§ 1. Macht und Herrschaft. Uebergangsformen.

[541] »Herrschaft« in ihrem allgemeinsten, auf keinen konkreten Inhalt bezogenen Begriff ist eines der wichtigsten Elemente des Gemeinschaftshandelns. Zwar zeigt nicht alles Gemeinschaftshandeln herrschaftliche Struktur. Wohl aber spielt Herrschaft bei den meisten seiner Art eine sehr erhebliche Rolle, auch da, wo man nicht sofort daran denkt. So z.B. auch in den Sprachgemeinschaften. Nicht nur hat die durch Herrschaftsbefehl erfolgende Erhebung eines Dialekts zur Kanzleisprache des politischen Herrschaftsbetriebs sehr oft bei der Entwicklung großer einheitlicher Literatursprachgemeinschaften entscheidend mitgewirkt (so in Deutschland) und umgekehrt ebenso oft bei politischer Trennung auch eine entsprechende Differenzierung der Sprachen endgültig festgelegt (Holland gegen Deutschland), sondern vor allem stereotypiert die in der »Schule« gehandhabte Herrschaft am nachhaltigsten und endgültigsten die Art und das Uebergewicht der offiziellen Schulsprache. Ausnahmslos alle Gebiete des Gemeinschaftshandelns zeigen die tiefste Beeinflussung durch Herrschaftsgebilde. In außerordentlich vielen Fällen ist es die Herrschaft und die Art ihrer Ausübung, welche aus einem amorphen Gemeinschaftshandeln erst eine rationale Vergesellschaftung erstehen läßt, und in anderen Fällen, wo dem nicht so ist, ist es dennoch die Struktur der Herrschaft und deren Entfaltung, welche das Gemeinschaftshandeln formt und namentlich seine Ausgerichtetheit auf ein »Ziel« überhaupt erst eindeutig determiniert. Das Bestehen von »Herrschaft« spielt insbesondere gerade bei den ökonomisch relevantesten sozialen Gebilden der Vergangenheit und der Gegenwart: der Grundherrschaft einerseits, dem kapitalistischen Großbetrieb andererseits, die entscheidende Rolle. Herrschaft ist, wie gleich zu erörtern, ein Sonderfall von Macht. Wie bei anderen Formen der Macht, so ist auch bei der Herrschaft im speziellen es keineswegs der ausschließliche oder auch nur regelmäßige Zweck ihrer Inhaber, kraft derselben rein ökonomische Interessen zu verfolgen, insbesondere etwa nur: eine ausgiebige Versorgung mit wirtschaftlichen Gütern für sich zu erreichen. Aber allerdings ist die Verfügung über wirtschaftliche Güter, also die ökonomische Macht, eine häufige, sehr oft auch eine planvoll gewollte Folge von Herrschaft und ebenso oft eines ihrer wichtigsten Mittel. Nicht jede ökonomische Machtstellung äußert sich aber – wie gleich festzustellen sein wird – als eine »Herrschaft« in dem hier gebrauchten Sinn des Worts. Und nicht jede »Herrschaft« bedient sich zu ihrer Begründung und Erhaltung ökonomischer Machtmittel. Wohl aber ist dies bei den weitaus meisten und darunter gerade den wichtigsten Herrschaftsformen in irgendeiner Art und oft in einem solchen Maß der Fall, daß die Art der Verwendung der ökonomischen Mittel zum Zweck der Erhaltung der Herrschaft ihrerseits die Art der Herrschaftsstruktur bestimmend beeinflußt. Ferner zeigt die große Mehrzahl aller, und darunter[541] gerade der wichtigsten und modernsten, Wirtschaftsgemeinschaften herrschaftliche Struktur. Und endlich ist die Struktur der Herrschaft, so wenig etwa ihre Eigenart eindeutig mit bestimmten Wirtschaftsformen verknüpft ist, doch meist ein in hohem Maß ökonomisch relevantes Moment und ebenso meist irgendwie ökonomisch mitbedingt.

