3. Luthers Berufskonzeption.

Aufgabe der Untersuchung

[63] Nun ist unverkennbar, daß schon in dem deutschen Worte »Beruf« ebenso wie in vielleicht noch deutlicherer Weise in dem englischen »calling«, eine religiöse Vorstellung: – die einer von Gott gestellten Aufgabe – wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird. Und verfolgen wir nun das Wort geschichtlich und durch die Kultursprachen hindurch, so zeigt sich zunächst, daß die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir »Beruf« (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebensowenig kennen wie das klassische Altertum54, während es bei[63] allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert. Es zeigt sich ferner, daß nicht irgendeine ethnisch bedingte Eigenart der[64] betreffenden Sprachen, etwa der Ausdruck eines »germanischen Volksgeistes« dabei beteiligt ist, sondern daß das Wort in seinem heutigen Sinn aus den Bibelübersetzungen stammt und zwar aus dem Geist der Uebersetzer, nicht aus dem Geist des Originals55. Es scheint in der lutherischen Bibelübersetzung zuerst an einer Stelle des Jesus Sirach (11, 20 u. 21) ganz in unserem heutigen Sinn verwendet zu sein56. Es hat dann sehr[65] bald in der Profansprache aller protestantischen Völker seine heutige Bedeutung angenommen, während vorher in der profanen[66] Literatur keines derselben irgendein Ansatz zu einem derartigen Wortsinn zu bemerken war und auch in der Predigtliteratur,[67] soviel ersichtlich, nur bei einem der deutschen Mystiker, deren Einfluß auf Luther bekannt ist.[68]

Und wie die Wortbedeutung so ist auch – das dürfte im ganzen ja bekannt sein – der Gedanke neu und ein Produkt der Reformation. Nicht als ob gewisse Ansätze zu jener Schätzung der weltlichen Alltagsarbeit, welche in diesem Berufsbegriff vorliegt, nicht schon im Mittelalter, ja selbst im ( späthellenistischen) Altertum, vorhanden gewesen wären: – davon wird später zu reden sein. Unbedingt neu war jedenfalls zunächst eins: die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen könne. Dies war es, was die Vorstellung von der religiösen Bedeutung der weltlichen Alltagsarbeit zur unvermeidlichen Folge hatte und den Berufsbegriff in diesem Sinn erstmalig erzeugte. Es kommt also in dem Begriff »Beruf« jenes Zentraldogma aller protestantischen Denominationen zum Ausdruck, welches die katholische Unterscheidung der christlichen Sittlichkeitsgebote in »praecepta« und »consilia« verwirft und als das einzige Mittel, Gott wohlgefällig zu leben, nicht eine Ueberbietung der inner-weltlichen Sittlichkeit durch mönchische Askese, sondern ausschließlich die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten kennt, wie sie sich aus der Lebensstellung des einzelnen ergeben, die dadurch eben sein »Beruf« wird.

Bei Luther57 entwickelt dieser Gedanke sich im Laufe des ersten Jahrzehntes seiner reformatorischen Tätigkeit. Anfangs[69] gehört ihm, durchaus im Sinne der vorwiegenden mittelalterlichen Tradition, wie sie z.B. Thomas von Aquino repräsentiert58, die weltliche Arbeit, obwohl von Gott gewollt, zum Kreatürlichen, sie ist die unentbehrliche Naturgrundlage des Glaubenslebens, sittlich an sich indifferent wie Essen und Trinken59. Aber mit[70] der klareren Durchführung des »sola-fide«-Gedankens in seinen Konsequenzen und mit dem dadurch gegebenen, mit steigender Schärfe betonten Gegensatz gegen die »vom Teufel diktierten« katholischen »evangelischen Ratschläge« des Mönchtums steigt die Bedeutung des Berufs. Die mönchische Lebensführung ist nun nicht nur zur Rechtfertigung vor Gott selbstverständlich gänzlich wertlos, sondern sie gilt ihm auch als Produkt egoistischer, den Weltpflichten sich entziehender Lieblosigkeit. Im Kontrast dazu erscheint die weltliche Berufsarbeit als äußerer Ausdruck der Nächstenliebe und dies wird in allerdings höchst weltfremder Art und in einem fast grotesken Gegensatz zu Adam Smiths bekannten Sätzen60 insbesondere durch den Hinweis darauf begründet, daß die Arbeitsteilung jeden einzelnen zwinge, für andere zu arbeiten. Indessen diese, wie man sieht, wesentlich scholastische Begründung verschwindet bald wieder und es bleibt, mit steigendem Nachdruck betont, der Hinweis darauf, daß die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten unter allen Umständen der einzige Weg sei, Gott wohlzugefallen, daß sie und nur sie Gottes Wille sei und daß deshalb jeder erlaubte Beruf vor Gott schlechterdings gleich viel gelte61.

