IX.

[342] Bald nach Neujahr 1859 reiste Brahms von Detmold ab. Konzertmeister Bargheer war sein Begleiter. Diesmal ging die Winterreise nicht, wie sonst, nach Hamburg, sondern erst nach Göttingen. Denn Agathe war ein stärkerer Magnet als das Vaterhaus. Wenn Brahms auch nicht mit ihr korrespondierte, so ließ er sich doch von dem Studenten Karl von Meysenbug über alles unterrichten, was im Hause Grimm und in der Nachbarschaft vorging, und öfter als zuvor besuchte er die Frau Hofmarschallin, um mit ihr die Briefe ihres Sohnes zu lesen. Seinen Göttinger Aufenthalt benützte Brahms zum Studium seines Klavierkonzertes, und er beherrschte das Werk, das ihm nach den vielfältigen Abänderungen und Korrekturen fast fremd geworden war, vollständig, als er bei Joachim in Hannover eintraf, um es unter dessen Leitung zu probieren. Am 22. Januar, im dritten Abonnementskonzert, kam das d-moll-Konzert neben Beethovens achter Symphonie, Webers Euryanthen-Ouverture und dem zweiten Finale aus Mozarts »Don Juan« zur Aufführung. »Sehr gespannt,« berichtet Fischer,1 »war man auf Brahms, welcher zum erstenmale als Komponist und Klavierspieler mit einem Konzert (Maestoso, Adagio und Rondo) auftrat. Nach einmaligem Anhören konnte man über sein Kompositionstalent nicht ins Klare kommen. Das Werk erschien bei allem Streben, möglichst aus der Tiefe zu schöpfen, alles Triviale fern zu halten, und bei der Gewandtheit in der Instrumentation doch unverständlich, sogar trocken und zum Teile in hohem Grade ermüdend. Trotz alledem machte Brahms den Eindruck eines Musikers von ächtem Schrot und Korn, und man anerkannte ohne jede Einschränkung, daß derselbe nicht bloß Virtuos, [342] sondern ein großer Künstler des Klavierspieles sei.« Freundlicher klingt der Bericht, den Joachim über das musikalische Ereignis an Avé Lallement abgehen ließ. Lallement gehörte zum leitenden Komitee der philharmonischen Konzerte in Hamburg und bedurfte den übrigen Mitgliedern gegenüber, da das neue Werk auf seine Veranlassung in das Novitätenprogramm der Saison aufgenommen war, eines rechtfertigenden Ausweises von berufener Seite.

Joachim schreibt: »Brahms' Konzert hat mir bei näherer Bekanntschaft immer mehr Liebe und Achtung eingeflößt. Bei den meisten Intelligenten, die ich aus dem Publikum und Orchester gesprochen, hat sich eine hohe Meinung über Brahms als Musiker kund gegeben; über sein eminentes Spiel sind selbst Gegner seines Konzerts einig. Daß teilweise Vorurteil, dann das Befremden über eine so rücksichtslos ideal sich gebende Individualität, wie die unseres Freundes, dem Glanz des Erfolges hindernd entgegentreten würden, habe ich von vornherein nicht anders erwartet. Auch werden einige Längen in der Komposition, hie und da selbst gut disponierte einzelne Stellen im Vollgenuß stören. Trotzdem darf man sagen, es hat das Konzert einen Publikum und Künstler gleich ehrenden Erfolg gehabt; so in Hannover. Nun mögen Mäkler und böswillige Verleumder wie Wehner ausstreuen, was sie wollen, mich kümmert's nicht, wir haben recht getan. Die Leipziger haben aber in ihrer Blasiertheit ein Testimonium der Ärmlichkeit und Herzlosigkeit gegeben, das mir um so mehr leid tut, als ich dort selbst erfahren, daß so etwas trotz aller Philosophie schmerzt, den, welchem solche Teilnahmlosigkeit das kalte Wasser über das warme Herz gießt. Nun mögt Ihr in Hamburg tun, was Ihr wollt; aber wenn Sie, lieber Freund, das Konzert im Philharmonic bringen, so komme ich und dirigiere, das ist ja längst ausgemacht.«

Dieser Brief, der, wie man sieht, den Ereignissen vorgreift, spricht von einer Gegnerschaft, die Brahms in Hannover erwachsen war, und Joachim nennt als das Haupt der Opposition Wehner. Derselbe Mann, der sich für den zwanzigjährigen Jüngling so warm zu interessieren schien, gehörte zu den Mißgünstigen, seitdem Joachim's überragende Persönlichkeit ihn in Schatten gestellt hatte. Daß Joachim bei einer Erneuerung seines Vertrages sich [343] zwei Choraufführungen für seine Konzerte ausbedang, mochte der Direktor der Neuen Singakademie für eine Schmälerung seiner Interessen ansehen. Auch mit dem Engagement des jungen, reichbegabten Nürnberger Theaterkapellmeisters, des ausgezeichneten Pianisten und Komponisten Bernhard Scholz,2 der im März nach Hannover berufen wurde, um an Stelle des erkrankten Fischer die Direktion der modernen Opern zu übernehmen, war Wehner nicht einverstanden; seine trübe Ahnung trog ihn nicht: Scholz, mit dem sich bald Joachim und später auch Brahms intim befreundete, wurde schon 1860 sein Nachfolger im Amt, und Wehner zog sich grollend auf seinen Posten als regens chori der Hof- und Schloßkirche zurück. Gleich nach der Aufführung seines Konzerts fuhr Brahms nach Leipzig. Rietz, der damals noch Dirigent der Gewandhauskonzerte war, erwartete ihn zu den zwei für die Novität anberaumten Proben. Daß der ultrakonservative Musiker sich mit besonderer Begeisterung des neuen Werkes annehmen würde, war nicht zu erhoffen und auch nicht zu verlangen. Er brachte es wohl nur heraus, um seinem Freunde David einen Gefallen zu tun, vielleicht auch um die Angriffe derer zu entkräften, die ihm vorwarfen, er hasse alles Neue in der Musik mit leidenschaftlicher Unduldsamkeit. Aber er verhielt sich gegen das Brahmssche Klavierkonzert doch nicht ganz so indolent, wie ihm nachgesagt wurde. Kretzschmar, der in seiner ersten kritischen Revue Brahmsscher Werke3 mit heiligem Feuereifer das Evangelium dieser »neunten Symphonie mit Klavier« predigt, macht den, »der damals den Taktstock führte, und der dieses Geschäft am liebsten mit der Zigarre im Munde versehen hätte,« dafür verantwortlich, daß das herrliche Werk, »von dem man sagen und rühmen soll, so lange das deutsche Volk noch die Erstlinge seines Genius versteht und ehrt,« ad acta gelegt wurde.

In diesem Falle tut er Rietz Unrecht. Das Konzert fiel durch, weil es dem Leipziger Publikum eine schwere Enttäuschung bereitete. Den Leuten war ein Virtuosenstück versprochen worden, [344] und sie empfingen dafür ein bis zur Verzweiflung düsteres, schwer verständliches Werk, das noch höhere Ansprüche an die Aufmerksamkeit der Zuhörer stellte als eine Symphonie. Allerdings wäre der Unmut über das vereitelte Vergnügen kein so großer gewesen, wenn er nicht künstlich genährt worden wäre. Da Brahms weder zu Brendel noch zu Bernsdorf, dem neuen Kritiker der »Signale«, ging, so saß er zwischen zwei Stühlen. Dem Publikum galt er für einen der allermodernsten Umstürzler, und gerade von diesen wurde er am meisten gehaßt; die Neudeutschen hielten ihn für einen verkappten Reaktionär, und die auf Mendelssohn oder Schumann Eingeschworenen betrachteten ihn als Abtrünnigen. Am 27. Januar wehte daher ein besonders scharfer Wind aus der »bösen Ecke« des Gewandhauses; ein Gewitter war im Anzuge. Dort im Hintergrunde des Saales, gerade gegenüber vom Orchester, thronten auf und hinter den amphitheatralisch ansteigenden Bänken die gefürchteten Kenner und Kritiker, ein Häuflein urteilslustiger, verwegener Menschheit, das sich sein höheres Existenzrecht im Laufe der Jahre erstanden und ersessen hatte. In der bösen Ecke drückten sich akademische Bürger, Musiklehrer und Literaten mit jenem Proletariertum der Intelligenz zusammen, das in allen größeren Städten vorhanden ist. Sie machten Regen und Sonnenschein im Saale, entschieden über Rang und Wert der auftretenden Künstler und aufgeführten Kompositionen und legten ihren Gefühlen keinen Zwang auf. Über den Komponisten des d-moll-Konzerts war schon in Kaffeehäusern und Bierlokalen der Stab gebrochen, ehe er noch eine Taste angeschlagen hatte, und als sich ein paar Hände im Parterre rührten, um dem bescheidenen jungen Manne, der sich ersichtliche Mühe mit dem schwierigen Werke gegeben hatte, zu danken, brach der Sturm in der bösen Ecke los. Brahms wurde ausgezischt und verhöhnt, und die klassische Inschrift, die in goldenen Lettern über dem Orchester des Gewandhauses prangte: »Res severa est verum gaudium« kam insofern zu ihrem Recht, als der intelligente Pöbel Leipzigs sich aus einer sehr ernsthaften Sache ein wahres Gaudium machte.

Wie der junge Held seine erste eklatante Niederlage ertrug? Hören wir ihn selbst darüber. Am Morgen nach dem Konzert schreibt er launig an Joachim, »mit einer harten Sahrschen Stahlfeder, [345] noch ganz berauscht von den erhebenden Genüssen, die seinen Augen und Ohren durch den Anblick und das Gespräch der Weisen unserer Musikstadt seit mehreren Tagen zuteil geworden.« Er will erzählen, »wie es sich begab und glücklich zu Ende geführt ward, daß sein Konzert hier glänzend und entschieden – durchfiel.« Seinen Humor hatte Brahms also nicht verloren, seine objektive Ruhe aber im Zimmer seines Freundes v. Sahr, bei dem er, wie vor sechs Jahren, wohnte, bald wiedergefunden. »Vor allem,« fährt er fort, »es ging wirklich recht sehr gut, ich spielte bedeutend besser als in Hannover, und das Orchester ausgezeichnet. Die erste Probe erregte keinerlei Gefühle bei den Musikern oder Zuhörern. Zur zweiten kam aber kein Zuhörer, und bei keinem Musiker bewegte sich ein Gesichtsmuskel. Den Abend wurde Elise-Ouverture von Cherubini gemacht, dann ein Ave Maria von demselben matt gesungen, also hofft' ich, Pfunds [des Paukersj Wirbel würde zur rechten Zeit kommen. Ohne irgend eine Regung wurden der erste Satz und der zweite angehört. Zum Schluß versuchten drei Hände langsam ineinander zu fallen, worauf aber von allen Seiten ein ganz klares Zischen solche Demonstrationen verbot. Weiter gibt's nun gar nichts über dies Ereignis zu schreiben, denn auch kein Wörtchen hat mir noch jemand über das Werk gesagt! David ausgenommen, der sehr freundlich war und sich außerordentlich dafür interessierte und sich Mühe darum gab. Weder Rietz noch Wenzel4, Senff5, Dreyschock6, Grützmacher7, Röntgen8, sagten auch nur das Gleichgültigste. Sahr habe ich heute früh einzelnes gefragt und mich über seine Aufrichtigkeit gefreut.

Dieser Durchfall machte mir übrigens durchaus keinen Eindruck, und das bißchen üble und nüchterne Laune hernach verging, als ich eine C-dur-Symphonie von Haydn und die Ruinen von Athen [346] hörte. Trotz alledem wird das Konzert noch einmal gefallen, wenn ich seinen Körperbau gebessert habe, und ein zweites soll schon anders lauten.

Ich glaube, es ist das beste, was einem passieren kann: das zwingt die Gedanken sich ordentlich zusammenzunehmen und steigert den Mut. Ich versuche ja erst und tappe noch. Aber das Zischen war doch zu viel?

Dein Brief, den ich gestern abends in der Kneipe bekam, tat sehr wohl, und ich ärgerte mich nicht über Herrmann9 etc. etc., die fidel mit mir tranken und kein Wort über Konzert etc. sprachen. Frau Schumann ist, wie ich hier erfuhr, noch in Wien, die hätte ich gern hier gehabt!

Schändlich nüchtern sahen hier die Gesichter aus, als ich von Hannover kam und Deines zu sehen gewohnt war. Montag (31. Januar) gehe ich nach Hamburg. Sonntag ist hier eine interessante Kirchenmusik und abends der Faust bei Frau Frege.10«

Mit keiner Silbe erwähnt Brahms in diesem ungewöhnlich langen Schreiben, welches die Bescheidenheit und Aufrichtigkeit seines Herzens mit fast ergreifender Schlichtheit zum Ausdrucke bringt, wie schwer ihn der Verlust seiner Hoffnungen traf, die er auf sein Debut im Gewandhause gesetzt hatte. Gerade von dem d-moll-Konzert, mochte es auch ihm selbst nicht Genüge tun, glaubte er sich eine besondere Wirkung auf die Anhänger aller Parteirichtungen versprechen zu dürfen. Bei der guten Meinung, die er von der Intelligenz der Leipziger Musiker hatte, durfte er davon überzeugt sein, daß das Konzert und sein Vortrag mit einem Schlage einen gänzlichen Umschwung zu seinen Gunsten hervorbringen würde. Auf diesen rosigen Traum baute Brahms aller Wahrscheinlichkeit nach ein goldenes Wolkenschloß, in welchem das Glück seiner Zukunft als liebende Fee residierte. Denn er gedachte, wie die »Signale« allzu voreilig meldeten, den Rest des Winters in Leipzig zuzubringen. Dabei konnte ihn nur die Absicht leiten, seine neuen Werke druckfertig zu machen und an die Verleger zu verkaufen. [347] Der Winter von 1853/54 hätte sich also in noch ersprießlicherer Weise wiederholen, und das d-moll-Konzert hätte der ideale Köder sein sollen für alle, die etwas von irdischen Glücksgütern, Ehren und Ämtern an ihn zu vergeben hatten. Törichter Jüngling, der da glaubte, in dieser besten aller Welten ginge es nach Verdienst und Gerechtigkeit zu! Das Genie taugt nicht zum Faktor in der gemeinen Interessenwirtschaft, wo lieber mit Nullen gerechnet wird als mit inkommensurablen Größen. Brahms tat wohl daran, sich von Haydn und Beethoven über sein Mißgeschick trösten zu lassen. Anstatt seinen offenen und versteckten Widersachern zu zürnen, dankte er ihnen für die heilsame Lehre, die sie ihm gegeben hatten, und ging über sein Fiasko wehmütig lächelnd hinweg, mit dem redlichen Vorsatz, »es künftig besser zu machen.« Er wäre gleich nach Hamburg abgereist, wenn ihn nicht die Aussicht auf einige seltene musikalische Genüsse in Leipzig festgehalten hätte. Am 30. Januar führte der Riedelsche Verein in der Paulinerkirche mehrere geistliche Gesänge aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf, Chorlieder von Eccard, Calvisius, Prätorius, Stobäus und Schütz, und am Abend desselben Sonntags veranstaltete Frau Dr. Livia Frege in ihrem kunstfreundlichen Hause eine Aufführung der Schumannschen Faustszenen. Da durfte er nicht fehlen!