Wir suchen hier zunächst, möglichst nur allgemeine und deshalb unvermeidlich wenig konkret und zuweilen auch notwendig etwas unbestimmt formulierbare Sätze über die Beziehungen zwischen den Formen der Wirtschaft und der Herrschaft zu gewinnen. Dazu bedarf es zunächst einer näheren Bestimmung: was »Herrschaft« für uns bedeutet und wie sie sich zu dem allgemeinen Begriff: »Macht« verhält. Herrschaft in dem ganz allgemeinen Sinne von Macht, also von: Möglichkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen, kann unter den allerverschiedensten Formen auftreten. Man kann, wie es gelegentlich geschehen ist, z.B. die Ansprüche, welche das Recht dem einen gegen den oder die anderen zuweist, als eine Gewalt, dem Schuldner oder dem Nichtberechtigten Befehle zu erteilen, und also den gesamten Kosmos des modernen Privatrechts als eine Dezentralisation der Herrschaft in den Händen der kraft Gesetzes »Berechtigten« auffassen. Dann hätte der Arbeiter Befehlsgewalt, also »Herrschaft«, gegenüber dem Unternehmer in Höhe seines Lohnanspruchs, der Beamte gegenüber dem König in Höhe seines Gehaltsanspruchs usw., was einen terminologisch etwas gezwungenen und jedenfalls nur provisorischen Begriff ergäbe, da die Befehle z.B. der richterlichen Gewalt an den Verurteilten doch von jenen »Befehlen« des Berechtigten selbst an den noch nicht verurteilten Schuldner qualitativ geschieden werden müssen. Eine auch üblicherweise als »beherrschend« bezeichnete Stellung kann dagegen ebensowohl in den gesellschaftlichen Beziehungen des Salons sich entfalten wie auf dem Markt, vom Katheder eines Hörsaals herunter wie an der Spitze eines Regiments, in einer erotischen oder karitativen Beziehung wie in einer wissenschaftlichen Diskussion oder im Sport. Bei einem [so] weiten Begriffsumfang wäre aber »Herrschaft« keine wissenschaftlich brauchbare Kategorie. Eine umfassende Kasuistik aller Formen, Bedingungen und Inhalte des »Herrschens« in jenem weitesten Sinn ist hier unmöglich. Wir vergegenwärtigen uns daher nur, daß es, neben zahlreichen anderen möglichen, zwei polar einander entgegengesetzte Typen von Herrschaft gibt. Einerseits die Herrschaft kraft Interessenkonstellation (insbesondere kraft monopolistischer Lage), und andererseits die Herrschaft kraft Autorität (Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht). Der reinste Typus der ersteren ist die monopolistische Herrschaft auf dem Markt, der letzteren die hausväterliche oder amtliche oder fürstliche Gewalt. Die erstere gründet sich im reinen Typus lediglich auf die kraft irgendwie gesicherten Besitzes (oder auch marktgängiger Fertigkeit) geltend zu machenden Einflüsse auf das lediglich dem eigenen Interesse folgende formal »freie« Handeln der Beherrschten, die letztere auf eine in Anspruch genommene, von allen Motiven und Interessen absehende schlechthinige Gehorsamspflicht. Beide gehen gleitend ineinander über. Z.B. übt jede große Zentralbank und üben große Kreditbanken kraft monopolistischer Stellung auf dem Kapitalmarkt oft einen »beherrschenden« Einfluß aus. Sie können den Kreditsuchenden Bedingungen der Kreditgewährung oktroyieren, also deren ökonomische Gebarung im Interesse der Liquidität ihrer eigenen Betriebsmittel weitgehend beeinflussen, weil sich die Kreditsuchenden im eigenen Interesse jenen Bedingungen der ihnen unentbehrlichen Kreditgewährung fügen und diese Fügsamkeit eventuell durch Garantien sicherstellen müssen. Eine »Autorität«, d.h. ein unabhängig von allem Interesse bestehendes Recht auf »Gehorsam« gegenüber den tatsächlich Beherrschten nehmen aber die Kreditbanken dadurch nicht in Anspruch, sie verfolgen eigene Interessen und setzen diese durch gerade dann, wenn die Beherrschten formell »frei« handelnd ihren eigenen, also durch die Umstände zwingend diktierten, rationalen Interessen folgen. Jeder Inhaber auch eines nur unvollständigen Monopols, der in weitem[542] Umfang trotz bestehender Konkurrenz Tauschgegnern und Tauschkonkurrenten die Preise »vorschreiben«, d.h. durch eigenes Verhalten sie zu einem ihm genehmen Verhalten nötigen kann, obwohl er ihnen nicht die geringste »Pflicht« zumutet, sich diese Herrschaft gefallen zu lassen, ist in gleicher Lage. Jede typische Art von Herrschaft kraft Interessenkonstellation, insbesondere kraft monopolistischer Lage, kann aber allmählich in eine