[71] Daß diese sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens eine der folgenschwersten Leistungen der Reformation und also speziell Luthers war, ist in der Tat zweifellos und darf nachgerade als ein Gemeinplatz gelten62. Weltenfern steht diese Auffassung dem tiefen Haß, mit welchem Pascals kontemplative Stimmung die, nach seiner tiefsten Ueberzeugung, nur aus Eitelkeit oder Schlauheit überhaupt erklärbare, Schätzung des Wirkens in der Welt von sich wies63, – noch ferner freilich der weitherzigen utilitarischen Anpassung an die Welt, welche der jesuitische Probabilismus vollzog. Aber wie nun im einzelnen die praktische Bedeutung jener Leistung des Protestantismus vorzustellen sei, das wird im allgemeinen wohl mehr dunkel empfunden als klar erkannt.

Zunächst ist kaum nötig zu konstatieren, daß nicht etwa Luther als mit dem »kapitalistischen Geist« in dem Sinne, den wir hier bisher mit diesem Wort verbunden haben, – oder, übrigens: in irgendeinem Sinn überhaupt – innerlich verwandt angesprochen werden darf. Schon diejenigen kirchlichen Kreise, welche jene »Tat« der Reformation am eifrigsten zu rühmen pflegen, sind im ganzen heute keineswegs Freunde des Kapitalismus in irgendeinem Sinne. Erst recht aber würde Luther selbst ohne allen Zweifel jede Verwandtschaft mit einer Gesinnung, wie sie bei Franklin zutage tritt, schroff abgelehnt haben. Natürlich darf man hier nicht seine Klagen über die großen Kaufleute, die Fugger64 u. dgl. als Symptom heranziehen. Denn der Kampf[72] gegen die rechtlich oder faktisch privilegierte Stellung einzelner großer Handelskompagnien im 16. und 17. Jahrhundert kann am ehesten dem modernen Feldzug gegen die Trusts verglichen werden und ist ebensowenig wie dieser schon an sich Ausdruck traditionalistischer Gesinnung. Gegen diese, gegen die Lombarden, die »Trapeziten«, die vom Anglikanismus, den Königen und Parlamenten in England und Frankreich begünstigten Monopolisten, Großspekulanten und Bankiers führten auch die Puritaner ebenso wie die Hugenotten einen erbitterten Kampf65. Cromwell schrieb nach der Schlacht von Dunbar (Sept. 1650) an das Lange Parlament: »Bitte stellt die Mißbräuche aller Berufe ab, und gibt es einen, der viele arm macht, um wenige reich zu machen: das frommt einem Gemeinwesen nicht«, – dagegen wird man ihn andererseits von ganz spezifisch »kapitalistischer« Denkweise erfüllt finden66. Unzweideutig tritt dagegen[73] in Luthers zahlreichen Aeußerungen gegen den Wucher und das Zinsennehmen überhaupt seine, gegenüber der Spätscholastik, direkt (vom kapitalistischen Standpunkt aus) »rückständige« Vorstellungsweise vom Wesen des kapitalistischen Erwerbes hervor67. Speziell das z.B. bei Antonin von Florenz bereits überwundene Argument von der Unproduktivität des Geldes gehört natürlich dahin. Doch brauchen wir hier in Einzelheiten gar nicht einzugehen, – denn vor allem: der Gedanke des »Berufes« im religiösen Sinn war in seinen Konsequenzen für die innerweltliche Lebensführung sehr verschiedener Gestaltung fähig. – Die Leistung der Reformation als solcher war zunächst nur, daß, im Kontrast gegen die katholische Auffassung, der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll. Wie der »Berufs«-Gedanke, der dies zum Ausdruck brachte, weiter entwickelt wurde, das hing von der näheren Ausprägung der Frömmigkeit ab, wie sie nunmehr in den einzelnen Reformationskirchen sich entfaltete. Die Autorität der Bibel, aus der Luther den Berufsgedanken zu entnehmen glaubte, war nun an sich im ganzen einer traditionalistischen Wendung günstiger. Speziell das Alte Testament, welches eine Ueberbietung der innerweltlichen Sittlichkeit in der genuinen Prophetie gar nicht und auch sonst nur in ganz vereinzelten Rudimenten und Ansätzen kannte, hat einen ganz ähnlichen religiösen Gedanken streng in diesem Sinn gestaltet: ein jeder bleibe bei seiner »Nahrung« und lasse die Gottlosen nach Gewinn streben: das ist der Sinn aller der Stellen, welche direkt von weltlicher Hantierung handeln. Erst der Talmud steht darin teilweise – aber auch nicht grundsätzlich – auf anderem Boden. Die persönliche Stellung von Jesus ist mit der typisch antik-orientalischen Bitte: »Unser täglich Brot gib uns heute« in klassischer Reinheit gekennzeichnet und der Einschlag von radikaler Welt-Ablehnung, wie er in dem »μαμωνᾶς τῆς ἀδικίας« zum Ausdruck gelangt, schloß jede direkte Anknüpfung des[74] modernen Berufsgedankens an ihn persönlich aus68. Das im Neuen Testament zum Wort gelangende apostolische Zeitalter des Christentums, speziell auch Paulus, steht dem weltlichen Berufsleben, infolge der eschatologischen Erwartungen, die jene ersten Generationen von Christen erfüllten, entweder indifferent oder ebenfalls wesentlich traditionalistisch gegenüber: da alles auf das Kommen des Herrn wartet, so mag jeder in dem Stande und in der weltlichen Hantierung bleiben, in der ihn der »Ruf« des Herrn gefunden hat und arbeiten, wie bisher: so fällt er den Brüdern nicht als Armer lästig, – und es ist ja nur noch eine kurze Weile. Luther las die Bibel durch die Brille seiner jeweiligen Gesamtstimmung und diese ist im Lauf seiner Entwicklung zwischen etwa 1518 und etwa 1530 nicht nur traditionalistisch geblieben, sondern immer traditionalistischer geworden69.