Unter den Zuhörern in der Kirche befand sich auch Liszt, der fast unmittelbar nach seinem Rücktritt von der Weimarer Oper zu einer wichtigen und folgenreichen Konferenz mit Brendel nach Leipzig gekommen war. Liszt hatte sich ostensibel bei Joachim öfters nach Brahms erkundigt und den Wunsch ausgesprochen, ihn wiederzusehen. Hier waren sie nun einander zum Greifen nah, und doch ging jeder seine eigenen Wege. Brahms unterließ den sicher erwarteten Besuch, Liszt wurde gleich Brendel von ihm ignoriert. Er wollte und konnte nicht verstehen, was zwischen den Zeilen einer Brendelschen Kritik zu lesen war, und beachtete nicht den Wink, den ihm die »Neue Zeitschrift« in ihrem Referat über jenes 14. Abonnementskonzert gab. Brendel und Liszt hätten ihn noch immer mit offenen Armen empfangen, vorausgesetzt, daß sie mit dem reuigen Sünder bei der »Allgemeinen Tonkünstlerversammlung«, die von ihnen für den Juni nach Leipzig [348] einberufen worden war, hätten Staat machen können.11 »Sowohl wegen der Hoffnungen,« berichtet die »Neue Zeitschrift« in ihrer Nummer vom 4. Februar 1859, »welche einer Kunsterscheinung in seltenster Weise schon ihrem ersten Auftreten durch das begeisterte Einführungswort eines gefeierten Meisters entgegengebracht wurden, als auch wegen der Seltenheit der späteren Kundgebungen des in ziemlicher Abgeschlossenheit lebenden Künstlers mußte das Auftreten von Johannes Brahms mit einem neuen Klavierkonzert an diesem Abend unsere Aufmerksamkeit erregen. Trotz der zugestandenen Mängel der äußeren Erscheinung halten wir dieses Werk seinem inneren dichterischen Gehalte nach für ein unverkennbares Zeugnis einer bedeutenden Schöpfungskraft von echt poetischer Ursprünglichkeit und Originalität. Dem abfälligen Urteile einer gewissen Seite des Publikums und der Kritik gegenüber betrachten wir es für unsere Pflicht, für diese achtungswerten Seiten des genannten Werkes einzustehen und gegen die wenig achtbare Art und Weise seiner Beurteilung zu protestieren. Wir haben uns die Behandlung dieses Themas bei der Redaktion für die nächsten Tage vorbehalten.«

Aus dem verschrobenen und verklausulierten Neudeutsch der Zeitschrift glaubt man den Rufer im Streit: Hoplit, den Schwerbewaffneten, herauszuhören. Der wahre Sinn aber, der hinter dem Referat liegt, lautet ungefähr: »Tritt aus Deiner Abgeschlossenheit heraus, welt- und menschenscheuer Künstler, geselle Dich zu uns, daß wir Dich den Unsern nennen können, und wir wollen den inneren dichterischen Gehalt Deiner Werke dem Publikum des weiteren explizieren und Dich mit gewissen, durch unsere [349] Stellung gebotenen Einschränkungen als Originalgenie gelten lassen.« Brahms reagierte nicht auf diese und andere Winke, sondern lebte ziemlich unbekümmert um seinen Ruhm in Gegenwart und Zukunft hinein, ohne an die »nächsten Tage« zu denken, welche die »Neue Zeitschrift« für eine Abhandlung über sein Werk und dessen wenig achtbare Beurteilung anberaumt hatte. Diese Tage kamen dann nicht, wie sich dies bei der bewährten Praktik und Taktik der Brendel und Pohl von selbst versteht. Am 1. April erwähnte Brendel noch einmal das Brahmssche Konzert, als er über den Mißerfolg der Joachimschen Ouverture zu Heinrich IV. zu berichten hatte, und zwar in folgender Weise: »Joachim schließt sich als Komponist wie Brahms an Schumann an. An das vor kurzem (soll heißen: vor zwei Monaten) gehörte Brahmssche Konzert wurde ich in mancher Beziehung erinnert. Ebenso wie das Konzert erschien mir das Werk in vielfacher Beziehung interessant und sehr beachtenswert, und es ist für mich unzweifelhaft, daß das Verhalten des Publikums beiden Leistungen gegenüber durchaus ungerecht und ungerechtfertigt war. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß beide Komponisten schon durchaus Fertiges gegeben hätten.« Schließlich meint Brendel, dessen Leute das Schicksal beider Werke besiegeln halfen, es seien »jedenfalls alle Bestrebungen dieses besonderen Kreises innerhalb der neuesten Entwicklung so beachtenswert, daß ein genaueres Eingehen auf dieselben bald notwendig werde«. Ein andermal, bald, in den nächsten Tagen, nur jetzt nicht!

Ehrlicher und offener, aber noch ungerechter verfuhr der Kritiker der »Signale«. Er nannte die »zu Grabe getragene Komposition« ein Stück von wahrhaft trostloser Ode und Dürre. Die Erfindung habe auch an keiner einzigen Stelle etwas Fesselndes und Wohltuendes; die Gedanken schlichen entweder matt und siechhaft dahin, oder sie bäumten sich in fieberkranker Aufgeregtheit in die Höhe, um desto erschöpfter zusammenzubrechen; ungesund mit einem Worte sei das ganze Empfinden und Erfinden in dem Stücke. Gäben nun diese blassen und schemenhaften, nur hin und wieder von hektischer Röte angehauchten Gedanken an sich schon einen traurigen Anblick, so werde die Sache noch trübseliger durch die Art und Weise, wie sie verarbeitet und verwendet worden[350] seien ... »Und dieses Würgen und Wühlen, dieses Zerren und Ziehen, dieses Zusammenflicken und Wiederauseinanderreißen von Phrasen und Floskeln, muß man über Dreiviertelstunden lang ertragen! Diese ungegorene Masse muß man in sich aufnehmen und muß dabei noch ein Dessert von den schreiendsten Dissonanzen und mißlautendsten Klängen überhaupt verschlucken! Mit vollstem Bewußtsein hat überdies auch Herr Brahms die Prinzipalstimme in seinem Konzert so uninteressant wie möglich gemacht: da ist nichts von einer effektvollen Behandlung des Pianoforte, von Neuheit und Feinheit in Passagen, und wo irgendeinmal etwas auftaucht, was den Anlauf zur Brillanz und Vollheit nimmt, da wird es gleich wieder von einer dichten orchestralen Begleitungskruste niedergehalten und zusammengequetscht. Zu bemerken ist endlich noch, daß als technischer Klavierspieler Herr Brahms nicht auf der Höhe derjenigen Anforderungen steht, die man heutzutage an einen Konzertspieler zu machen berechtigt ist.«12

Einen öffentlichen Verteidiger fand das verlästerte Werk in Freund Grädener. Er wartete die Hamburger Aufführung des Konzertes ab, die am 24. März stattfand, um seiner Entrüstung über den Kritiker der »Signale« Lust zu machen. Grädener hätte weniger lange zögern dürfen, wenn er seiner, »Hamburg, April 1859« datierten Antikritik eine Wirkung sichern wollte, die sie kaum mehr haben konnte, als sie, obendrein noch »durch zufällige Umstände verspätet«, am 29. Juni in Bote und Bocks »Neuer Berliner Musikzeitung« erschien. Bemerkenswert in diesem Aufsatze ist, daß das »Symphonie-Konzert«, als welches Grädener das Werk anspricht, oder die »Symphonie mit obligatem Piano«, von ihm für jedes »echte Konzert seit Beethoven« gefordert wird. Grädener leugnet nicht die Beethovensche Abkunft des Werkes, sondern pocht auf sie. Er geht seine drei Sätze flüchtig durch und [351] weist mit erhobenem Finger auf deren Hauptschönheiten hin, um dann mit demselben Finger seinem Gegner einige kräftige Nasenstüber zu verabreichen. »Und das alles hörten Sie nicht, Mann mit der fertigen Zunge und der hinkenden, kritischen Feder?« – apostrophiert er ihn – »alles für Sie nur Öde und Dürre und Infusorien und ungegorene Masse?!« Dann, auf den Klavierspieler Brahms übergehend, fährt Grädener fort: »Hätten Sie gesagt, Brahms Spiel ermangle dessen, was wir brillant (Sie sagen flott) zu nennen pflegen, und was doch auch eine Seite des Vortrages ist, und eine berechtigte – ermangele dessen, weil die Keuschheit seines Spiels ihn vor allen Mitteln zurückbeben lasse, die über das Notwendige hinausgehen, und weil er – aus Furcht, zu viel zu tun, zu wenig tue – vielleicht, wir würden Ihnen recht geben. Ihm aber die Technik des heutigen Klavierspielers absprechen, heißt mehr als taub sein. Schon ein Klavierkonzert der Schwierigkeit, wie das seine, mit Ruhe, Sicherheit und makellos spielen, heißt: spielen können. Aber mehr noch: Haben Sie noch nie durchs Ohr erfahren, was ›ein schöner Anschlag‹ heißt? Wir würden Ihnen raten, unterweilen Brahms zu hören.«

Seiner mit Geist und Gewandtheit abgefaßten Apologie fügt Grädener am Schlusse die Nachricht hinzu, daß Brahms in einer dem vorigen (Hamburger Philharmonischen) Konzerte folgenden Soiree (28. März) noch eine Serenade eigener Komposition in sechs Sätzen brachte, »deren jeder folgende den vorigen an Jugendkraft und Frische entweder, oder an Innigkeit und Tiefe (von der überaus schön klingenden Instrumentation gar nicht zu reden) zu überbieten sucht.« Grädener bezeichnet den Tonkörper der Serenade näher, indem er von Streich- und nur fünf Blasinstrumenten (Flöte, zwei Klarinetten, Horn und Fagott) spricht. Auf dem Programm dieser Soiree figurierte denn auch die »Detmolder Symphonie« als Serenade für kleines Orchester. Die Bläserstimmen waren einfach besetzt, Trompeten und Pauken fehlten. Es wurde also auch nach der ersten öffentlichen Aufführung der Serenade noch daran gemodelt und uminstrumentiert. Eine recht gefällige Änderung verdanken wir der Renitenz eines Hamburger Fagottisten, der in der Probe dem Dirigenten erklärte, er [352] könne die Begleitung im zweiten Teile des ersten Menuetts nicht blasen. Brahms übertrug die acht Takte auf das Violoncell und ließ die Achtel pizzicato spielen, wodurch ein angenehmer Wechsel in das Stück kam. Er wollte die Serenade anfänglich bei den Philharmonikern aufführen und zwar an demselben Tage, an welchem er sein Konzert bei ihnen spielte. Grund und Joachim aber brachten ihn von dieser unglücklichen Idee ab, und er gab um so lieber nach, als er selbst die Kühnheit, zwei so lange Stücke eines jungen Komponisten auf einmal zu bringen, nur damit entschuldigen zu können erklärte, daß der junge Komponist eben ein Hamburger sei. Joachim beschwichtigte den Freund mit der Zusage, in einem Extrakonzert mitzuwirken, in welchem er die Serenade dirigieren, und zu welchem er Stockhausen, der bei ihm in Hannover gastierte, mitbringen wollte. Diese Aussicht gefiel Brahms über die Maßen. Seine vergnügte Stimmung drückt sich in dem humorvollen Briefe aus, den er am 22. März an eine Hofdame in Detmold richtete.13 Er schreibt:


»Sehr geehrtes, gnädiges Fräulein!


Vor Allem bitte ich Sie, Ihrer Durchlaucht Prinzessin Friederike meinen unterthänigsten Dank für die Uebersendung des neuen Bachschen Werkes sagen zu wollen.

Wie oft werde ich durch dies Geschenk auf die schönste Weise an die Güte Ihrer Durchlaucht erinnert. Sie wissen, wie sehr ich diesen Gottmenschen liebe, und können denken, daß seine (von Ihnen so gefürchteten) Töne oft bei mir erklingen.

Ich freue mich, daß Ihre Durchlaucht so fleißig fortfahren, zu musicieren, und wünschte nur, ich könnte auf irgend eine Weise anregend mitwirken.

In dem von Ihnen angeführten Trio14 ist freilich das Einfachste, daß die linke Hand (die ohnedies pausirt) der armen Rechten hilft. Solche Verlegenheit hat man dem frevelhaften Uebermuth der Komponisten zu verdanken!

Uebermorgen spiele ich hier mein Clavierconcert und führe einige Tage später in einem eigenen Concerte andere Werke von [353] mir auf Joachim und Stockhausen, die dazu kommen, werden wahre musikalische Festtage bereiten.

Trotz der verschiedensten Beurtheilungen, die meine Werke erfahren, muß ich ganz vergnügt über meine ersten Orchesterversuche sein, und ich hoffe bestimmt, sie werden auch in Detmold sich freundliche Zuhörer verschaffen.

Und darf ich doch vor Allem auf später reisende und schöner schwellende Früchte hoffen.

Den durchlauchtigsten Herrschaften bitte ich mich gütigst empfehlen zu wollen und verbleibe ich mit besonderer Hochachtung


Ihr ergebener

Johannes Brahms.«


Brahms hatte diesmal so unrecht nicht, auf die landsmannschaftlichen Gefühle der Hamburger zu bauen. Sie würden sich vielleicht aus Opposition gegen die Leipziger sogar den doppelten und dreifachen Brahms in einem Konzert haben gefallen lassen, mögen aber doch froh gewesen sein, Konzert und Serenade getrennt bewundern zu dürfen. Das Philharmonische Konzert, oder, wie es auf dem Hamburger Zettel heißt, das »Einhundertzweiundzwanzigste philharmonische Privatkonzert« vom 24. März gestaltete sich zu einem künstlerischen Ereignis ersten Ranges. Stockhausen erschien wie der Herold eines neuen Liederfrühlings auf dem Podium und eroberte sich, von Brahms begleitet, die Herzen der Hamburger und besonders der Hamburgerinnen im brausenden Sturme seines Gesanges. Er sang Frühlingsglauben, Frühlingslied und Frühlingsnacht, drei der herrlichsten Lieder von Schubert, Mendelssohn und Schumann, nachdem er zuvor in einer Arie von Händel den Künstler großen Stils gezeigt hatte. Joachim trug Spohrs »Gesangsscene« und drei Sätze aus einer der Bachschen Solosonaten vor; Cherubinis Ouverture zum »Wasserträger« eröffnete. Beethovens achte Symphonie beschloß den denkwürdigen Abend. Brahms spielte sein Konzert am Ende der ersten Abteilung, hinter der Händelschen Arie, und Joachim nahm dem alten Grund den Taktstock aus der Hand, um das Orchester zum höchsten Eifer anzuspornen. Brahms fand demonstrativen Beifall; aber wie ein großer Erfolg aussieht, konnte er an dem Enthusiasmus merken, [354] mit welchem die berauschten Zuhörer das von Stockhausen hinausgejubelte »Sie ist deine, sie ist dein!« empfingen. Kein Wunder, daß die Ankündigung der Soiree einen Zudrang zur Kasse erregte, wie er seit den Tagen der Sonntag und Lind, Paganinis und Liszts nicht dagewesen war.

Die drei Künstler wollten ihr Konzert erst in der »Lesehalle« abhalten, als aber die Einlaßkarten im Handumdrehen vergriffen waren, verlegten sie es in den großen Wörmerschen Konzertsaal. Auch der reichte kaum aus, und es gab ein lebensgefährliches Gedränge. Brahms wollte sich das Vergnügen, »selbst zu fuchteln,« nicht versagen, überließ aber schließlich doch Freund Joachim die Direktion. Sein Vater strich im Kontrabaß mit, es ging vortrefflich, und Mutter, Bruder und Schwester saßen unter den eleganten Leuten, die den Saal bis auf den letzten Platz gefüllt hatten. Die Seligkeit war groß und wurde vollkommen, als Josef und Johannes, die beide in der neuen, abermals fürs Zimmer-Vermieten eingerichteten Wohnung (Hohe Fuhlentwiete 74) logierten, im Familien- und Freundeskreise die Wirkung des schon mit Schumann versuchten »Hausschlüssels« erprobten, d.h. Champagner tranken. Sie konnten sich etwas zugute tun, denn die Soiree hatte trotz des Aufwandes, den die Serenade für sich beanspruchte, einen Überschuß von sechshundertsechsunddreißig Talern eingebracht. Brahms befand sich in »kreuzfideler« Laune und ließ sich diese auch durch die Tagesblätter nicht trüben, die an Konzert und Serenade allerlei auszusetzen wußten. Die Leipziger sollten nicht etwa denken, daß die Hamburger vor lauter Lokalpatriotismus blind und taub geworden seien!