autoritäre Herrschaft überführt werden. Zur besseren Kontrolle verlangen z.B. die Banken als Geldgeber Aufnahme ihrer Direktoren in den Aufsichtsrat kreditsuchender Aktienunternehmungen: der Aufsichtsrat aber erteilt dem Vorstand maßgebende Befehle kraft dessen Gehorsamspflicht. Oder eine Notenbank veranlaßt die Großbanken zum Abschluß eines Konditionenkartells und versucht dabei, sich selbst kraft eigener Machtstellung eine einschneidende, fortlaufend reglementierende Oberaufsicht über deren Gebarung den Kunden gegenüber anzueignen, sei es nun zu währungspolitischen oder zu konjunkturpolitischen oder, sofern sie selbst wieder der Beeinflussung durch die politische Gewalt ausgesetzt ist, zu rein politischen Zwecken, z.B. zur Sicherung der finanziellen Kriegsbereitschaft. Gelänge die Durchführung einer solchen Kontrolle und würde dann weiterhin ihre Art und Richtung etwa in Reglements niedergelegt, würden vollends besondere Instanzen und Instanzenzüge für die Entscheidung von Zweifeln geschaffen, und würde sie vor allem tatsächlich immer straffer gestaltet, – was alles theoretisch denkbar ist, – so könnte im Effekt diese Herrschaft sich der autoritären Herrschaft einer staatlichen bürokratischen Instanz gegenüber den ihr Untergebenen sehr weit angleichen und die Unterordnung den Charakter eines autoritären Gehorsamsverhältnisses annehmen. Ebenso die Beherrschung der von den Brauereien mit Betriebsmitteln ausgestatteten abhängigen Bierdetaillisten oder der von einem zukünftigen deutschen Verlegerkartell etwa zu konzessionierenden Sortimenter oder der Petroleumhändler gegenüber der Standard Oil Company, oder der vom Kontor des Kohlensyndikates versorgten Kohlenhändler. Sie alle könnten, bei konsequenter Entwicklung, schrittweise in angestellte und auf Tantieme gesetzte Vertriebsagenten ihrer Auftraggeber verwandelt werden, welche in der Art ihrer Abhängigkeit von sonstigen, der Autorität eines Betriebschefs unterstehenden, auswärts arbeitenden Monteuren und anderen Privatbeamten schließlich vielleicht kaum noch zu unterscheiden wären. Von faktischer Schuldabhängigkeit zur formellen Schuldversklavung im Altertum, und ebenso im Mittelalter und der Neuzeit von der Abhängigkeit des Handwerkers im Exportgewerbe gegenüber dem marktkundigen Kaufmann zur hausindustriellen Abhängigkeit in ihren verschieden straffen Formen und schließlich zur Heimarbeit mit autoritärer Arbeitsregelung führen gleitende Uebergänge. Und von da aus führen wiederum gleitende Uebergänge bis zu der Stellung eines durch formal »gleichberechtigten« Tauschvertrag auf dem Arbeitsmarkt, unter formal »freiwilliger« Annahme der »angebotenen« Bedingungen, angeworbenen Kontoristen, Technikers, Arbeiters innerhalb der Werkstatt, deren Disziplin sich ihrerseits dem Wesen nach nicht mehr unterscheidet von der Disziplin eines staatlichen Büros und schließlich einer militärischen Kommandobehörde. Jedenfalls ist der Unterschied der letzten beiden Fälle: daß die Arbeits- und Amtsstellung freiwillig eingegangen und verlassen wird, die Militärdienstpflicht aber (bei uns, im Gegensatz zum alten Solddienstvertrag) durchweg unfreiwillig war, wichtiger als die zwischenstaatlicher und privater Anstellung. Da aber auch das politische Untertanenverhältnis freiwillig eingegangen werden und in gewissem Umfang freiwillig gelöst werden kann, ebenso aber die feudalen und unter Umständen selbst die patrimonialen Abhängigkeiten der Vergangenheit, so ist der Uebergang bis zum durchweg unfreiwillig und für den Unterworfenen normalerweise unlöslichen reinen Autoritätsverhältnis (z.B. der Sklaven) ebenfalls gleitend. Natürlich bleibt auch in jedem autoritären Pflichtverhältnis faktisch ein gewisses Minimum von eigenem Interesse des Gehorchenden daran, daß er gehorcht, normalerweise eine unentbehrliche Triebfeder des Gehorsams. Alles ist also auch[543] hier gleitend und flüssig. Dennoch werden wir die scharfe polare Gegensätzlichkeit z.B. der rein aus dem durch Interessenkompromisse regulierten Marktaustausch, also aus dem Besitz rein als solchem, erwachsenen faktischen Macht gegenüber der autoritären Gewalt eines an die schlechthinige Pflicht des Gehorchens appellierenden Hausvaters oder Monarchen streng festhalten müssen, um überhaupt zu fruchtbaren Unterscheidungen innerhalb des stets übergangslosen Flusses der realen