In den ersten Jahren seiner reformatorischen Tätigkeit herrschte bei ihm, infolge der wesentlich kreatürlichen Schätzung des Berufes, in bezug auf die Art der innerweltlichen Tätigkeit eine der paulinischen eschatologischen Indifferenz, wie sie 1 Kor. 7 zum Ausdruck kommt70, innerlich verwandte Anschauung vor:[75] man kann in jedem Stande selig werden, es ist auf der kurzen Pilgerfahrt des Lebens sinnlos, auf die Art des Berufes Gewicht zu legen. Und das Streben nach materiellem Gewinn, der den eigenen Bedarf übersteigt, muß deshalb als Symptom mangelnden Gnadenstandes und, da es ja nur auf Kosten anderer möglich erscheint, direkt als verwerflich gelten71. Mit steigender Verflechtung in die Händel der Welt geht steigende Schätzung der Bedeutung der Berufsarbeit Hand in Hand. Damit zugleich wird ihm aber nun der konkrete Beruf des einzelnen zunehmend zu einem speziellen Befehl Gottes an ihn, diese konkrete Stellung, in die ihn göttliche Fügung gewiesen hat, zu erfüllen. Und als nach den Kämpfen mit den »Schwarmgeistern« und den Bauernunruhen die objektive historische Ordnung, in die der einzelne von Gott hineingestellt ist, für Luther immer mehr zum direkten Ausfluß göttlichen Willens wird72, führt die nunmehr immer stärkere Betonung des Providentiellen auch in den Einzelvorgängen des Lebens zunehmend zu einer dem »Schickungs«-Gedanken entsprechenden traditionalistischen Färbung: der einzelne soll grundsätzlich in dem Beruf und Stand bleiben, in den ihn Gott einmal gestellt hat, und sein irdisches Streben in den Schranken dieser seiner gegebenen Lebensstellung halten. War der ökonomische Traditionalismus anfangs Ergebnis paulinischer Indifferenz, so ist er also später Ausfluß des immer intensiver gewordenen Vorsehungsglaubens73, der[76] den bedingungslosen Gehorsam gegen Gott74 mit der bedingungslosen Fügung in die gegebene Lage identifiziert. Zu einer auf grundsätzlich neuer oder überhaupt prinzipieller Grundlage ruhenden Verknüpfung der Berufsarbeit mit religiösen Prinzipien ist Luther auf diese Art überhaupt nicht gelangt75. Die Reinheit der Lehre als einzig unfehlbares Kriterium der Kirche, wie sie nach den Kämpfen der 20er Jahre bei ihm immer unverrückbarer feststand, hemmte an sich schon, die Entwicklung neuer Gesichtspunkte auf dem ethischen Gebiet.