Seine gehobene Stimmung hielt nicht allzu lange vor. Wenn er sich fragte, was nun werden solle, war er um die Antwort verlegen. Wieder saß er im elterlichen Hause und mußte zufrieden sein, die Beine unter den Tisch des Vaters strecken zu können. Der Gedanke, einen eigenen Hausstand zu gründen und eine junge Frau heimzuführen, war von höchst berechtigten Zweifeln verdrängt worden, und seiner Göttinger Liebe erinnerte er sich, seit dem Fiasko in Leipzig, wie eines schönen, unerfüllbaren, leise verdämmernden Traumes. Die freundliche Aufnahme, die er [355] diesmal in Hamburg gefunden hatte, tat seinem an der Vaterstadt hängenden Herzen wohl, wenn er bei ruhigerer Überlegung sich auch gestehen mußte, daß er ohne Joachim und Stockhausen mit seinen Novitäten einen schweren Stand gehabt haben würde. Je länger er im elterlichen Hause verweilte, desto unbehaglicher wurde ihm. Er war schon zu sehr an die Freizügigkeit des Junggesellen gewohnt, der sein Zelt nach Belieben aufschlägt oder abbricht, und bleibt, wo es ihm gefällt, um die kleinbürgerliche Beschränkung nicht als hemmende Fessel zu empfinden. Er meinte, er wohne bei den Eltern »wie in der Küche«, könne es aber nicht übers Herz bringen, auszuziehen, weil er die Alten nicht kränken wollte. Der Fernblick, der von den beiden Fenstern des feinsten Zimmers, welches sonst nur von solventen Musikern und Schauspielern okkupiert wurde, über den großen Schuldtschen Garten bis zu den hohen Bleichen ging, leistete ihm keinen Ersatz für die gewohnten Streifereien durch Wald und Feld, und die gern begangenen Spazierwege seiner Knabenzeit konnte er nicht mehr genießen und zum Komponieren »benützen«, seit er ein berühmter Mann geworden war, der überall beobachtet, angeredet, aufgehalten und gestört wurde. Auch seine ehemalige »gemütliche zweite Wohnung« im Pianofortemagazin bei Baumgardten und Heins blieb ihm aus ähnlichen Gründen verschlossen, So gern möchte er der inneren Stimme folgen, die ihm zusprach: Hier bist du zu Hause; und sich so recht gründlich wieder einleben in die geliebte Stadt! »Ich bin ganz Hamburger«, bekräftigt er in einem vom 18. Juni datierten Briefe an Joachim. Aber gleich darauf sagt er, er werde »rein aus lauter Zartheit« Hamburg wieder verlassen müssen. Fürchtete er sich nicht vor dem Hofe, dem er doch nicht den Rücken kehren könne, so möchte er wohl nach Hannover gehen und dort eine Stellung suchen. Zu Ende des Sommers wolle Frau Schumann mit ihm und Joachim auf drei Wochen in die Schweiz; aber er brauche eigentlich keine Erholungsreise, verdiene sie auch nicht, da er unproduktiv sei und nichts komponiere. Im August oder September soll Frau Klara nach Hamburg kommen. »Es gibt hier so wunderhübsche Zimmer vor den Toren, daß ich sie oft sehnsüchtig ansehe.« Nun heiße es [356] ausharren bei Bibliotheks- und Bach-Studien15 und Lektionen. Von seinen Schülerinnen scherzter: »Eine spielt immer besser als die andere und einige spielen sogar noch schlechter.« Um ihn wieder in bessere Laune zu versetzen, bedurfte es einer neuen unmittelbaren Berührung mit seiner Kunst. Ein Zufall führte diese herbei.

Am 19. Mai 1859 wurde Fräulein Jenny v. Ahsen, die Tochter des Predigers an der Michaeliskirche, mit Herrn Pastor Sengelmann ehelich verbunden16. Für Brahms gab es mehr als eine Ursache, zur künstlerischen Verherrlichung der Trauung beizutragen. Der Vater der Braut hatte ihn in derselben Kirche, in welcher die feierliche Handlung vor sich ging, getauft, die Braut aber war eine Schülerin Grädeners. Dieser dirigierte den Gesang und Brahms spielte die Orgel. In der von Grädener dem Brautpaar gewidmeten, für Frauenstimmen komponierten Motette: »Wo Gott ein Haus nicht selber baut« wirkte eine Auswahl der besten Sängerinnen aus seiner und anderen Akademien mit17. [357] Der reizende Zusammenklang der wohlgeübten Stimmen gefiel Brahms so sehr, daß er die Damen bat, mit ihnen sein »Ave Maria« und zwei andere Frauenchöre einstudieren zu dürfen, um sie dann ebenfalls in der Kirche zu hören. Im Einverständnis mit Grädener bemühten sich einige der Mitwirkenden, die seiner eigenen Akademie angehörten, eine kleine Kerntruppe für den jungen Feldherrn zusammen zu bringen. Wie Hübbe mitteilt, waren am 6. Juni achtundzwanzig Damen im Hause des Auktionarius Wagner versammelt und sangen außer dem »Ave Maria« noch das »Adoramus« und »Bone, Jesu«, d.h. jene drei von Brahms für Frauenchor komponierten Stücke, die er in der Kirche hören wollte. Am 7. Juni hielt Brahms eine zweite Probe ab, und am Tag darauf wurde alles in der Kirche wiederholt. Da Brahms zu seiner Freude merkte, mit welcher Lust und Liebe die Damen bei der Sache waren, und wie leid es ihnen tat, ein solches einziges Vergnügen nicht öfters haben zu können, so forderte er sie alle miteinander auf, wöchentlich einmal unter seiner Leitung zu singen. Er hatte wohl noch einiges in petto und versprach ihnen, immer für Neues zum Einstudieren zu sorgen, wenn sie regelmäßig und pünktlich erscheinen wollten, denn »fix oder nix« sei sein Wahlspruch. (Dietrich.) An Material fehlte es ihm nicht, da er sich seit Detmold in der einschlägigen Literatur praktisch umgetan hatte und sich überdies vornahm, noch mancherlei zu arrangieren, was ihm tauglich schien, recht viel aber auch aus eigenem beizusteuern. Sein Vorschlag wurde sogleich mit allgemeinem Jubel akzeptiert und der Montag als Versammlungstag festgesetzt.

Das ist in Kürze die Geschichte vom Entstehen des für die weitere Entwickelung der Brahmsschen Musik nicht unwichtigen Hamburger Frauenchores, wie sie sich aus den uns überlieferten Tatsachen und Dokumenten mit einleuchtender Verständlichkeit ergibt.

Nicht so einfach stellt sich die Sache bei Hübbe. Er möchte die Gründung des Hamburger Frauenchors gern zu einer engeren Familienangelegenheit machen und das Verdienst, Brahms zur Chorkomposition angeregt zu haben, den drei ihm verschwägerten Töchtern des oben erwähnten Auktionarius Wagner zuschanzen, deren eine, »Friedchen« genannt (später Frau Sauermann), eine [358] Schülerin von Brahms und Hübbes Klavierlehrerin war. Darum bemühte er sich, eine besondere »Hamburger Zeit« für Brahms zu konstruieren, und läßt diese möglichst früh beginnen.

»Mit dem Jahre 1855,« heißt es bei Hübbe, »beginnt die mit der Reise nach Wien zum Abschluß kommende Zeit, die man als die eigentliche Hamburger Zeit für Brahms ansehen muß.« Weiterhin schreibt er, allerdings etwas weniger kategorisch: »Wenn die Erinnerung nicht täuscht, brachte er (Brahms) zuerst für die drei Töchter des Wagnerschen Hauses, Volkslieder in dreistimmigen Satz. Indem sich dieser kleinste Kreis durch Hinzutritt befreundeter Stimmen nach und nach erweiterte, kam es daneben auch wohl bald zu vierstimmigen Sätzen«. Dem gegenüber sei Folgendes bemerkt: Vor dem Juni 1859 kann von einer Hamburger Zeit, im Sinne Hübbes, keine Rede sein. Erst in diesem Monat hatte Brahms – und wir haben es eben von ihm selbst (aus dem Briefe an Joachim) gehört! – den Wunsch, »sich eigentlich doch recht gern einzuleben« in die Vaterstadt, noch keineswegs aber die definitive Absicht, dort sitzen zu bleiben. Am 7. August erwähnt er – zum erstenmale! und ebenfalls in einem Briefe an den in London weilenden Freund – seinen »kleinen Singverein (bloß Damen)« als Novum und sagt, er hielte ihn in Hamburg zurück, sonst wäre er gewiß am Rhein oder in einem schönen Wald, fügt aber gleich hinzu, daß der Verein sofort aufhörte zu existieren, wenn Joachim irgendwo erreichbar wäre18. Über die merkwürdige Kombination Hübbe's, [359] Brahms habe zuerst drei- und dann »daneben auch wohl bald« vierstimmige Sätze geschrieben, weil er zuerst immer an die drei Grazien in der Pastorenstraße dachte, die sich in Hübbes Einbildung zu den Schicksalsschwestern des Brahmsschen Chorgesanges auswuchsen, brauchte man kein Wort zu verlieren, klänge sie für den Laien nicht gar so plausibel. Abgesehen davon, daß dreistimmige Frauengesänge schon vor Brahms und den drei Fräulein Wagner komponiert worden sind, z.B. von Schubert, Mendelssohn und Schumann, so handelte es sich für den Dirigenten wohl zuvörderst darum, seine kleine Schar nicht zu entmutigen und zu zersplittern. Nur ein stark besetzter Alt läßt vergessen, daß dem Frauenchor das natürliche Baßfundament fehlt. Für deutsche Frauenkehlen, die nur ausnahmsweise den tiefen charakteristischen Kontra-Alt der Italienerinnen besitzen, bleibt ein dünnbesetzter vierstimmiger Satz immer prekär. Überfluß an Altstimmen hat Brahms gewiß nicht gehabt.

Seine erste Frage an Fräulein Meier, eine neue Sängerin, die ihm Frau Grädener mit der Bemerkung zuführte, sie wisse nicht, ob sie ersten oder zweiten Sopran singen solle, war: »Erster Alt wäre wohl nicht möglich?« Und als dieselbe Dame sagte, sie dächte sich den Alt viel schwerer als den zweiten Sopran, erwiderte er lachend: »Gewiß, Alt ist immer schwer; wenn ich die Damen alle laufen ließe, wohin sie wollten, so sänge keine einzige Alt, dann ständen alle im zweiten Sopran, das ist die beliebteste Stimme.« Fräulein Meier sagte noch zur Entschuldigung: »es ist wohl der gewöhnlichste Umfang« und traf damit den Nagel auf den Kopf19.

[360] Hätte Brahms in den drei Fräulein Wagner und deren Anhange schon vor dem 19. Mai einen Chor von Frauenstimmen zur Verfügung gehabt, so würde er seine Sachen gewiß ihnen zum Singen gegeben und nicht erst auf die Sengelmannsche Trauung gewartet haben.

Hübbe wußte nicht, daß Brahms sein »Ave Maria« schon im September 1858 und die beiden geistlichen Gesänge »O bone Jesu« und »Adoramus« Anfang Mai 1859, unabhängig von den Hamburger Damen, komponiert hatte; er wäre sonst vorsichtiger mit seinen Hypothesen umgegangen. Ebensowenig konnte er wissen, daß die ersten vier Nummern aus den »Zwölf Liedern und Romanzen«, op. 44, erst im Februar 1860 entstanden, gleichzeitig mit den Gesängen für Frauenchor, Hörner und Harfe, op. 17. Das »Ave Maria« und die beiden auf lateinische Texte komponierten geistlichen Chöre, welche mit dem im Dezember 1863 vollendeten Kanon »Regina coeli« zusammen 1866 als op. 37 herausgegeben wurden, waren das ursprüngliche Repertoire des Hamburger Frauenchors und bildeten dessen ideales Fundament. Das von Dietrich erwähnte, von Brahms bevorzugte Quartett der Fräulein Betty und Marie Völckers (später Frau v. Königslöw und Frau Musikdirektor Böie), Laura Garbe und Marie Reuter hat sich erst später aus dem Frauenchor als selbständige Körperschaft abgelöst. Frau Sauermann und ihre Schwestern aber dürfen sich das unbestreitbare und wahrlich nicht geringe Verdienst zuschreiben, durch ihren unermüdlichen Eifer und ihre treue Verehrung für den Dirigenten das Wesentlichste zur Förderung und zum Gedeihen der kleinen, zum Teile von ihnen angeworbenen Musikgesellschaft beigetragen zu haben20.

[361] Ein Konkurrenzunternehmen der Grädenerschen Singakademie, wie Hübbe meint, wollte und konnte der Hamburger Frauenchor nicht sein, und die Grädener in den Mund gelegte Bemerkung: »Das tut Brahms ja nur, um sich selbst dadurch zu üben,« verriet weniger den »leichten Unmut« des Freundes, als sie dessen Verständnis für den allzeit lernbegierigen und musikfreudigen Brahms bekräftigte. Anstatt dem vermeintlichen Nebenbuhler Schwierigkeiten in den Weg zu legen, räumte Grädener vielmehr alles beiseite, was Brahms hätte hinderlich sein können, und half mit seiner eigenen Erfahrung aus, wo der Neuling im Dirigentenfache etwa fehlte. Brahms kam es darauf an, sich die für den Dirigenten unerläßliche Freiheit und Gewandtheit der Bewegung immer sicherer anzueignen. Bei seinem Detmolder Schloßchor legte ihm die verhaßte Etikette den größten Zwang auf und erhielt ihn eher in seiner angeborenen Schüchternheit, als daß sie ihm erlaubt hätte, aus sich herauszugehen. Den jungen Damen gegenüber hatte er nur seine jünglinghafte Scheu vor dem anderen Geschlecht zu überwinden, und Grädener brachte ihn über die Verlegenheit der ersten Übungen hinweg. Grädeners Tochter Emma sang ebenfalls mit, und seine Frau wohnte den Versammlungen, die von Haus zu Haus wanderten, wenn es nötig war, als Anstandsdame bei, da es sich nach Hamburger Begriffen für Töchter aus guten Familien nicht geschickt hätte, stundenlang mit einem jungen Manne allein zu sein.

Das oben zitierte Tagebuch der Frau Wasserbaudirektor Lentz gibt in seiner köstlichen Naivetät und reizenden Frische ein anziehendes Bild jener heiteren Hamburger Frühlings- und Sommertage. Die Notizen der liebenswürdigen Schreiberin reichen bis zum 3. März 1861, »wo mein Mann und ich uns morgens verlobten; am Tage nach dem Abend, wo wir den Kanon die Märznacht so eifrig übten« (op. 44, Nr. 6). Ein schaurig süßes Gefühl des nahenden Lebens- und Liebesfrühlings mag in allen diesen unschuldigen Mädchenherzen gezittert haben, ein Gefühl selig beklommener Erwartung und zielloser Hoffnung, bis die sonnige Kunst der Töne die schwellenden Knospen der Empfindung zum Blühen brachte, und die schämig Verwirrten in dem erst gefürchteten, dann bewunderten und endlich angebeteten Dirigenten das [362] Ideal ihrer Träume zu erkennen glaubten. Holde Täuschung! Kunst und Künstlerschaft sind den Glücklichen meist nur Masken für Mann und Frau, und sie fallen ab, sobald der oder die wahre Erwählte auf den Plan tritt. O, man weiß, was man tut, wenn man die Puppe in die Ecke wirst, einer Freundin an den Hals fliegt und in sein Tagebuch schreibt: heute am so und sovielten, vormittags um 9 Uhr, beginnt ein neuer Lebensabschnitt! – Wie sie Arm in Arm durch die Straßen flattern und hüpfen, die flügge gewordenen, lieblichen Singvögelchen! Jede möchte die erste da sein, jede ihren besonderen Eifer zeigen.