Erscheinungen zu gelangen. Denn die Mannigfaltigkeit der Machtformen ist mit den gewählten Beispielen nicht erschöpft. Schon der Besitz als solcher wirkt keineswegs nur in der Form der Marktmacht machtbegründend. Wie wir schon sahen, verleiht er auch in gesellschaftlich undifferenzierten Verhältnissen rein als solcher, wenn er mit entsprechender Lebensführung verbunden ist, weitgehende soziale Macht ganz entsprechend der heutigen gesellschaftlichen Stellung dessen, der »ein Haus macht« oder der Frau, die »einen Salon hat«. Alle diese Beziehungen können unter Umständen direkt autoritäre Züge annehmen. Und nicht nur der Marktaustausch, sondern auch die konventionellen Tauschverhältnisse der Geselligkeit stiften »Herrschaft« in jenem weiteren Sinn, vom »Salonlöwen« bis zum patentierten »arbiter elegantiarum« des kaiserlichen Rom und [zu] den Liebeshöfen der Damen der Provence. Und nicht nur direkt auf dem Gebiet privater Märkte oder Beziehungen finden sich derartige Herrschaftslagen. Ein »Empire State« – korrekter: die in ihm autoritär oder marktmäßig ausschlaggebenden Menschen –, wie ihn in typischer Art Preußen im Zollverein und im Deutschen Reich, in weit geringerem Grade auch New York in Amerika darstellt, kann auch ohne alle formelle Befehlsgewalt eine weitgehende, zuweilen despotische Hegemonie ausüben: die preußische Beamtenschaft im Zollverein, weil ihr Staatsgebiet als größtes Absatzgebiet der ausschlaggebende Markt war, im deutschen Bundesstaat teils, weil sie das größte Eisenbahnnetz, die größte Zahl von Universitätslehrstühlen usw. beherrschte und die betreffenden Verwaltungen der formell gleichberechtigten Bundesstaaten lahmlegen konnte48, teils aus anderen ähnlichen Gründen, – New York aber auf engerem politischem Gebiet als Sitz der großen Finanzmächte. Alles dies sind Machtformen kraft Interessenkonstellation, dem marktmäßigen Machtverhältnis gleich oder ähnlich, welche aber im Verlauf einer Entwicklung sehr leicht informell geregelte Autoritätsverhältnisse verwandelt, korrekt formuliert: zur Heterokephalie der Befehlsgewalt und des Zwangsapparats vergesellschaftet werden können. Die bloß marktmäßige oder durch Interessenkonstellation bedingte Herrschaft kann ferner gerade wegen ihrer Ungeregeltheit weit drückender empfunden werden als eine ausdrücklich durch bestimmte Gehorsamspflichten regulierte Autorität. Nicht darauf aber kann es für die soziologische Begriffsbildung ankommen. Wir wollen im folgenden den Begriff der Herrschaft in dem engeren Sinn gebrauchen, welcher der durch Interessenkonstellationen, insbesondere marktmäßig, bedingten Macht, die überall formell auf dem freien Spiel der Interessen beruht, gerade entgegengesetzt, also identisch ist mit: autoritärer Befehlsgewalt.

Unter »Herrschaft« soll hier also der Tatbestand verstanden werden: daß ein bekundeter Wille (»Befehl«) des oder der »Herrschenden« das Handeln anderer (des oder der »Beherrschten«) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflußt, daß dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so abläuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten (»Gehorsam«).


1. Die schwerfällige Formulierung mit »als ob« ist, wenn man den hier angenommenen Herrschaftsbegriff zugrunde legen will, deshalb unvermeidlich, weil einerseits für unsere Zwecke nicht die bloße äußere Resultante: das faktische Befolgtwerden des Befehls, genügt: denn der Sinn seines Hingenommenwerdens als einer »geltenden« Norm ist für uns nicht gleichgültig, – andererseits aber die Kausalkette vom Befehl bis zum Befolgtwerden sehr verschieden aussehen kann. Schon rein psychologisch: ein[544] Befehl kann seine Wirkung durch »Einfühlung« oder durch »Eingebung« oder durch rationale »Einredung« oder durch eine Kombination von mehreren dieser drei Hauptformen der Wirkung vom Einen zum Anderen erzielen. Ebenso in der konkreten Motivation: der Befehl kann im Einzelfall aus eigener Ueberzeugung von seiner Richtigkeit oder aus Pflichtgefühl oder aus Furcht oder aus »stumpfer Gewöhnung« oder um eigener Vorteile willen ausgeführt werden, ohne daß der Unterschied notwendig von soziologischer Be deutung wäre. Andererseits aber wird sich der soziologische Charakter der Herrschaft als verschieden herausstellen je nach gewissen Grundunterschieden in den allgemeinen Fundamenten der Herrschaftsgeltung.

