsis gegenüber der Würde der einzelnen Sätze der konkreten Rechtsordnung steigerten, eben dadurch aber die faktische Fügsamkeit in die nunmehr nur noch utilitarisch gewertete Gewalt der jeweils sich als legitim gebärdenden Mächte im ganzen außerordentlich förderten. Vor allem innerhalb des Kreises der Rechtspraktiker selbst. Die Berufspflicht der Wahrung bestehenden Rechts scheint die Rechtspraktiker generell in den Kreis der »konservativen« Mächte einzureihen. Das trifft vielfach auch zu, aber in dem doppelten Sinn, daß der Rechtspraktiker sowohl dem Ansturm materialer Postulate von »unten«, im Namen »sozialer« Ideale, wie von »oben«, im Namen patriarchaler Macht- und Wohlfahrts-Interessen der politischen Gewalt, kühl gegenüberstehen wird. Indessen gilt dies nicht unbedingt. Den Anwälten speziell liegt, kraft ihrer direkten Beziehung zu den Interessenten und ihrer Qualität als erwerbender, sozial schwankend bewerteter Privatleute, die Rolle der Vertretung der Nichtprivilegierten und speziell der formalen Rechtsgleichheit nahe. Schon in den Popolanen-Bewegungen der italienischen Kommunen, dann in allen bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit und weitgehend auch in den sozialistischen Parteien haben daher Advokaten und Juristen überhaupt eine hervorragende Rolle gespielt, und in rein demokratischen politischen Verbänden (Frankreich, Italien, Vereinigte Staaten) sind sie, als die fachmäßig allein über die rechtlichen Möglichkeiten sachkundigen Techniker, als Honoratioren und als Vertrauensmänner ihrer Klientel die gegebenen Anwärter auf politische Karriere. Aber auch die Richter haben unter Umständen aus ideologischen Gründen, aus Standessolidarität, gelegentlich auch aus materiellen Gründen, eine sehr starke Opposition gegen die patriarchalen Mächte gebildet. Die feste regelhafte Bestimmtheit aller äußeren Rechte und Pflichten wird ihnen als ein um seiner selbst[502] willen erstrebenswertes Gut erscheinen, und diese spezifisch »bürgerliche« Grundlage ihres Denkens bedingte ihre entsprechende Stellungnahme in den politischen Kämpfen, welche um die Eindämmung der autoritären patrimonialen Willkür und Gnade geführt wurden. Aber je nachdem dabei der Nachdruck mehr auf die Tatsache der »Ordnung« als solcher oder mehr auf die Garantie und Sicherheit, welche sie der Sphäre des Einzelnen verleiht: die »Freiheit«, fiel (das Recht als »Reglement« oder als Quelle »subjektiven Rechts« gewertet wurde – um die Unterscheidung Radbruchs zu akzeptieren –), konnte dann weiterhin, nachdem die »Regelhaftigkeit« der sozialen Ordnung einmal durchgesetzt war, der Juristenstand mehr auf die Seite der autoritären oder der antiautoritären Gewalten treten. Aber nicht nur dieser Gegensatz, sondern vor allem auch die alte Alternative zwischen formalen und materialen Rechtsidealen und das ökonomisch bedingte starke Wiedererwachen dieser letzteren, oben und unten, bedingten die Abschwächung der Oppositionsstellung der Juristen als solcher. Durch welche technischen Mittel es den autoritären Gewalten gelingt, Widerstände innerhalb des Richtertums unschädlich zu machen, ist später zu erörtern. Unter den allgemeinen ideologischen Gründen der Änderung jener Haltung der Juristen aber spielt das Schwinden des Naturrechtsglaubens eine bedeutende Rolle. Soweit der Juristenstand heute überhaupt typische ideologische Beziehungen zu den gesellschaftlichen Gewalten aufweist, fällt er – verglichen sowohl mit den Juristen der englischen und französischen Revolutionszeit, wie überhaupt des Aufklärungszeitalters, auch innerhalb der patrimonialfürstlichen Despotien, der Parlamente und Gemeindekörperschaften, bis herab zum preußischen »Kreisrichterparlament« der 60er Jahre [des 19. Jahrhunderts] – viel stärker als je früher in die Waagschale der »Ordnung«, und das heißt praktisch: der jeweils gerade herrschenden »legitimen« autoritären politischen Gewalten.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 496-503.
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