So blieb also bei Luther der Berufsbegriff traditionalistisch gebunden76. Der Beruf ist das, was der Mensch als göttliche[77] Fügung hinzunehmen, worein er sich »zu schicken« hat: – diese Färbung übertönt den auch vorhandenen anderen Gedanken, daß die Berufsarbeit eine oder vielmehr die von Gott gestellte Aufgabe sei77. Und die Entwicklung des orthodoxen Luthertums unterstrich diesen Zug noch weiter. Etwas Negatives: Wegfall der Ueberbietung der innerweltlichen durch asketische Pflichten, verbunden aber mit Predigt des Gehorsams gegen die Obrigkeit und der Schickung in die gegebene Lebenslage, war hier also zunächst der einzige ethische Ertrag78. – Es war, wie bei Besprechung der mittelalterlichen religiösen Ethik noch zu erörtern sein wird, dem Berufsgedanken in dieser lutherischen Prägung bei den deutschen Mystikern schon weitgehend vorgearbeitet, namentlich durch die prinzipielle Gleichwertung geistlicher und weltlicher Berufe bei Tauler und die geringere Bewertung der überlieferten Formen asketischen Werkverdienstes79 infolge der allein entscheidenden Bedeutung der ekstatisch-kontemplativen Aufnahme des göttlichen Geistes durch[78] die Seele. Das Luthertum bedeutet sogar in einem bestimmten Sinne gegenüber den Mystikern einen Rückschritt, insofern bei Luther – und mehr noch bei seiner Kirche – die psychologischen Unterlagen für eine rationale Berufsethik gegenüber den Mystikern (deren Anschauungen über diesen Punkt mehrfach teils an die pietistische, teils an die quäkerische Glaubenspsychologie erinnern80 ziemlich unsichere geworden sind und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, gerade weil der Zug zur asketischen Selbstdisziplinierung ihm als Werkheiligkeit verdächtig war und daher in seiner Kirche immer mehr in den Hintergrund treten mußte.

Der bloße Gedanke des »Berufes« im lutherischen Sinn also – das allein sollte schon hier festgestellt werden81 – war, soviel wir bisher sehen können, von jedenfalls nur problematischer Tragweite für das, was wir suchen. Damit ist nun nicht im mindesten gesagt, daß eine praktische Bedeutung auch der lutherischen Form der Neuordnung des religiösen Lebens für die Gegenstände unserer Betrachtung nicht bestanden hätte. Ganz im Gegenteil. Nur ist sie offenbar nicht unmittelbar aus der Stellung Luthers und seiner Kirche zum weltlichen Beruf ableitbar und überhaupt nicht so leicht greifbar wie dies vielleicht bei anderen Ausprägungen des Protestantismus der Fall sein könnte. Es empfiehlt sich daher für uns, zunächst solche Formen desselben zu betrachten, bei denen ein Zusammenhang der Lebenspraxis mit dem religiösen Ausgangspunkt leichter als beim Luthertum zu ermitteln ist. Schon früher wurde nun die auffällige Rolle des Calvinismus und der protestantischen Sekten in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung erwähnt. Wie Luther in Zwingli einen »anderen Geist« lebendig fand als bei sich selbst, so seine geistigen Nachfahren speziell im Calvinismus. Und erst recht hat der Katholizismus von jeher, und bis in die Gegenwart, den Calvinismus als den eigentlichen Gegner betrachtet. Zunächst hat das ja nun rein politische Gründe: wenn die Reformation ohne Luthers ganz persönliche religiöse Entwicklung nicht vorstellbar und geistig dauernd von seiner[79] Persönlichkeit bestimmt worden ist, so wäre ohne den Calvinismus doch sein Werk nicht von äußerer Dauer gewesen. – Aber der Grund des, Katholiken und Lutheranern gemeinsamen, Abscheues liegt doch auch in der ethischen Eigenart des Calvinismus begründet. Schon der oberflächlichste Blick lehrt, daß hier eine ganz andersartige Beziehung zwischen religiösem Leben und irdischem Handeln hergestellt ist, als sowohl im Katholizismus wie im Luthertum. Selbst in der nur spezifisch religiöse Motive verwendenden Literatur tritt das hervor. Man nehme etwa den Schluß der Divina Commedia, wo dem Dichter im Paradiese im wunschlosen Schauen der Geheimnisse Gottes die Sprache versagt, und halte daneben den Schluß jenes Gedichtes, welches man die »Göttliche Komödie des Puritanismus« zu nennen sich gewöhnt hat. Milton schließt den letzten Gesang des »Paradise lost« nach der Schilderung der Ausstoßung aus dem Paradiese wie folgt:


»Sie wandten sich und sah'n des Paradieses

Oestlichen Teil, – noch jüngst ihr sel'ger Sitz –

Von Flammengluten furchtbar überwallt,

Die Pforte selbst von riesigen Gestalten,

Mit Feuerwaffen in der Hand, umschart.

Sie fühlten langsam Tränen niederperlen, –

Jedoch sie trockneten die Wangen bald:

Vor ihnen lag die große weite Welt,

Wo sie den Ruheplatz sich wählen konnten,

Die Vorsehung des Herrn als Führerin.

Sie wanderten mit langsam zagem Schritt

Und Hand in Hand aus Eden ihres Weges.«

Und wenig vorher hatte Michael zu Adam gesagt:

»..... Nur füge zu dem Wissen auch die Tat;

Dann füge Glauben, Tugend und Geduld

Und Mäßigkeit hinzu und jene Liebe,

Die einst als christliche gepriesen wird,

Und Seele wird von allen Tugenden.

Dann läßt du ungern nicht dies Paradies,

Du trägst in dir ja ein viel sel'geres


Jeder empfindet sofort, daß dieser mächtigste Ausdruck der ernsten puritanischen Weltzugewendetheit, das heißt: Wertung des innerweltlichen Lebens als Aufgabe, im Munde eines mittelalterlichen Schriftstellers unmöglich gewesen wäre. Aber auch dem Luthertum, wie es etwa in Luthers und Paul Gerhards Chorälen sich gibt, ist er ganz ebenso wenig kongenial. An die Stelle dieser unbestimmten Empfindung gilt es nun hier eine etwas genauere gedankliche Formulierung zu setzen und[80] nach den inneren Gründen dieser Unterschiede zu fragen. Die Berufung auf den »Volkscharakter« ist nicht nur überhaupt lediglich das Bekenntnis des Nichtwissens, sondern in unserem Fall auch gänzlich hinfällig. Den Engländern des 17. Jahrhunderts einen einheitlichen »Volkscharakter« zuzuschreiben wäre einfach historisch unrichtig. »Kavaliere« und »Rundköpfe« empfanden sich nicht einfach als zwei Parteien, sondern als radikal verschiedene Menschengattungen, und wer aufmerksam zusieht, muß ihnen darin recht geben82. Und andrerseits: ein charaktero-logischer Gegensatz der englischen merchant adventurers gegen die alten Hanseaten ist ebensowenig auffindbar, wie überhaupt ein anderer tiefergehender Unterschied englischer von deutscher Eigenart am Ende des Mittelalters zu konstatieren ist, als er sich durch die verschiedenen politischen Schicksale unmittelbar erklären läßt83. Erst die Macht religiöser Bewegungen – nicht sie allein, aber sie zuerst – hat hier jene Unterschiede geschaffen, die wir heute empfinden84.