2. Von jenem früher erörterten weiteren Sinn des »Sich-zur-Geltung-bringens« (auf dem Markt, im Salon, in der Diskussion oder wo immer) bis zu dem hier verwendeten engeren Begriff führen, wie wir sahen, zahlreiche Uebergänge. Wir wollen zur deutlichen Abgrenzung des letzteren auf einige kurz zurückkommen. Eine Herrschaftsbeziehung kann zunächst selbstverständlich doppelseitig bestehen. Moderne Beamte verschiedener »Ressorts« [z.B. können einander in] ihrer Befehlsgewalt, jeder innerhalb der »Kompetenz« des anderen, gegenseitig unterstehen. Dies macht keine begrifflichen Schwierigkeiten. »Herrscht« aber z.B. bei der Bestellung von einem Paar Stiefeln der Schuster über den Kunden oder dieser über jenen? Die Antwort würde im Einzelfall sehr verschieden, fast immer aber dahin lauten: daß der Wille jedes von beiden auf einem Teilgebiet des Vorgangs den des anderen auch gegen dessen Widerstreben beeinflußt, in diesem Sinn also »beherrscht« habe. Ein präziser Begriff der Herrschaft wäre darauf schwerlich aufzubauen. Und so in allen Austauschverhältnissen, auch den ideellen. Wenn ferner z.B., wie namentlich in asiatischen Dörfern oft, ein Dorfhandwerker kraft fester Anstellung arbeitet, ist nun er, innerhalb seiner beruflichen »Kompetenz«, Herrscher, oder wird er – und von wem? – beherrscht? Man wird geneigt sein, auch hier die Anwendbarkeit des Begriffs »Herrschaft« abzulehnen, außer einerseits für ihn gegenüber seinen etwaigen Gehilfen, andererseits ihm gegenüber für die etwa vorhandenen »obrigkeitlichen«, also: eine Befehlsgewalt ausübenden, Personen, welche eine »Kontrolle« über ihn ausüben: das bedeutete aber die Einschränkung auf unseren, engeren Begriff. Aber genau in der gleichen Weise, wie die Stellung eines solchen Handwerkers, kann die Stellung eines Dorfschulzen, also: einer »Obrigkeitsperson«, gestaltet sein. Denn die Unterscheidung zwischen privatem »Geschäft« und öffentlicher »Amtsführung«, wie sie uns gewohnt ist, ist erst Entwicklungsprodukt und keineswegs überall so eingewurzelt wie bei uns. Für die populäre amerikanische Auffassung z.B. ist der »Betrieb« eines Richters ein »business«, nicht anders wie der Betrieb eines Bankiers. Der Richter ist ein Mann, welcher mit dem Monopol privilegiert ist, einer Partei eine »decision« zu geben, mittels derer diese andere zu Leistungen zwingen oder, umgekehrt, sich gegen die Zumutung solcher schützen kann. Kraft dieses Privilegs genießt er direkte und indirekte, legitime und illegitime, Vorteile, und für dessen Besitz zahlt er Teile seiner »fees« an die Kasse des Parteibosses, welcher es ihm verschafft hat. – Wir werden unsererseits dem Dorfschulzen, dem Richter, dem Bankier, dem Handwerker gleichermaßen »Herrschaft« überall da und nur dazuschreiben, wo sie für gegebene Anordnungen, rein als solche, »Gehorsam« beanspruchen und (in einem sozial relevanten Grade) finden. Ein für uns leidlich brauchbarer Begriffsumfang ergibt sich eben nur durch Bezugnahme auf die »Befehlsgewalt«, so sehr zuzugeben ist, daß auch hier in der Realität des Lebens alles »Uebergang« ist. Von selbst versteht sich, daß für die soziologische Betrachtung nicht das aus einer Norm dogmatisch-juristisch ableitbare »ideelle«, sondern das faktische Bestehen einer solchen Gewalt maßgebend ist, also: daß einer in Anspruch genommenen Autorität, bestimmte Befehle zu geben, in einem sozial relevanten Umfang tatsächlich Folge geleistet wird. Dennoch geht naturgemäß die soziologische Betrachtung von der Tatsache aus, daß »faktische« Befehlsgewalten das Superadditum einer von »Rechts wegen« bestehenden normativen »Ordnung« zu prätendieren pflegen, und operiert daher notgedrungen mit dem juristischen Begriffsapparat.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 541-545.
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