Anfangs hat man nicht den Mut, den Gestrengen anzureden, bald aber bemerkt man, daß es sich ganz gut mit ihm plaudert, und daß er einen Spaß versteht. Nur, was seine Kunst anbetrifft, versteht er absolut keinen und gibt der vorlauten Sprecherin, die in der Erwartung, dem Komponisten geistlicher Psalmen dadurch zu schmeicheln, sich zu bemerken erlaubt, zur Abwechslung wären ja die »gottlosen« Volkslieder »ganz nett«, etwas auf den kecken Schnabel: »O gewiß, Fräulein, sonst würden wir sie gar nicht singen.« – Wenn die hübschen Kinder aber artig sind, brav Takt und Stimmung halten, trägt ihnen der im stillen Angebetete, um ihre armen Sinne vollends zu verrücken, noch etwas auf dem Flügel vor, und es kann einer und der anderen jungen Damepassieren, daß sie Schumanns symphonische Etuden für eine höhere instruktive Fingerübung hält, und dann in ihr verschwiegenes Tagebuch schreibt: »Er spielte uns 12 Etuden vor, man sollte es kaum glauben, 12 Etuden! Dabei steht Brahms in dem Rufe, eingebildet und un gefällig zu sein. Ich finde ihn ungewöhnlich gefällig.«

An einem Freitagabend (»Freitag den 9. September« wird gewissenhaft notiert) erscheint Brahms gar in eigener Person bei seiner kleinen Sängerin! Was kann er wollen, außerhalb der Singstunde? Doch nicht etwa ... Man nötigt ihn in die Wohnstube zu den Eltern. Er lehnt ab: »Ave ist auch draußen!« Ach, er kommt nur eine ausgeliehene Stimme abzuholen, und geht schnell wieder fort! Und nicht nur gefällig ist er, der entzückende Mensch, sondern auch nobel, viel zu nobel für einen armen Musikanten, der vom Lektionengeben lebt. »Friedchen gab uns die Beiträge zurück. Er hat das Geld durchaus nicht nehmen wollen. Die Gesangsübungen [363] hätten ihm so viel Freude gemacht, dies Geld könnte ihm aber die ganze Freude verderben. Wenn er nur wirklich wiederkommt! nicht, wie Friedchen fürchtet, irgendwo eine feste Anstellung bekommt. Und darüber müßten wir uns doch freuen.«

Die Trennung rückte heran. Brahms mußte nach Detmold abreisen, doppelt und dreifach wurde der Abschied gefeiert: mit einer letzten Übung bei Wagners und zwei Aufführungen Brahmsscher und Grädenerscher geistlicher Kompositionen in der Petrikirche (Brahms zog sie ihrer besseren Akustik wegen der Michaeliskirche vor). Das Tagebuch meldet hierüber: »Montag, 19. September in der Petrikirche. Susanne und ich waren um halb 10 Uhr die ersten in der Kirche; es waren einige Zuhörer unten« .... Der Mann schloß für uns den Lektor auf. Madame Brandt kam mit ihrer Nichte, der kleinen Wienerin. Sie hat bei Brahmfeld ein silbernes Tintenfaß besehen, oben mit einem Lorbeerkranz. Camilla und Toni W. waren oben über uns, als Brahms mit Armbrust kam. Beide sprachen mit ihr. Sie war glücklich und fühlte sich entschädigt für alles, was sie hat entbehren müssen. Brahms teilte uns mit, daß wir hier über acht Tage wieder singen. Herrlich! Dann ging er wieder hinauf zu Armbrust, probierte die Orgel, forderte Camilla auf, ihm zu helfen. Sie fragte: »Bälge treten?« – »I, Gott bewahre!« Wir singen an, Armbrust spielte zu langsam; er behauptete, er könne das Dirigieren nicht sehen. Brahms sagte lachend zu uns: »ich kann ihn ja sehen, da muß er mich doch auch sehen können.« Es wurde wiederholt, ging aber doch nicht, es klang entsetzlich. Brahms wurde ganz blaß, er ballte die linke Faust, um ruhig zu bleiben. Grädener erbot sich oben Takt zu schlagen, aber auch er konnte Brahms nicht sehen. Ich fragte Brahms: »Sollen wir nicht hinausgehen? Wenn wir alle stehen, ist oben wohl Platz genug.« Brahms sagte: »wir können es wenigstens 'mal versuchen.« Wir wanderten also hinauf, es war sehr eng, ging aber doch ganz gut, Camilla kroch zwischen uns hierhin und dorthin, schlug Armbrust Noten um, zog die Register, wurde geneckt und war glückselig. Herr Grädener war abwechselnd unten in der Kirche und oben bei uns. Das »Ave Maria« gefiel allgemein. Nun kam das Grädenersche »Wenn Gott ein Haus –«. Brahms fragte [364] Camilla: »Wollen Sie den Cantus firmus spielen?« – »Wenn ich es nur kann? Sie müssen nicht schelten, wenn ich es schlecht mache!« Brahms sagte: »Wie kann ich schelten!« Susanne und ich sangen Choral, die Grädenerschen Jungen wurden gerufen, der Componist mußte spielen, der kleinere den Choral mitsingen. Nachdem Brahms Camilla mehrmals eine Stimme in die Hand gesteckt hatte, fragten wir ihn, ob sie nicht noch mitsingen könnte? »O gewiß, recht gern!« – »Ich bat um dasAve Maria, dann nochmal zum Schluß den Psalm. Er bat uns die beiden neuen Marienlieder, ›O bone Jesu‹ und ›Adoramus‹ nochmal anzusehen. Die Zuhörer unten waren auch besonders vom Ave Maria entzückt.«

Am Sonntag den 25. versammelte man sich bei Wagners. »Um halb elf kam Susanne, wir beide waren schon fertig, wir eilten in freudiger Aufregung, großem Eifer, Abschiedstrauer und fliegender Eile zur letzten Übung nach der Pastorenstraße .... Brahms war recht aufgelegt. Herr Avé hatte ein graues Männlein mitgebracht, niemand wußte, wer es war, doch sah es aus, als ob jeder ihn kennen müßte ... Herr Avé sagte: ›Wie wird er mir fehlen! doch wenigstens dreimal jede Woche war er bei uns, und so liebenswürdig!‹ Brahms setzte sich ans Klavier und fing an Bum, bum, mit der linken Hand, dann stand er auf, öffnete den Flügel, dann spielte er das Intermezzo aus seiner Ballade [soll heißen: aus seinen Balladen]. Dann einiges von Schumann. Aus den Phantasiebildern [Phantasiestücken], aus den Davidsbündler-Tänzen, aus den Kreisleriana, wohl acht verschiedene Sachen. Alle waren entzückt und begeistert. Wir zogen mit den Büchern unterm Arm ab. Thusnelda sagte mir: ›Du bist ja auch so ungeheuer eifrig!‹ Wir gingen fort. Avé, Brahms und das graue Männlein voran, elf Damen folgten. Camilla, Susanne brachten mich nach Haus, da aber niemand da war, ging ich mit ihnen zu Madame Brandt, Böckmannstraße 9, um das Tintenfaß anzusehen. Es gefiel uns allen sehr, Madame Brandt und Nichte aber auch. Wir hörten von den Damen, daß Brahms von allen Verlegern bestürmt wurde, seinen reichen Notenschatz dem Publikum zu übergeben. Wenn man bei Böhme, Jowien oder andern, Sachen von Brahms [365] fordert, haben sie nie etwas Ordentliches zu Hause und sagen: ›es soll besorgt werden.‹ – Ob sie überhaupt was haben?«

Zur letzten Aufführung in der Petrikirche am 26. September hatte sich ein größeres Auditorium von Bekannten und Freunden eingefunden. Die Damen waren alle in Schwarz erschienen, zum Zeichen ihrer Trauer. Als sein Psalm gesungen wurde, ging Brahms vom Chor hinunter in die Kirche, um zuzuhören. Das silberne Tintenfaß wurde ihm, unter Blumen versteckt, mit einem zierlichen anonymen Billet von der intellektuellen Urheberin der blinkenden Spende, »dem kleinen Fräulein aus Wien,« im Namen der andern zugeschickt, und der erfreute Empfänger bedankte sich dafür in einem offiziellen, an Friedchen Wagner gerichteten artigen Briefe. Wenn die eifersüchtigen Schwestern in Apoll eine Ahnung davon gehabt hätten, daß ihr Abgott den Umgang mit der von ihnen etwas über die Achsel angesehenen Fremden dem ihrigen vorzog, daß er ein häufiger Gast in der Böckmannstraße bei Tante Brandt war, und daß er endlich von Detmold aus einen Briefwechsel mit der Nichte unterhielt, der aus einem ganz anderen Tone ging, als das Dankschreiben an Fräulein Wagner – was würde Thusnelda dazu gesagt haben! Die kleine Wienerin war die siebenzehnjährige Tochter des Herrn Dr. Gustav Porubszky, ersten Pfarrers an der evangelischen Gemeinde Augsburgischer Konfession in Wien. Von dem musikalischen Talent ihres vielseitig gebildeten Vaters, der aus Preßburg stammte und sich mit einer Wienerin verheiratet hatte, war die Lust an Spiel und Gesang auf sie übergegangen, und da sie über einen hellen, reinen und kräftigen hohen Sopran gebot, der eine gründliche Ausbildung zu lohnen versprach, so wurde sie zu ihrer Tante nach Hamburg geschickt, um bei Grädener musikalische Studien zu treiben. Frau Brandt besaß in der Böckmannstraße ein kleines Haus mit Garten. Bertas Bruder war ihr dorthin vorangegangen; er sollte sich im kaufmännischen Wesen umtun, und wohnte, nach ihrer Bekanntschaft mit Brahms, bei dessen Eltern in der Hohen Fuhlentwiete. In guten Eigenschaften des Körpers und Geistes konnten sich gewiß andere mit ihr messen; aber Fräulein Berta hatte etwas, das sie vor ihresgleichen auszeichnete: sie war eine geborene Wienerin! Als solche stach sie [366] auffallend von den steifen und prüden norddeutschen jungen Damen ab, die, eingeschnürt und beengt von tausend Anstandslehren, Schicklichkeitsbegriffen und Wohlverhaltungsmaßregeln, vor der Ehe selten zur Entfaltung ihrer natürlichen Anmut gelangen. Berta Porubszky gab sich, wie sie war, ohne Hinterhältigkeit und ohne jede Spur von Ziererei und Gefallsucht. Gerade dadurch machte sie Eindruck auf den freiheits- und schönheitsdurstigen Sinn des Künstlers, und die Unbefangenheit ihres Verkehrs der von beiden Seiten ohne ernstere Nebengedanken gepflogen wurde, öffnete sein sonst so verschlossenes, gegen die Welt mit einem dreifachen Stachelpanzer bewehrtes Herz. Sie lernten einander bei einer von Grädeners veranstalteten Alsterpartie kennen. In Uhlenhorst wurde Blindekuh gespielt, Kegel geschoben und gesungen. Zum erstenmale hörte Brahms Wiener Volkslieder und oberösterreichische G'sangeln mit Juchezern und Jodlern, und er hörte sie von einer Stimme singen, die frisch und stark war wie die einer Sennerin, obwohl sie einem wohlerzogenen städtischen Pfarrerstöchterlein angehörte.


»Du moanst wohl, du moanst wohl,

Die Lieb laßt si zwinga?

Du glaubst wohl, du glaubst wohl,

I bin a so a Bua?

Du moanst wohl, du moanst wohl,

Mi wickelst um d'Finga,

Und denkst wohl und denkst wohl,

I lach noch darzua?

Doch glaub' mir, 's ist anderst,

Verlaß di darauf,

Zertrittst wo a Bleamerl,

Steht's nimmamehr auf.«


Das Baumannsche Lied blieb Brahms im Gedächtnis, und als Fräulein Porubszky längst Frau Faber geworden war und ihrem zweiten Knaben das Leben geschenkt hatte, schickte Brahms (im Juli 1868) dem ihm innig befreundeten Ehepaar sein weltberühmtes Wiegenlied »Guten Abend, gut' Nacht« »zu allzeit fröhlichem Gebrauch«. In der Begleitung ist die Melodie jenes Liedes:


9. Kapitel

[367] fast notengetreu enthalten; die Singstimme bringt einen frei erfundenen Kontrapunkt hinzu. In seiner, schon von Robert Schumann angeregten Sehnsucht nach Wien wurde Brahms durch die singende Inkarnation liebenswürdigen Wienertums mächtig bestärkt. Seine Freundin Berta erschien ihm wie eine Sendbotin der österreichischen Kaiserstadt, welche die Mission hatte, ihn ganz für sie zu gewinnen.

In der allerbesten Laune und in der produktivsten Stimmung kam Brahms in Detmold an. Er fühlte sich vorerst der Natur wiedergegeben und mit ihr dann auch seiner Kunst, da ja beide so innig miteinander verbunden waren. Wie ihm zu Mute war, läßt ein an Tante Auguste und Nichte Berta zugleich gerichteter Brief erkennen, in dem es u.a. heißt:

»Eigen war mirs, als ich diese schön bewaldeten Höhen wiedersah und in den herrlichen Wald hineinging. Seit einem Jahr sah ich so schöne Natur nicht; viel hat sich seitdem geändert. Doch war ich ganz selig; ich dachte nur Musik.

Ich bin verliebt in die Musik, ich liebe die Musik, ich denke nichts als sie und nur an anderes, wenn es mir Musik schöner macht. Passen Sie auf, ich schreibe wieder Liebeslieder, und nicht an A–Z, sondern an die Musik.

Wenn das so fortgeht, kann ich zu einem Accord verduften und in die Lüfte verschweben.

Den letzten Abend in Hamburg hatte ich sehr große Freude. Ich glaubte zu wissen, woher Schrift und Blumen kämen, doch schrieb ich aus mehreren Gründen an Fräulein Wagner.

Ei, für solch Geschenk mag ich arbeiten, ich wollte und wünschte, es gäbe keine anderen Honorare.«

Fräulein Berta hatte ihm geklagt, daß sie in der Musik so langsam und unmerklich fortschreite, und ihr Freund gab ihr den heiteren, etwas skeptischen Trost, sie würde, wenn sie auch marschierte, bis sie der besten Dilettantin in Hamburg gleichkäme, doch noch nichts mehr vom »Musikdome« sehen, ja, wenn sie selbst den riesenhaften Schritt bis zu Grädeners oder seiner eigenen Weisheit machte, wohl gar nicht merken, daß sie klüger geworden sei. Auf das Wie, nicht auf das Wieviel komme es an.

Das Werk, mit welchem Brahms in Detmold spazieren ging, [368] und welches ihn so mit Musik erfüllte, daß er zu einem Akkorde zu verduften und in den Lüften zu verschweben fürchtete, war seine Serenade in A-dur. Drei verschiedene Kräfte haben auf das reizende, zarte und originelle Tongebilde eingewirkt und im Stillen daran mitgearbeitet: der Teutoburger Wald, der fürstlich Lippesche Hof-Bläserchor und die hübschen Hamburger Sängerinnen. Entwürfe zu dieser zweiten Serenade, die ihren Namen mit mehr Recht führt als die erste, waren bereits im vorigen Jahre in Detmold entstanden. Brahms hatte die in seinem Zimmer »Zur Stadt Frankfurt« vergessenen Skizzenbücher sich von Bargheer durch Fräulein v. Meysenbug nachschicken lassen und schon in Hamburg Anstalten gemacht, damit in Ordnung zu kommen, hatte sich aber dann die »unproduktive« Zeit mit geistlichen Kompositionen und der Bearbeitung von Volksliedern vertrieben, die er für seinen Frauenchor einrichtete. Nun stürzte er sich mit wahrer Leidenschaft auf die Komposition. Selten ist er so froh am Werke gewesen, und selten war er in eines seiner Geisteskinder so zärtlich und so andauernd verliebt wie in diese brünette Schwester ihres blonden Bruders [Kretzschmar]21. Im Gegensatz zu der D-dur-Serenade – denn sie ist mit dem blonden Bruder gemeint – hat die inA-dur einen weiblichen Charakter. Ihr eignet die weichere und abgerundetere Form, das blühendere Kolorit und die tiefere Seele. Von dem knabenhaften Trotz und Mutwillen der burschikosen Renommier- und Randallersucht à la Florestan, von der [369] starkknochigen Unbändigkeit des Bruders ist nichts in ihr zu finden. Der Wildfang, der im Vivace ihres Scherzos tobt und den Dreiviertel- gern in den Zweivierteltakt verkehren möchte, läßt lange Kleider fliegen, und das von Klarinetten, Fagotten und Hörnern geblasene sehnsuchtsvolle Trio verrät, wie weh dem weiblichen Kobold manchmal inmitten aller Fröhlichkeit ums Herz ist. Erkennen wir in dem durchaus vollendeten Werk die Krone und das Meisterstück der (damaligen) Brahmsschen Instrumental-Schöpfung, so erlauben wir uns die Analogie mit der Erschaffung des Weibes noch weiter auszudehnen und darauf hinzuweisen, daß der Instrumentalkörper des Werkes aus dem Anfange des Adagios der D-dur-Serenade entstanden sein mag, wie Eva aus der Rippe Adams. Dort beginnen die tiefen Saiteninstrumente (Violen, Violoncelle und Bässe) mit den Fagotten ihren Gesang. Der frappierende dunkle Klang lag Brahms noch im Ohre, als er sein neues Werk begann und ihn verführte, die Violinen gänzlich von ihm auszuschließen. Dadurch wird ein eigentümlicher Klangzauber über das Ganze hingegossen, der besonders in den langsameren Sätzen, dem Adagio, dem Quasi Menuetto und dem Allegro moderato, von ergreifender Wirkung ist. Im Hauptteile des Scherzos und im Rondo des Finales vermißt der Zuhörer den hellen Ton der Geigen, der hier nicht nur zur Verstärkung des Kontrastes, sondern auch zur Erhöhung der diesen Sätzen innewohnenden [370] Lebhaftigkeit beitragen würde, und die Konsequenz, mit der das sorgfältig erwogene Ausdrucksmittel angewandt wird, muß es sich gefallen lassen, Eigensinn genannt zu werden.