Wenn wir demgemäß bei der Untersuchung der Beziehungen zwischen der altprotestantischen Ethik und der Entwicklung des kapitalistischen Geistes von den Schöpfungen Calvins, des Calvinismus und der andern »puritanischen« Sekten ausgehen, so darf das nun aber nicht dahin verstanden werden, als erwarteten wir, daß bei einem der Gründer oder Vertreter dieser Religionsgemeinschaften die Erweckung dessen, was wir hier »kapitalistischen Geist« nennen, in irgendeinem Sinn als Ziel seiner Lebensarbeit vorzufinden. Daß das Streben nach weltlichen Gütern, als Selbstzweck gedacht, irgendeinem von ihnen[81] geradezu als ethischer Wert gegolten hätte, werden wir nicht wohl glauben können. Und es ist überhaupt vor allem eins ein für allemal festzuhalten: ethische Reformprogramme sind bei keinem der Reformatoren – zu denen wir für unsere Betrachtung auch Männer wie Menno, George Fox, Wesley zu rechnen haben – jemals der zentrale Gesichtspunkt gewesen. Sie waren keine Gründer von Gesellschaften für »ethische Kultur« oder Vertreter humanitärer sozialer Reformbestrebungen oder Kulturideale. Das Seelenheil und dies allein war der Angelpunkt ihres Lebens und Wirkens. Ihre ethischen Ziele und die praktischen Wirkungen ihrer Lehre waren alle hier verankert und nur Konsequenzen rein religiöser Motive. Und wir werden deshalb darauf gefaßt sein müssen, daß die Kulturwirkungen der Reformation zum guten Teil – vielleicht sogar für unsere speziellen Gesichtspunkte überwiegend – unvorhergesehene und geradezu ungewollte Folgen der Arbeit der Reformatoren waren, oft weit abliegend oder geradezu im Gegensatz stehend zu allem, was ihnen selbst vorschwebte.

So könnte die nachfolgende Studie an ihrem freilich bescheidenen Teil vielleicht auch einen Beitrag bilden zur Veranschaulichung der Art, in der überhaupt die »Ideen« in der Geschichte wirksam werden. Damit aber nicht schon von vornherein Mißverständnisse über den Sinn, in dem hier ein solches Wirksamwerden rein ideeller Motive überhaupt behauptet wird, entstehen, mögen darüber als Abschluß dieser einleitenden Erörterungen noch einige wenige Andeutungen gestattet sein.

Es handelt sich bei solchen Studien – wie vor allem ausdrücklich bemerkt sein mag – in keiner Weise um den Versuch, den Gedankengehalt der Reformation in irgendeinem Sinn, sei es sozialpolitisch, sei es religiös zu werten. Wir haben es für unsere Zwecke stets mit Seiten der Reformation zu tun, welche dem eigentlich religiösen Bewußtsein als peripherisch und geradezu äußerlich erscheinen müssen. Denn es soll ja lediglich unternommen werden, den Einschlag, welchen religiöse Motive in das Gewebe der Entwicklung unserer aus zahllosen historischen Einzelmotiven erwachsenen modernen spezifisch »diesseitig« gerichteten Kultur geliefert haben, etwas deutlicher zu machen. Wir fragen also lediglich, was von gewissen charakteristischen Inhalten dieser Kultur dem Einfluß der Reformation als historischer Ursache etwa zuzurechnen sein möchte. Dabei[82] müssen wir uns freilich von der Ansicht emanzipieren: man könne aus ökonomischen Verschiebungen die Reformation als »entwicklungsgeschichtlich notwendig« deduzieren. Ungezählte historische Konstellationen, die nicht nur in kein »ökonomisches Gesetz«, sondern überhaupt in keinen ökonomischen Gesichtspunkt irgendwelcher Art sich einfügen, namentlich rein politische Vorgänge, mußten zusammenwirken, damit die neu geschaffenen Kirchen überhaupt fortzubestehen vermochten. Aber andererseits soll ganz und gar nicht eine so töricht-doktrinäre These85 verfochten werden wie etwa die: daß der »kapitalistische Geist« (immer in dem provisorisch hier verwendeten Sinn dieses Wortes) nur als Ausfluß bestimmter Einflüsse der Reformation habe entstehen können oder wohl gar: daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation sei. Schon daß gewisse wichtige Formen kapitalistischen Geschäftsbetriebs notorisch erheblich älter sind als die Reformation, stände einer solchen Ansicht ein für allemal im Wege. Sondern es soll nur festgestellt werden: ob und wieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes »Geistes« über die Welt hin mit beteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen. Dabei kann nun angesichts des ungeheuren Gewirrs gegenseitiger Beeinflussungen zwischen den materiellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte der reformatorischen Kulturepochen nur so verfahren werden, daß zunächst untersucht wird, ob und in welchen Punkten bestimmte »Wahlverwandtschaften« zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht. Alsdann erst, wenn dies leidlich eindeutig feststeht, könnte der Versuch gemacht werden, abzuschätzen, in welchem Maße moderne Kulturinhalte in ihrer geschichtlichen Entstehung jenen religiösen Motiven und inwieweit anderen zuzurechnen sind.[83]


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1, Tübingen 81986, S. 63-84.
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