Wer die fünf Sätze des Werkes abwägt, wird keinen zu leicht befinden; jeder von ihnen wiegt einen ganzen Meister auf, und alle sind voll süßer Melodie. Das Adagio singt die schmerzlichste Klage ewig unerfüllbarer Liebessehnsucht; frei möchte sich die Melodie der Bläser emporschwingen, um an das in lockende Nähe gestellte Ziel zu gelangen; aber ein im Dunkel hinschleichender, seine eintönige Weise immer wiederholender obstinater Baß hält sie gebunden. Achtmal auf verschiedenen Tonstufen wird die unheimliche Weise des erbarmungslosen Schicksalsspruches von den Streichern wiederholt:


9. Kapitel

Ein Fortissimo-Aufschrei der Instrumente:


9. Kapitel

beantwortet Spruch und Klage. Die Harmonie wendet sich von a-moll nach As-dur, die Bratschen geraten in eine sanft oszillierende, wellenartige Bewegung, und der durch himmlischen Wohllaut ausgezeichnete Gesang der Bläser wird von einem Hornsolo eingeleitet; es klingt wie kräftig ermunternde Freundesrede:


9. Kapitel

Man möchte der Melodie Worte unterlegen, und es ist, als hörte man den Tonfall einer bekannten Stimme. Das


9. Kapitel

[371] wird motivisch verwendet und erscheint in ein


9. Kapitel

vergrößert im Baß der Hörner, dazu bringen die Oboen und die erste Klarinette eine aus der Umkehrung des »Schicksalsspruches« entwickelte figurierte Melodie:


9. Kapitel

In dem c-moll-Teile, welcher der Rückkehr des a-moll-Satzes vorangeht, treten dann Thema und Umkehrung als Subjekte eines Doppel-Fugatos einander entgegen:


9. Kapitel

Mit der Ermattung des Herzens, das seiner Klage müde wird, hört zuletzt der Widerstand der obstinaten Untermelodie auf; sie scheint wie gebrochen in den Pizzikatofiguren der Bratschen und Violoncelle:


9. Kapitel

geht noch eine Weile legato in den Baßgeigen mit, bis auch diese zu pizzicieren anfangen, und alles pianissimo erstirbt. Der Analytiker findet in den anderen Sätzen der Serenade ebenfalls reiche Ausbeute. Nicht immer liegen die thematischen und motivischen Beziehungen zwischen den Haupt- und Nebenteilen des[372] Werkes so deutlich am Tage wie hier. Je weiter Brahms in seiner Kunst fortschreitet, desto schwerer ist er in seiner Arbeit zu kontrollieren; oft erhält man das sichere Gefühl einer verborgenen thematischen Einheit, ohne deren Vorhandensein direkt nachweisen zu können. Die Zwischenglieder und tertia comparationis sind unterdrückt oder ausgeschieden, und zwar wahrscheinlich schon von der formbildenden Phantasie des Künstlers selbst, der, seit er im stande ist, so gesetzmäßig und so leicht wie die Natur zu produzieren, sich mit demselben Vertrauen dem unbewußten Walten seines Genius überläßt, mit dem wir seinen Meisterwerken folgen. Die Durchführung im ersten Satze der Serenade und dessen sehr ausführliche Koda, welche zuletzt die beiden Hauptthemen eng zusammenführt, lassen eine solche Fülle gestaltungsfroher Erfindung ahnen, daß das Verlangen, diesem Reichtum von Gedanken auf den Grund kommen zu wollen, vor seiner Vermessenheit erschrickt. Wieviel Anmut, Geist, Gefühl, Geschmack und Phantasie sich von der Hand eines Meisters im kleinsten Raume zusammendrängen läßt, zeigt das »Quasi Minuetto«. Das ist konzentrierte Musik, wie ein Goethesches Gedicht konzentrierte Poesie ist; eine schwache Dosis davon würde hinreichen, um die Wassersuppen erfindungsarmer Komponisten in Kraftbrühen zu verwandeln. Im Trio führt Brahms mit den Flöten das Thema des Menuetts gegen die neue, den Oboen zugeschriebene Melodie und erweckt ihm zugleich im Pizzicato der Violoncelle ein kanonisches Echo. So vermag der Musiker, und von allen Künstlern er allein, kontrastierende Stimmungen gleichzeitig auszudrücken und harmonisch zu vereinigen. Das Finale hat den Quartenschritt, mit dem das Hauptthema des ersten Satzes beginnt:


9. Kapitel

als Signalruf an seine Spitze gestellt:


9. Kapitel

Es ist, als ob jemand Herein riefe: Durch die geöffnete Türe kommt es zierlich getrippelt und geschwänzelt wie ein Schwarm bunter [373] Tauben oder – reizender Mädchen, die sich im Fluge zum Reigen verbinden; einzelne Gruppen bilden sich, und eine Auserwählte ergreift zuerst das Wort zu einer beziehungsvollen Ansprache:


9. Kapitel

Andere lösen sie ab und sie werfen einander das Motiv:


9. Kapitel

wie einen Ball zu, bis sie der wiederholte Signal- oder Kommandoruf zum Stillstehen bringt. Aber das muntere, leichtbeschwingte Völkchen ist nicht zu halten; sein lustiges Getümmel fängt gleich wieder von neuem an. Im Verlaufe der Durchführung entdeckt die Gesangsmelodie eine unvermutete Passion für den Mollcharakter:


9. Kapitel

und das Hauptthema wird durch Augmentation sentimental:


9. Kapitel

Wie lustig! Die von Frau Lenz geschilderte Szene in der Petrikirche oder ein ähnliches heiteres Lebensbild des Hamburger Sommers tritt uns vor Augen.

Während sein Souverän in Detmold weilte, bestand der Hamburger Frauenchor als Republik weiter, und Brahms erhielt durch gelegentliche Zusendungen neubearbeiteter Volkslieder das Interesse an den Singübungen wach und warm. Daß er von den Damen, ob sie nun Völckers oder Wagner oder sonst wie heißen, nicht erst zur Chorkomposition veranlaßt wurde, bedarf keines umständlichen Nachweises. Wir brauchen nur an das Ave Maria, an die aus den Studien mit Joachim hervorgegangenen Kanons (geistliche Gesänge und die fünfstimmige Messe in kanonischer [374] Form), nur an das Cornetsche Frauenquartett und die Winsener Liedertafelrunde aus der Knabenzeit und an den Einfluß zu erinnern, den der Detmolder Singverein auf seinen Dirigenten ausüben mußte, um dieses Nachweises überhoben zu sein. Das Benedictus der genannten Messe hat sich, wie schon im Kap. VII erwähnt worden, in einem der Stimmenbücher aufgefunden; es fehlt in dem von Hübbe angelegten »Verzeichnis der Gesänge des Frauenchors, deren Tonsätze in noch vorhandenen Stimmheften abschriftlich enthalten sind«. Die Stimme (zweiter Sopran) lautet:


9. Kapitel

Brahms nahm den Kanon in modifizierter Form in seine Motette »Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen?« (op. 74, Nr. 1) auf. Deren zweiter Teil beginnt:


9. Kapitel

Einen noch wertvolleren und wichtigeren Fund verdanken wir einem anderen dieser Stimmenhefte, von denen uns im ganzen vier zur Durchsicht vorlagen: einen Frauenchor mit Sopransolo, »Brautgesang« betitelt. Das Gedicht ist von Uhland und beginnt mit den Versen:


[375] »Das Haus benedei' ich und preis' es laut,

Das empfangen hat eine liebliche Braut;

Zum Garten muß es erblühn.«


Im Briefwechsel zwischen Brahms und Grimm22 spielt das Stück seine besondere Rolle. Brahms schickte es im Spätherbst 1858 von Detmold nach Göttingen, und Grimm mochte die erste Strophe des Uhlandschen Textes für eine prophetische Anspielung auf die Zukunft Agathens genommen haben Ihm gefiel der »Brautgesang« ohne Braut nicht. Andere Uhlandsche, von Brahms damals komponierte Lieder (ausop. 19) erfüllten sein Herz so sehr, wie er sagt, daß das Brautlied keinen Platz darin fand. Brahms pflichtete ihm bei, nannte es »schändlich gewöhnlich und matt« und legte es beiseite. An Grimm aber schrieb er: »So ein armer Komponist sitzt traurig und allein auf seiner Stube und schwindelt sich zu Sachen hinauf, die ihn gar nichts angehen, und so ein Rezensent setzt sich zwischen zwei schöne Frauen nieder und – ich mag mir's gar nicht weiter ausmalen ...«

Die dem Solosopran zugeschriebene Komposition der Anfangsstrophe lautete:


9. Kapitel

[376] An die Introduktion schloß sich più allegro ein Chorsatz, dem es an bescheiden malenden Zügen nicht fehlte. Nach der Durchführung des Themas:


9. Kapitel

wiegten sich die Stimmen (»Wie Nachtigallen locket die Flöte, und es springet des Weines goldener Bronn«) auf einer an die A-dur-Serenade anklingenden Melodie:


9. Kapitel

und der Vers »Aus dem Brautgemach tritt eine herrliche Sonn'«, erhielt von der Musik eine Anschaulichkeit, als stammte er direkt von Haydns Schöpfungs-Rezitativ ab:


9. Kapitel

Aber nicht um an diesen anmutigen Einfällen zu zeigen, ein wie seiner Tonmaler der Komponist sein konnte, haben wir den dürftigen Rest eines leider verlorenen Chorwerkes, eines Torsos, der manchen Komponisten zu nachschaffender Ergänzung reizen könnte, aus dem Dunkel seines vergilbten, von zierlicher Frauenhand geschriebenen Heftes ans Licht gezogen, sondern eines anderen, viel merkwürdigeren Umstandes wegen. Wer in Brahms' Liedern auch nur oberflächlich Bescheid weiß, wird in dem Fragment der oben mitgeteilten Solostimmen sofort die Beziehung zu seinem herrlichen Liede: »Von ewiger Liebe« erkannt haben. Die liebliche Stelle:


»Spricht das Mägdelein, Mägdelein spricht:

Unsere Liebe, sie trennet sich nicht!«


[377] leitet jene Melodie ein. Läßt man ihren Auftakt weg und beginnt mit der Thesis, so deckt sie sich nahezu mit den Versen:


»Eisen und Stahl, man schmiedet sie um,

Unsere Liebe, wer wandelt sie um?«


Selbst die beiden kurzen Vorschlagsnoten fehlen nicht. Eben diesen Vorschlag haben wir immer als einen besonders glücklichen Einfall des Meisters bewundert; denn er gilt uns für keine bloße Verzierung; das Mädchen ist seines unerschütterlichen Gefühls, der Ewigkeit ihrer Liebe, so gewiß, daß sie sich getrauen darf, über den Gedanken einer möglichen Wandlung zu lächeln, einen Moment mit ihm zu spielen. Hätte Brahms dies nicht ausdrücklich wollen, so würde er gerade an dieser bedeutsamen Stelle den Ernst der Situation nicht durch den Schnörkel ins Scherzhafte gezogen haben; der spielerische Scherz aber dient in diesem Falle nur dazu, um den Ernst noch zu vertiefen. Hier begegnet uns eines jener überzeugenden Beispiele, welches lehrt, wie vage und dehnbar die Begriffe musikalischer Ausdrucksfähigkeit sind, und wie bedenklich es um das Prinzip eines »höchst bestimmten musikalischen Ausdrucks« steht.

Handelt es sich hier um ein Selbstzitat, und war das Lied »Von ewiger Liebe« damals schon komponiert – wer will es entscheiden!? Woher es aber gekommen, daß der »Brautgesang«, wie es scheint, nur in einem einzigen Stimmenhefte des Frauenchors kopiert war, erklärt sich wohl daraus, daß die Solosängerin die einzige war, der Brahms erlaubte, ihre Stimme aus seiner Partitur abzuschreiben, und daß wohl überhaupt nicht alle Mitglieder des Chorvereines bei jener Feier beteiligt waren, zu welcher Brahms das Stück komponierte. Fräulein Franziska Meier war vielleicht die erste, die ihren Vereinsschwestern mit dem schlechten Beispiel der Abtrünnigen voranging, aber sie war auch nicht die letzte, die sich einen Mann nahm. »Als sich im Sommer 1861,« schreibt sie, »ein Mitglied des Frauenchors nach dem andern verlobte«, sagte Brahms: »Was soll denn das, ich habe doch kein Heiratskontor!« Der gestrenge Dirigent mußte aber nicht allein gute Miene zum bösen Spiele machen, sondern obendrein noch Braut- und Wiegenlieder komponieren, die er so gerne zu »eigenem Pläsier und allzeit fröhlichem Gebrauch« verfertigt hätte. Los des Dichters!


[378] »Die Blüte der Freude

Bracht' ich seitdem

Den Gästen zum Mahle,

Zum Herde dem Glücklichen,

Der Braut zum Feste,

Freudlos selber ...«

(Geibel.)


Aus den Aufzeichnungen der Frau Franziska Lentz erfahren wir auch, daß Brahms keinen besonderen Wert auf die Arbeiten legte, welche er für seinen Frauenchor zu stande brachte. Frau Lentz war eine eifrige und ordnungsliebende Sammlerin dieser Schätze; sie trug »aus den einzelnen Stimmen alle dreistimmigen Sachen in ein Buch zusammen, in ein anderes alle vier- und mehrstimmigen, dann die Sachen mit Begleitung in ein drittes Buch«, um für ihren kleinen Chor, den sie später in Kuxhaven um sich scharte, mit Literatur versorgt zu sein. Damit kam sie Herrn Hübbe zuvor, der sich derselben dankenswerten Mühe unterzogen hat. Da sie sich nun ein Gewissen daraus machte, das fremde Gut für ihre Privatzwecke zu benutzen, so ließ sie durch ihre Schwester – die »Bälgetreterin« Kamilla – bei Brahms anfragen, was er dazu sage. Er antwortete, daß den Damen herzlich gern alles von den gewünschten Sachen gegönnt sei, »was sie sich selbst verschaffen können.« Er selbst besitze keine Note und wisse auch nicht, wer etwas davon bewahrt haben mag. Sein leider etwas unstetes Leben hindere ihn zu öfterem Bedauern, derlei Andenken an hübsche musikalische und gesellige Freuden zu bewahren. Voilà tout.

Dieße Äußerung läßt erkennen, wie gering er von der Mehrzahl jener drei- und vierstimmigen Volkslieder-Bearbeitungen dachte. Nicht einmal neugierig darauf war er, sie wiederzusehen. Sie galten ihm soviel wie ein welkes Vergißmeinnichtsträußchen, ein paar Haarlocken oder Busenschleifen, von denen er weder wußte noch wissen wollte, wer sie ihm einmal gegeben hat. So undankbar sind die Künstler! Hübbe wirst die Frage auf, warum wohl Brahms anno 1894 dieselben Volkslieder nicht wiederum für mehrstimmigen Satz, sondern für Solovortrag mit Klavierbegleitung bearbeitet habe, und sucht diese Tatsache damit zu erklären, daß Brahms, »sei es in bewußter Überlegung, sei es in unbewußtem praktisch künstlerischem Empfinden, diese letztere [379] Form für weitere Kreise, besonders auch für die Hausmusik (in der die Pflege mehrstimmigen a capella-Gesanges leider bedenklich im Schwinden begriffen ist) als die geeignetere ansehen mußte, um das Volkslied in der Sphäre des modernen Kunstgesanges einzubürgern.« Den wahren Grund seines Verfahrens, aus dem Brahms gegen niemand ein Geheimnis machte, hat Max Friedländer in seiner Abhandlung »Brahms' Volkslieder«23 angegeben. »Als Ludwig Erks ›Deutscher Liederhort‹, schreibt Friedländer, im Jahre 1893, um das Fünffache vermehrt, in ebenso unkünstlerischer wie unwissenschaftlicher Weise umgearbeitet wurde, brach in Brahms der Unwille gegen die philiströse Art des Herausgebers Franz Magnus Böhme hervor, und er entschloß sich unverzüglich zu der würdigsten Art der Polemik, die ein Künstler wählen kann: der schlechten Tat eine andere, wenn möglich bessere, entgegenzusetzen.« Damit stimmt der Geleitbrief überein, mit welchem Brahms die sieben Hefte seiner Volkslieder an Deiters in Koblenz abschickte. »Meine jetzige Sendung,« heißt es darin, »geht auch den Rhein an, es sind Volkslieder, die größtenteils daher stammen. Eigentlich ist diese meine Sammlung das – was von einer großen Streitschrift gegen Böhme übrig geblieben ist, an dessen Büchern ich ungemein viel auszusetzen habe. Diese meine Beispiele sprechen jedoch nur von dem einen: daß ich mich für die gar so philiströsen Texte und Melodien, wie sie seit Erk so geflegt werden, nicht interessieren kann; ich zeige solche Gedichte und Melodien, die mir schön und gut erscheinen und seit längster Zeit lieb und wert sind.«

Was Brahms von seinen Kompositionen erhalten wünschte, was ihm wert und wichtig genug dünkte, um aufbewahrt zu werden, legte er in seine Mappen und gab es gelegentlich in Druck, so die zwölf Lieder und Romanzen für Frauenchor op. 44, sieben von seinen vierstimmig gesetzten Deutschen Volksliedern, die Harfenlieder op. 17 u.a.m. Daß ohne die künstlerische Anregung des Hamburger Damenkränzchens Werke, wie der 13. Psalm und die Gesänge op. 17, vielleicht auch die Marienlieder op. 22 u.a.m kaum entstanden wären, bleibe den lieben Damen unvergessen. [380] Nicht weniger hoch aber soll es ihnen angerechnet werden, daß sie durch ihre reine Begeisterung das erschütterte Selbstgefühl des jungen Künstlers hoben und ihn in einer kritischen Periode seines Lebens vor Menschenhaß und Verbitterung bewahrten.

Von dem Detmolder Chor, mit dem er in gewohnter Weise exerzierte, sehnte sich Brahms bald nach seinen Hamburgerinnen zurück, und schon im Oktober begann er trotz der schönen Waldpartien über sein glänzendes Elend bei Hofe zu seufzen. Zum zweitenmale konnte ihm vor seiner Doppelgängerei mit E.T.A. Hoffmanns Johannes Kreisler bange werden; die Gestalten um ihn mochten ihn in fataler Weise an den Fürsten Irenäus, die Hofrätin Benzon, Julia und die Prinzessin Hedwiga im »Kater Murr« erinnern. Das schöne Detmold hatte eine verwünschte Ähnlichkeit mit Sieghartsweiler!

Nachdem er die Partitur der Serenade zu Ende geschrieben hatte, wäre er gern gleich wieder an ein anderes Werk gegangen – lag doch so vieles unausgeführt da! Aber seine Pflichten hielten ihn beständig in Atem, und es verstimmte ihn, daß er das Feuer, von dem er eben noch so schön geglüht, erkalten lassen mußte. Auch seinen Freund Joachim vermißte er mit Schmerzen. Noch von Hamburg aus hatte er ihm nach England geschrieben, es sei wohl närrisch von ihm, wenn er darüber grüble, ob Joachim seine Zeit unnütz vertue oder sich durch Konzertspielen abspanne. Aber weniger närrisch sei es, wenn er ganz sentimental werde bei dem Gedanken, daß er den Freund nicht im Winter sehen könne und, falls die englische Passion so fortgehe, im Sommer auch nicht mehr. Und in Detmold klagte er, daß er dort sitzen müsse, und daß Joachim gar nicht ans Heimkommen denke. Er hatte ihn sogar im Verdacht, daß er sich in England verheiraten wollte, und war eifersüchtig auf die Lady bride. Jeden Sommer nehme er sich vor, länger in Detmold zu bleiben und recht viel von seiner Stellung zu lernen. Wäre er aber da, so meine er, es müsse das letztemal sein. »Ich will,« ruft er aus, »nicht mehr Egoist werden, als ich bin, und hier muß ich gar in mich hineinmusizieren!« Daß er sein »Ave Maria« von den Prinzessinnen und deren Gefolge singen hörte, scheint ihm ein mäßiges [381] Vergnügen bereitet zu haben. Desto mehr reizte ihn ein doppeltes Anerbieten von Grädener und Otten, die sich um Novitäten von ihm und seine Mitwirkung in ihren Konzerten bewarben. Brahms sagte zu, am 2. Dezember im ersten der beiden Abonnementskonzerte der Grädenerschen Akademie das Schumannsche Konzert zu spielen und außer dem Ave Maria noch einen »Grabgesang« eigener Komposition aufzuführen. Unter dem »Grabgesang«, der auf Grädeners Konzertprogramm als »Gesang beim Begräbnis, für gemischten Chor und Orchester« erschien, ist der »Begräbnisgesang« op. 13 zu verstehen. Im Konzertsaal, wo man ohne besondere Veranlassung nicht gern an Tod und Sterben erinnert werden will, ist ein solches »Leichengedicht« schwerlich an seinem Platze. Aber Grädener ließ den Freund gewähren, weil diesem gar so viel daran gelegen war, sein Werk erklingen zu hören. In Detmold verbot sich vorläufig eine Probe von selbst, da Kiel seine Bläser nur hergeben wollte, wenn der Fürst die Aufführung befahl, was erst im nächsten Jahre geschah24, Brahms aber dem Durchlauchtigsten nicht ohne weiteres ansinnen durfte, ein Grablied zu singen, ohne daß wenigstens eine der obersten Hofchargen das Zeitliche gesegnet hätte. Ja wenn die alte Hofdame, die im vorigen Jahre mit Tod abging, ein wenig später gestorben wäre! Ihr Todesfall war mit einigen andern in Hannover und Göttingen, von denen Brahms nicht tiefer berührt wurde, zusammengetroffen. »Dies Jahr (1858) sterben wohl mehr Menschen wie gewöhnlich,« hatte er gleichmütig bemerkt; aber das allgemeine Schicksal unserer armen, zum Tode verurteilten Menschheit ging ihm doch näher als sonst, und er komponierte sein schönes Begräbnislied zu dem kernfesten Texte des Schlesiers Michael Weisse. Wie Ophüls nachweist, hat Brahms das Gedicht aus Wackernagels »Deutschem Kirchenlied« genommen. Schade, daß er es nicht in der ursprünglichen [382] Fassung des fliegenden Blattes von 1541 kannte, er hätte sie sonst gewiß beibehalten:


»Nu laßt uns den Leib begraben,

Daran gar kein Zweifel haben,

Er wirt am jüngsten Tag aufsten

Und unverweslich herfür gen u.s.w.«


Die schauerliche, totengräbermäßige Gleichgiltigkeit, welche im Hinblick auf das Ewig-Unverwesliche des von Christus erlösten und verklärten Leibes die Beerdigung der schlechten Erdenhülle wie ein Geschäft betreibt und darüber gelassen zur Tagesordnung übergeht, hat in der Musik einen wahrhaft großartigen Ausdruck gefunden, zugleich aber auch der unerschütterliche Glaube an die christliche, den Tod überwindende Liebe. »Ich kenne nichts, was durch Knappheit des Ausdruckes nachhaltiger wirkte als dieser Gesang. Mit unerbittlichem, fast gleichmütigem Ernst, dem unabwendbaren Schicksal gleich, schreitet die einfache, eintönige Weise in der Bewegung eines Trauermarsches dahin. Die den Chor begleitenden Instrumente sind nach Gattung und Zahl auf das Notwendigste beschränkt, ihr Klang ein Gemisch von Grellem und Feierlichem. Im Trio keine sanfte Klage, kein zerfließendes Gefühl sondern der Trost, den die Gewißheit einstiger Erlösung vom Lebensleid in ein Mannesherz senkt. Die Melodie durchaus volksliedartig, jeder Ton wie gemeißelt.« Wir haben dieser klassischen Charakteristik Spittas nichts hinzuzufügen. Die Instrumentation des Begräbnisliedes war anfänglich eine umständlichere; denn Brahms schrieb am 18. März 1858 an Joachim, er habe seinen Grabgesang prächtig instrumentiert, er sehe ganz anders aus, seit er die ungehörigen Bässe und Celli gestrichen habe. Deiters rühmt das Werk als Vorläufer des Requiems; noch mehr scheint es uns auf den ersten der »Vier ernsten Gesänge« (»Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh«) hinzudeuten. Aber der Gelehrte hat recht, den Begräbnisgesang und andere zu jener Zeit entstandene geistliche Gesänge unter jenem Gesichtswinkel zu betrachten. »Sie zeigen,« sagt er, »ebenso sehr die Genialität wie den eisernen Willen, mit welchem Brahms der für diesen Stil überlieferten strengen Formen sich bemächtigt und in allen Gebieten seiner Kunst die Herrschaft sich zu sichern bestrebt ist. Sie zeigen, was oft nicht [383] beachtet wird, daß seine größte Schöpfung auf diesem Gebiete, das Deutsche Requiem, keineswegs ohne Vorstufen ist, sondern Schlußpunkt einer bewußten und naturgemäßen Entwicklung.« – Der Totenmarsch des Requiems wurde damals komponiert.

Wie in dem Begräbnisgesange, so griff Brahms auch in den im Juni und Juli 1859 zu Hamburg komponierten »Marienliedern«, den beiden »Motetten für 5-stimmigen gemischten Chor a capella« (August 1860) und den mehrfach erwähnten »Drei geistlichen Chören für Frauenstimmen ohne Begleitung« (Nr. 1 und 2, komponiert im Mai 1859, Nr. 3 im Dezember 1863 in Wien), auf Bach und über ihn hinaus auf ältere Vorbilder deutscher und italienischer Schule zurück. Bei einigen dieser Stücke überwiegt die Lust, sich in den Geist und Stil der alten Zeit zu versetzen, die originale Schöpferkraft des Komponisten. Alle aber, auch die an die Gesänge der Sixtinischen Kapelle gemahnenden, fast wie ein allgemeiner höherer musikalischer Begriff wirkenden »Drei geistlichen Chöre«, oder das Benediktus der kanonischen Messe, haben es keineswegs mit der bloßen Nachahmung eines ad acta gelegten, historisch überwunden Kirchenstils zu tun. Nicht auf Täuschung zielen sie ab, wie eine solche etwa von einem geschickten Fälscher zum Ergötzen der Musik-Archäologen hervorgebracht werden könnte, sondern sie wollen für Versuche gelten, das, was von einer reichen, wunderbar entwickelten und als unwiderbringlich verloren beklagten Kunst lebensfähig erscheint, wiederherzustellen und zu erhalten. Brahms verleugnet bei aller Gebundenheit und Strenge des Satzes, bei aller Reinheit der Harmonie, bei aller künstlichen Komplikation der Stimmführung doch nirgends den Sohn der Gegenwart; vielmehr kehrt er den modernen Komponisten, wo es ihm zweckmäßig vorkommt, ganz ohne Zwang und Beschwer heraus. Nur er selbst tritt dabei mit seiner Individualität völlig zurück, als überlasse er es einer religiösen Gemeinde, sich mit ihrem Gott in Rapport zu setzen, und gebe ihr nur die Mittel zur Hand, dies zu tun. Daß er den Inhalt jener Gesänge nicht als Kredo seiner Überzeugung im Munde führte, die mit irgend welchem wie immer formulierten kirchlichen Dogma niemals zusammenfiel, sondern den heiligen Text rein als Gegenstand und Stoff für seine künstlerische [384] Darstellung behandelte, ist vielleicht nicht überflüssig zu bemerken.

Wer den Künstler auf sein Glaubensbekenntnis prüfen und nach diesem entscheiden will, ob seine Kunst zur Erweckung und Erbauung des Gemütes tauge oder nicht, mag ein rechtschaffener Katechet sein, vom Wesen der Kunst aber hat er eine falsche Vorstellung. Nicht darauf kommt es an, ob der Maler an die Madonna glaubt, die er malt, sondern darauf, ob er sie so malen kann, daß andere an sie glauben. Mit der wunderbaren Kraft seines Gemütes und dem kühnen Schwunge seiner Phantasie vermochte Brahms tiefer in die Geheimnisse religiöser Mystik einzudringen als der Berufene und der Erleuchtete; Stellen seines Requiems bezeugen es. Und daß seine Musik stark genug war, um den Gläubigen den Himmel zu erschließen, beweist der Anteil, den die Geistlichkeit verschiedener Konfessionen an ihr nahm. Der katholische »Chorwächter«, eine gemeinverständliche »Volkszeitung für Kirchenmusik«, schrieb in Nr. 12 des dritten Jahrganges vom 1. Dezember 1878 über die drei geistlichen Chöre für Frauenstimmen, der Komponist habe in diesen polyphon gehaltenen, ziemlich kurzen Motetten den strengsten Kirchenstil gewahrt. »O bone Jesu« sei ein sehr weihe- und ausdrucksvoller Satz; das »Adoramus« schlage mehr den Ton der in der Glückseligkeit der Erlösung hocherfreuten Seele an, während das »Regina coeli«, für Sopran- und Altsolo mit jubelnd einfallendem Frauenchor komponiert, ein Aufflammen der hellsten Osterfreude darstelle, wie man sie lodernder kaum denken könne. Alle drei Stücke seien so wertvoll und würdig, daß ihrer Aufführung beim Gottesdienste nicht nur gar kein liturgisches Bedenken entgegenstehe, sondern von diesem, wie vom Standpunkte der Kunst aus gleich belobt werden müsse. Und in einer anderen Nummer desselben »Organs des schweizerischen Cäcilienvereines« ist zu lesen: »O wie viel kirchlicher, ernster, künstlerisch wundervoller ist die weltliche Musik eines Brahms als fast alles, was die Vertreter des sogenannten ›schönen Stils‹ für die Kirche geschrieben!!! Diesen Satz sollte man Tag und Nacht unsern ... predigen.«

Bei den Solostimmen der Marianischen Antiphonie, die einen schwierigen Kanon in der Umkehrung zu singen haben und [385] sich von dem mit Halleluja einfallenden Chor nichts träumen lassen dürfen, hat der Komponist eher an Engel- als an Menschenstimmen gedacht, und auch sonst stellt er die Treffsicherheit seiner Sängerinnen auf eine harte Probe. Zu dem »Adoramus« ließ sich Brahms von der über denselben Text des römischen Breviers geschriebenen Musik Corsis inspirieren, die er in Hamburg auf der Bibliothek fand, wie er zu seinen »Marienliedern« von dem schon 1854 in Düsseldorf notierten Johann Eccardschen Liede »Übers Gebirg Maria geht« angeregt worden sein mag. Die »Marienlieder« bewegen sich anmutig auf der Grenze geistlicher und weltlicher Kunst und neigen sich mehr der zweiten zu. In ihnen werden mit dem glücklichsten Gelingen Tonformen des sechzehnten Jahrhunderts erneuert, von denen mit Sicherheit kaum zu sagen ist, ob sie vom Volke zu den Gebildeten hinauf oder von den höheren Ständen zum Volke hinuntergelangt sind, wie es überhaupt in vielen Fällen seine Schwierigkeiten hat, zwischen Volks- und Kunstlied genau zu unterscheiden. Ihrer populären Wirkung sind sie alle sicher, sobald das Ohr sich einmal an die altertümlichen Harmonien mit ihren Folgen reiner Dreiklänge gewöhnt hat.25 Um ihnen einen besonderen Klangcharakter zu geben, wollte Brahms den Baß anfangs ausschalten und dem Tenor die tiefste Stimme zuerteilen. Später kam er von dieser Absicht zurück und setzte die Lieder in den gewöhnlichen gemischten Chor um. »Marias Kirchgang« zeigt noch mit seinen zwei Sopranstimmen die frühere Einteilung; der Baß tritt hier nur bei dem Glockengeläut hinzu. Die vom Text gebotenen charakteristischen Unterscheidungen sind ziemlich allgemeiner Natur; der Komponist wollte nicht subtiler sein als der Dichter. Den Wechsel zwischen lyrischer und epischer Darstellung läßt er sich nicht entgehen, hebt in »Marias Wallfahrt« die spruchartige Schlußmoral durch gedehnte Rhythmen hervor und erreicht sogar in »Marias Kirchgang« bei der Stelle, wo das Glockenwunder eintritt, auf ebenso einfache wie geistreiche [386] Weise eine Art von malerisch-dramatischer Wirkung. Die Stimmen selbst ziehen am Strang und bringen die Glocken zum Läuten:


9. Kapitel

Ging hier der Dichter, der im Musiker steckt, freier aus sich heraus, so verschwindet er in dem 13. Psalm für dreistimmigen Frauenchor mit Orgelbegleitung gänzlich hinter dem Musiker. Dieses Kirchenstück ist von geradezu klösterlicher Einfachheit. Kein Bildnis und kein Zierrat schmückt die farblose Zelle, von welcher aus das Häuflein geängsteter Seelen seine demütigen Bitten zum Allerhöchsten emporsendet. Der Feind, der sich nicht rühmen soll, er sei ihrer mächtig geworden, umlagert nicht den äußeren Frieden des stillen Klosters, sondern sitzt als ein letztes leise fortglimmendes Restchen scheu gemiedener Weltlust den frommen Beterinnen in ihren unschuldigen, allzu verzagten Herzen. Das höllische Feuer, wenn es jemals dort gebrannt hat, ist längst erloschen, und die zarte Röte, die ihre wachsbleichen Wangen überfliegt, flammt in der hoffnungsvollen Freude auf, daß der Herr so gerne hilft.

Köstlich gewandet schreiten die Motetten für fünfstimmigen Chor a capella op. 29 einher, und die Falten ihres musikalischen Überwurfes sind streng stilisiert. Beide wetteifern untereinander und mit Bach in der kunstreichen Behandlung des Stoffes, und keine von beiden macht auch nur die kleinste Konzession an die herrschende Mode. Die erste basiert auf dem von Bach in der Kantate zum zehnten Trinitatis-Sonntage verwendeten Choral »Es ist das Heil uns kommen her«, den der Chor vierstimmig intoniert; Brahms sah dem Choral an, daß er sich zu einem polyphonen Satze gebrauchen ließ, und wandelte ihn Vers um Vers in einer fünfstimmigen Fuge ab. Die fünfte Stimme bringt immer den Choral in der Vergrößerung des Fugenthemas. Am Ende des Stückes zerlegt und modifiziert der Komponist den Vers, bis die fünfte Stimme wieder die Melodie unversehrt hinzufügt [387] und somit einen vollkommen befriedigenden Schluß herbeiführt. Ganz ohne Gewaltsamkeit geht es bei einer solchen kontrapunktischen Herkulesarbeit nicht ab.

Die zweite Motette »Schaffe in mir Gott ein reines Herz!« ist nicht weniger kompliziert als die erste; nur verbirgt sie ihre Kunst hinter ihren ausdrucksvolleren Gesängen. Wer die Einleitung und das Andante im 6/4 Takt hört, wird die darin vorkommenden Kanons kaum bemerken. Über der himmlischen Melodie »Tröste mich wieder mit deiner Hilfe« – die bloße Bitte ist schon so gut wie die Gewährung – vergißt man auf die Form zu achten. Männer- und Frauenstimmen wechseln miteinander ab, um sich in einer heiter dahinrollenden Fuge zu vereinigen. Auch hier ist die Erfüllung des Wunsches: »Der freudige Geist erhalte mich« von der Musik verbürgt und vorausgenommen.

Die oben besprochenen Tondichtungen sind nicht die letzten, welche Brahms zu heiligen Texten geschrieben hat. Sie präludieren ja nur dem deutschen Requiem, dem Triumphlied, den Fest- und Gedenksprüchen, den Vier ernsten Gesängen! Aber sie sind unpersönlicher, strenger, religiöser, man könnte sagen kirchlicher, wenn man ihre praktischgottesdienstliche Brauchbarkeit in Betracht zieht, als die späteren derartigen Werke. Die Motetten op. 74 und op. 110 weisen, abgesehen von der zweiten aus op. 74, die nach Hermann Götz' Tode, 1877 in Pörtschach komponiert worden ist26, ebenfalls auf die Detmolder und Hamburger Übungsjahre zurück, in denen sich Brahms zum Meister in der Komposition des mehrstimmigen Gesanges in aller Stille und ohne viel Wesens davon zu machen, ausbildete. Als solcher bewährte er sich von neuem und mit unglaublich schnell wachsender Gewandtheit in den drei Gesängen für sechsstimmigen Chor op. 42, den Zwölf Liedern und Romanzen für Frauenchor op. 44 und in den Gesängen für Frauenchor mit Begleitung von Hörnern und Harfe op. 17. Als die fruchtbarsten Vorstudien zu [388] diesen und anderen weltlichen Chorwerken sind die vierstimmig gesetzten deutschen Volkslieder anzusehen, von denen Brahms einen kleinen Teil 1864 (ohne Opuszahl) herausgegeben und der Wiener Singakademie gewidmet hat. Nur die Hälfte von den zweimal sieben, in zwei Hefte eingeteilten Liedern ist in den Stimmbüchern des Hamburger Frauenchors nachzuweisen, und zwar sind es die Nummern 2, 3 (I), 1, 2, 3, 4 und 6 (II). Sie und andere ihrer Art wurden wahrscheinlich schon im ersten Detmolder Sommer (1857), wo sich Brahms sehr eingehend mit Volksliedern beschäftigte, niedergeschrieben. Ein Strauß köstlicher Wiesen- und Waldblumen, im Spazierengehen aufgelesen, zu Hause geordnet und gebunden mit einem magischen Faden, der die Blumen lose und doch fest zusammenhält und in ein Wasser des Lebens gesetzt, das ihnen mit der Leuchtkraft ihrer Farben die würzige Frische ihres bescheidenen Duftes bewahrt, sind diese Lieder überall willkommen, wo der Sinn für das natürliche nicht abgestorben oder ertötet ist. Von welchem Anger Brahms die Blumen gepflückt, und ob er nicht unversehens im Eifer des Suchens auch einmal ein verwildertes Ziergärtlein geplündert hat, das er als solches nicht anerkannte oder anerkennen wollte, ist eine Frage, die alle seine Bearbeitungen von Volksliedern stellen; sie zu beantworten bleibe der Spezialforschung anheimgestellt. Wie Brahms selbst darüber dachte, erfahren wir, nicht ganz deutlich, aus dem Briefe an Deiters vom 29. Juni 1894, wo es im Anschluß an schon oben Zitiertes heißt: »Über den Streit, echt oder unecht, komme ich leicht weg. Erk und Böhme sammelten in Pommern, Mecklenburg etc., Zuccalmaglio u.a. vor der Eisenbahnzeit in den Rheintälern. Der Anspruch auf Glauben – wie das Zutrauen einer Bearbeitung kommt beiden Parteien in gleicher Weise zu. Doch – u.s.w.« Das ungeduldige»doch – u.s.w.« wäre aus mündlichen Äußerungen dahin zu ergänzen, daß Brahms den Volksliedern gegenüber denselben Standpunkt innehielt, den er bei den ungarischen Tänzen einnahm: den rein künstlerischen.27

[389] Unter den drei Gesängen für sechsstimmigen Chora capella (Nr. 1 komponiert Oktober 1859, Nr. 2 April 1860, Nr. 3 Juni 1861) ist das wohlklingende, durch seine wellenwogende Melodie sich besonders einschmeichelnde »Vineta« ein bevorzugter Liebling deutscher Chorvereine geworden. Auch hier wird, noch zarter, als beim Glockenwunder in den »Marienliedern« der Effekt des Läutens diskret von den Singstimmen angedeutet. Bei der [390] Peripetie des Gedichtes, wo der Dichter den Boden der Erzählung verläßt und das Märchen von der versunkenen Wunderstadt metaphorisch auf die schöne Welt seiner im Herzen begrabenen Liebe anwendet, schweigen die Glocken für mehrere Takte; die Stimmen steigen unisono in die Tiefe, und mit Engelszungen ruft es den verlorenen Träumer in die »alte, alte Wunderstadt« hinab Brahms' Vineta ist das Hamburg seiner Jugend. Die fünffüßigen Trochäen Wilhelm Müllers haben den Komponisten nicht gehindert Perioden zu bauen, die aus ebenso vielen Takten bestehen. Über »Vineta« dürfen die andern beiden Nummern aus op. 42 nicht übersehen werden; sie sind spröder aber noch eigentümlicher und verlangen vom Dirigenten und den Sängern die subtilste Behandlung. – Klemens Brentanos mystisches »Abendständchen« bedarf einer Interpretation. Brahms hat eine solche in seiner Musik gegeben. Er schreibt G-dur vor und beginnt in g-moll; wie dünner Nebel verbreiten sich pp die Harmonien der geteilten Stimmen und wallen schwebend in Triolen auf und nieder: »Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht.« Mit der Schlußzeile auf dem Worte »Blickt« setzt die Melodie forte ein, als fiele plötzlich ein heller Strahl durch die Nacht: die Angesungene erscheint, sie ist das Licht der Töne, der sanfte Mond der Liebe, der das Gewölk zerteilt. – »Darthulas Grabgesang« macht den Eindruck einer lyrisch-dramatischen Szene: um den Hügel, in welchem »die Schönste der Schönen von Erin« gebettet liegt, sind ihre Gespielinnen und Freunde versammelt, um ihr ein schaurig-liebliches Requiem zu singen. Farblos beginnen tiefe Frauenstimmen ihr eintöniges Klagemotiv, das sich an einer Terz erwärmt und mit der leeren Quint schließt. Die Männer nehmen den Gesang in Dreiklängen auf und verraten durch den Taktwechsel ihren lebhaften Anteil. Zwei Bässe stehen gegen eine Tenor-, zwei Alte gegen eine Sopranstimme. Der aufgesparte Sopran erhöht die Wirkung, welche der Eintritt der vollen Harmonie hervorbringt. Durch die allgemeine Teilnahme wächst die Trauer, aber ihre Geselligkeit steigert auch das beglückende Gefühl des Lebens. Die Leidtragenden freuen sich bei allem Schmerze doch des neuen Frühlings, der seine Blumen in den grünen Rasenteppich webt. »Wach auf, Darthula! Frühling ist es draußen!« tönt es im lockenden [391] Dur des Mittelsatzes. Aber das Mädchen von Kola schläft, und die Klage schließt die feierliche Handlung mit einem versöhnenden Durdreiklänge ab.

Ließ der Komponist hier seine fremdartigen Harmonien für die eigentümliche Ossiansche Stimmung sorgen, so wählte er bei den Gesängen für Frauenchor op. 17 eine obligate Begleitung von Harfe und Hörnern. Rupertis »Es tönt ein voller Harfenklang« könnte mit seiner ersten Zeile der Harfe zur Mitwirkung herangewinkt haben. Ob aber Brahms diesem Wunsche entsprochen hätte, wenn ihm nicht der Gesang aus »Fingal« im Sinne gelegen wäre, möchten wir bezweifeln. Denn zu keinem der vier Lieder paßt das merkwürdige Akkompagnement so gut wie zu der Klage um den Heldenjüngling Trenar, und man wundert sich im ersten Augenblicke darüber, daß das Lied des Narren aus Shakespeares »Was ihr wollt« mit dem gleichen instrumentalen Ehrengeleite bedacht worden ist. »Die Spinnerinnen in der freien Luft, die jungen Mägde, wenn sie Spitzen weben, so pflegen sie's zu singen; 's ist einfältig und tändelt mit der Unschuld süßer Liebe, so wie die alte Zeit.« Das Minnesängerliche des Gedichtes gab der Liebeständelei in den Augen des Komponisten seine historische Würde, und Brahms suchte sie noch zu steigern, indem er das Lied von Frauen singen ließ. Dadurch wurde es zu rein gegenständlicher Darstellung erhoben, und das Frauenterzett ist nur das wohltönende Organ für eine aus der Ferne der Zeiten an unser Ohr dringende Stimme. Hörner und Harfe betonen das episch-musikalische Element noch stärker, das auch die subjektive Stimmung des Rupertischen Gedichtes sofort aufhebt. Der moderne Lyriker ist dabei freilich zu kurz gekommen; doch kann er sich mit Eichendorff trösten, dessen Gärtnerbursche ja nichts anderes als eine romantische Verkleidung des Dichters bedeutet. Nächst dem Gesang des Fingal spricht der »Gärtner« mit dem schwungvollen Refrain seines frischen Strophenliedes am unmittelbarsten an. Auch Nr. 1 und 2 sind Strophenlieder; der Ossiansche Gesang aber ist durch seine erweiterte Form ausgezeichnet. In seinem Mittelsatze ruht die Harfe eine längere Weile, während sich den drei Stimmen des Hauptsatzes eine vierte (tiefer Alt) beigesellt. Sonst sind die Gesänge durchgehends dreistimmig gesetzt.

[392] Von den Zwölf Liedern und Romanzen für Frauenchor a capella op. 44 wird man zuweilen an die Grenzen der weiblichen Stimme und deren Leistungsfähigkeit erinnert. Die Form dieser Gesänge ist im all gemeinen eine einfachere und nähert sich dem Volksliede; hie und da kommen leichtere und strengere Imitationen vor, die »Märznacht« aber enthält zwei Kanons, die gleichzeitig in verschiedenen Intervallen beantwortet werden (der erste in den Unterquint und Prime, der zweite in der Sext und im Einklang). Auf jede Zeile des Uhlandschen Distichons kommt ein solcher Kanon; dem stürmischen Hexameter in b-moll folgt ein sanfterer Pentameter in B-dur. Der vom Dichter mit Hilfe des Metrums geschaffene Kontrast wird vom Komponisten durch die Bildung der Themen und die Führung der Stimmen noch gesteigert. Eine vierstufige chromatische Skala genügt Brahms zur Schilderung des durch die Nacht hinbrausenden Sturmes, eine dreistufige, rhythmisch vergrößerte, um das schaurigsüße Gefühl des herannahenden Frühlings zu bezeichnen. Die jagende Unruhe vorwärts drängender Empfindung, die dann bei der Gewißheit des baldigen Umschwungs in der Natur in zuversichtliches frohes Beharren übergeht, ist mit einer Wahrheit dargestellt, die ganz realistisch wirkt; aber diese Wirkung wird mit den feinsten Mitteln der Kunst erreicht. Wie oft und wie schön das Distichon auch schon in Musik gesetzt worden ist – Brahms hat alle seine Vorgänger übertroffen. Bei den vier Liedern aus Paul Heyses »Jungbrunnen« hat Brahms allein seiner melodischen Erfindungskraft vertraut und sich ihr mit der Seligkeit überlassen, welche nur die glückliche Inspiration des Künstlers zu gewähren vermag. Er wußte genau, in welchem Falle er dies tun durfte, und wo er nicht mehr von sich zu verlangen brauchte als eben eine schöne Melodie. Denn seine Gewissenhaftigkeit traute sich selbst weit weniger zu als andern, und er hätte eher auf einen köstlichen Einfall verzichtet, als daß er seiner höheren künstlerischen Idee irgendwie Abbruch getan haben würde. Weder das schöpferische Vermögen noch die Herrschaft über die technischen Mittel kennzeichnen den großen Künstler, sondern erst der Gebrauch, den er von seinem Genie und seinen Kenntnissen macht. Bei Brahms' Meisterliedern ist die Durchdringung des Wortes mit dem Ton eine so tiefe und [393] feste, daß beide miteinander zu verwachsen scheinen, und es so aussieht, als ob, wie Herzogenberg sagt, auch der Text das geistige Eigentum des Komponisten geworden wäre. Von den zwölf Liedern für Frauenchor ist jedes auf seinen besonderen Ton gestimmt, keines gleicht dem andern; nur die Fülle produktiver Kraft, die sich in ihnen entlädt, ist allen gemein. Auf den interessanten metrischen Bau des Minneliedes »Der Holdseligen« sei besonders hingewiesen: die dreizehn Takte gruppieren sich in dreimal drei, welche zweimal zwei Takte in die Mitte nehmen: 3 + 3 + 2 + 2 + 3. Die fremdartige, sehnsüchtig hingehauchte Harmonie im zehnten Takte stempelt den frischen Gesang zum schmachtenden Minneliede.

Außer diesen Chören hat Brahms zwischen 1859 und 1863 noch mehrere Ensembles für Solostimmen mit Klavierbegleitung komponiert: das »Wechsellied zum Tanze« (November 1859) und die Duette für Alt und Bariton op. 28. (Nr. 1 und 4 im November 1860, Nr. 2 im Winter und Nr. 3 am 7. Mai 1862.) Sie sind höhere Unterhaltungs- oder richtiger Kammermusik für Gesang und Klavier. Von ihnen geht in gerader Linie der Weg zu den Liebesliedern op. 52, welche Gesang, Spiel und Tanz in einziger Art miteinander verbinden. Welche enormen Fortschritte Brahms seit seinem op. 20 auch auf diesem Gebiete gemacht hat, erkennt man, wenn man die neuen Zwiegesänge mit jenen ziemlich physiognomielosen Duetten vergleicht. Zwei charakteristisch gefärbte Stimmen als getrennte Individuen einander gegenüberzustellen und durch ein Medium des Gefühls zu einem Paare zu verbinden, ist hier kein Akt der Willkür, keine Folge der Konvenienz mehr, sondern ein Gebot innerer Notwendigkeit. Der Dichter fordert es, und der Komponist kommt seinen Wünschen so bereitwillig entgegen, erfüllt sie in so vollem Maße, daß die Schönheiten des Textes durch den Gesang erst recht eindringlich zum Vorschein kommen. Dies gilt namentlich von der Eichendorffschen Ballade »Die Nonne und der Ritter,« die sich förmlich nach Musik sehnt, um die in ihren Dialog gepreßten Empfindungen freier entladen zu können. Brahms steigert die Wechselrede zwischen den beiden Entsagenden zu dramatischem Eindruck, so daß das Schicksal des getrennten Paares und seine Entscheidung wie mit Augen [394] zu sehen ist. Die Verschiedenheit der beiden Charaktere: der nur noch durch ihr Erinnern lose mit der Welt zusammenhängenden Nonne und des irrenden, um seine Liebe betrogenen Ritters ist in einfachen Zügen prägnant ausgedrückt. An Abwechslung fehlt es den Duetten weder dem Stoffe noch der Ausführung nach. In »Vor der Tür« folgt dem tragisch-romantischen Ständchen ein derb humoristisches Fensterln, und von dem Goetheschen, die treue Liebe verherrlichenden innigen Liede aus »Jery und Bätely«, einem Selbstwechselgespräch, dem Brahms seine heimliche Neigung zum Dialog glücklich abgemerkt hat, hebt sich das Schmoll- und Trutzduett zwischen dem Jäger und seinem Liebchen heiter ab. Das Wesen des Duettes, die Einheit im Zwiespalt, kommt hier wie dort zu seinem Rechte.

Eines der liebenswürdigsten und graziösesten Werke der Detmolder Periode ist das »Wechsellied zum Tanze«. Es zeigt uns Brahms von einer ganz neuen Seite: als galantuomo, dem die feineren Gesellschaftsformen geläufig geworden sind. Der Verkehr bei Hofe und sein häufiger Umgang mit dem zarten Geschlecht blieben nicht ohne Einfluß auf den nordischen Bären; sie striegelten ihm das struppige Fell. Aber sein galanter Ton unterscheidet sich von dem verbindlichen nichtssagenden Wesen des gewöhnlichen Gesellschaftsmenschen durch die zarte Anmut, die ihn beseelt. Für die Komposition des Goetheschen Gedichtes wählte er das Menuett zur Unterlage, erweiterte es durch die Wiederholung des Trios und schloß es mit einer längeren Koda ab, welche die getrennten Paare und deren Melodien zur Quadrille vereinigt, die »Zärtlichen« an den Tanz bringt und die »Gleichgültigen«, trotz ihres Protestes, wärmeren Gefühlen geneigt macht. Die Berechtigung zu diesem in jeder Hinsicht logischen Schlusse, den der Dichter offen ließ, wird zwanglos von der Zeile hergeleitet: »Bist Du mein Schatz nicht, so kannst Du es werden.« Aus der Disposition Goethes ergab sich die Gliederung des Musikstückes von selbst. Die Gleichgültigen, Alt und Baß, gehen, durch kanonische Imitationen in gemessener Entfernung von einander gehalten, ihren steifen, markierten Menuettschritt ruhig fort, immer im gleichen Marsch ihrer achttaktigen Perioden. Die Zärtlichen, Sopran und Tenor, ändern mit der Tonart (As-dur nach c-moll) sofort die Temperatur des Stückes. [395] Ihre Gedanken umschlingen sich in der süßen Melodie des Trios, die sie in harmonischen Intervallen zusammen singen, der begleitende Baß gibt seine einförmige Strenge auf und umspielt den schmelzenden Gesang mit wiegenden Achtelfiguren. Die Tanzenden möchten einander in die Arme sinken und Herz am Herzen liegen, das Menuett bekommt Lust, sich als Ländler zu deklarieren, und die letzte Periode des Trios verlängert sich, den Liebenden zu Gefallen, um zwei Takte. Strophe 3 und 4 führen zur Wiederholung beider Teile. In der Koda rücken die Paare mit ihren charakteristischen Melodien enger zusammen, die dritte und vierte Strophe des Gedichts wird von der Musik nun in eine einzige kontrahiert; es entwickelt sich ein erregter Dialog, bis sich die Paare zum Quartett verbinden, welches die walzerartige Figur mit dem Basse des Menuetts aussöhnt und inAs-dur schließt. Das Werk ließe sich ganz gut als Finalsatz eines Singspieles denken. Es fehlt also, wie wir auch schon früher bemerkt haben, keineswegs an dramatischen Keimen und Anläufen bei Brahms, die leider nicht zur Entfaltung, nicht zum Ziele der Oper geführt haben. Nebenbei bemerkt, ist das »Wechsellied zum Tanze«, welches, mit den erst im Winter 1863 zu Wien componierten »Neckereien« und »Gang zum Liebchen« vereint, als op. 31 erschien, eines der wenigen Werke von Brahms, das sich (im ersten Teile des Trios) mit Mozart berührt. An den galanten Ton des »Wechselliedes« klingt manchmal ein, für den Absender besonders charakteristisches, höchst interessantes Schreiben an, das Brahms am 25. Oktober 1859 von Detmold aus an Fräulein Porubszky richtete:


»Verehrte!


Sehr erfreuen Sie mich durch ihre lieben Briefe, die mich so herzlich ansprechen. Auch Grädener schrieb mir, sah es auch nicht so lieblich aus, so wars doch gar nicht übel.

Er lädt mich zu seinem ersten Konzert ein. Ich freue mich wie ein König auf den zu verlangenden Urlaub und die paar Tage in Hamburg. Sehr gerne höre ich, daß der Frauenchor noch als kleine Republik besteht. Soll ich Lieder schicken? Lustige, frische Liedlein? Ich würde Sie redlich damit versorgen, wenn Sie wollten.

Wer ist denn im Alt zugekommen? Ich rate auf Fräulein [396] G., wünsche aber eigentlich noch einige hinein. Und die neue Wienerin ist am Ende die berühmte Klavieristin Marianne? Da kommt auch am Ende der ›gewisse Graue‹ ins Haus? Denn wem könnten besser Damenhände anvertraut werden? Der führt sie nicht auf Kegelbahnen und komponiert auch keine Sonaten, an denen man sie zerbrechen kann.

Spohr ist tot! Wohl der Letzte, der noch schöneren Kunstepochen angehörte, als wir jetzt eine durchmachen. Wohl mochte man damals nach jeder Messe begierig ausschauen, was denn Neues und Schöneres von dem und dem gekommen wäre. Jetzt ist das anders. Ich sehe in Jahr und Tag kaum ein Heft Noten, das mich erfreut, dagegen viele, die mich gar physisch unwohl machen können. Es ist ja wohl zu keiner Zeit eine Kunst so malträtiert worden, wie jetzt unsere liebe Musik. Hoffentlich wächst im Stillen Besseres hervor, sonst würde sich ja unsere Zeit in der Kunstgeschichte wie eine Mistgrube ausnehmen.

Sie lesen viel Shakespeare? Das ist schön; da hat man Alles und Alles in einem, an allen Andern aber hätte man keinen Shakespeare.

Im Wald können Sie mich oft suchen, Sie würden mich wohl manchmal in Ihrer Gesellschaft finden.

Oft wenn ich abends aufs Schloß muß, habe ich kaum Zeit mich umzukleiden. Neulich dirigierte ich daher meinen mit Durchlauchtens gespickten Singverein ohne Halstuch! Zum Glück brauchte ich mich nicht zu genieren und zu ärgern, denn ich merkte es erst beim zu Bette gehen. –

Dies ist heute der vierte Brief und soll gar einen Zwilling vorstellen! Könnte ich doch, statt ihn zu schreiben, einen neuen lesen! Mit dem Schreiben will's nicht, aber wirklich, lesen und genießen kann ich einen Brief.

›Lieber Herr Johannes‹ würde mir übrigens weit besser gefallen als ›lieber Herr Brahms‹, welches gar keine schöne Überschrift ist.

Übrigens grüße ich Sie herzlich und schaue oft und sehr nach einem Doppelbrief aus.


Ganz der Ihrige

Johannes Brahms.«


[397] Schon vorher hatte Brahms seinem Freunde Grädener, auf dessen Konzert er »sich mehr freute, als er sagen konnte,« erklärt, des Urlaubes wegen sich nicht zu genieren, obgleich gerade am 1. Dezember der Geburtstag seiner durchlauchtigsten Schülerin wäre und mit einem großen Hofkonzert festlich begangen werden sollte. Es hatte ihn verdrossen, daß er seine zweite Serenade in Detmold nicht mit gehöriger Muße probieren konnte, und erglaubte, da man zu wenig Rücksichten auf ihn und seine Wünsche nahm, gelegentlich Gleiches mit Gleichem vergelten zu sollen. Was man dem Konzertmeister, der öfter auf Reisen ging, nicht verweigerte, mußte man auch ihm erlauben. Der Urlaub wurde ihm denn auch, scheinbar mit großer Bereitwilligkeit, gewährt, und sein Vorschlag, daß er nach dem Konzert wieder nach Detmold zurückkehren und die versäumten Dienst-Tage nach Neujahr einholen wolle, akzeptiert. Aber er kannte den Hof und seine Sitten doch zu wenig, um gleich zu bemerken wie übel es »oben« aufgenommen worden war, daß er so gar kein Herz für seine hohe Schülerin hatte. Der Kanon, den Haydn auf das Logausche Epigramm schrieb:


»Es stecket ›Ja‹ im linken, im rechten Backen ›Nein,‹

Ja-Nein, dies pflegt bei Hof allzeit vermischt zu sein.«


war ihm noch fremd. Er sollte seinen Sinn bald begreifen lernen. Vorläufig erfreute er sich an seinen musikalischen und literarischen Studien28 sowie an den andauernd schönen Herbstwochen im Teutoburger Walde. Avé Lallement besuchte ihn, und als er eines Sonntagabends mit ihm, Bargheer und dessen Bruder Adolf [398] ermüdet von einem weiten Spaziergange nachhause kam, fand er zu seiner großen und frohen Überraschung seinen lieben Joachim in der »Stadt Frankfurt« vor. Endlich war er aus England zurückgekehrt und hatte sich sofort wieder auf die Bielefelder Post gesetzt, um den Freund zu sehen. Joachim brachte sein Violinkonzert »in ungarischer Weise« mit, und Brahms nahm es noch an demselben Abend mit ihm durch. Die Brüder Bargheer und Ave hörten zu. An Joachim schrieb er dann Ende November, die ersten beiden Sätze des Konzertes gefielen ihm sehr gut, der erste sei »wunderschön,« die Melodie in Dur »prächtig«. Den letzten Satz verstehe er im ganzen nicht recht. Habe er aber was zu räsonnieren, so werde es – wie gewöhnlich – ganz was anderes sein, als was anderen auffiele. Unmittelbar vor dem Antritt seines Urlaubes brachte er mit dem Singverein noch Mendelssohns »Walpurgisnacht« heraus und mußte sie an einem zweiten Abend wiederholen. Auf der Durchreise nach Hamburg hielt er sich ein paar Stunden in Hannover auf und traf am letzten November in seiner Vaterstadt ein. Das Konzert bei Grädener fiel zu allgemeiner Zufriedenheit aus. In einer Ankündigung war am Morgen des Konzerttages in den Blättern zu lesen, das »Ave Maria« sei unter der Leitung des Komponisten bereits im Herbste des Jahres vor einem dazu geladenen kunstsinnigen Publikum (in der Kirche) mit Orgelbegleitung vorgeführt worden und habe allen Zuhörern die höchste Befriedigung gewährt. Die Komposition sei sinnig, so fromm und reich, daß auch dieses Werk den schönsten Eindruck hinterlassen werde. Die Reklame scheint von »Papa« Avé herzurühren Der Erfolg gab ihr Recht. In den Zeitungen werden diesmal die Brahmsschen Kompositionen Ereignisse genannt, »wie sie nur, von dem edelsten Streben getragen, ein Talent zu schaffen vermag, das wir uns nicht scheuen, als Genie zu verkündigen.« So einfach wie der Stil, so überzeugend sei die Wahrheit und so groß der Ausdruck des Gefühls. Angefeuert von der begeisterten Aufnahme, die das »Ave Maria« und der »Begräbnisgesang« fanden, habe Brahms das Schumannsche Konzert mit Schwung und technischer Vollendung gespielt. Gewiß werden die Mitglieder des »H.F.C.« (Hamburger Frauenchor) mit ihren lieben Angehörigen das Ihrige zu dieser begeisterten Aufnahme beigesteuert haben.

[399] In Detmold erwarteten, wie es scheint, den von seinem kurzen Urlaube Zurückgekehrten keine angenehmen Geschäfte. Jedenfalls war nichts geschehen, um ihn seinen Beruf und Aufenthalt in rosigerer Beleuchtung sehen zu lassen. Was hätte sich auch ereignen sollen? Der Geist der heiligen Cäcilie wollte noch immer nicht über seine vornehmen Schülerinnen kommen, die »Stadt Frankfurt« sich noch immer nicht in ein Feenschloß oder auch nur in ein hübsches Landhaus mit Garten verwandeln, der alte Kiel machte noch immer keine Miene, sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückzuziehen, um auf seinen Lorbeeren einzuschlafen,29 und im Schlosse nahm man es dem Kapellmeister Johannes Kreisler II noch immer sehr übel, wenn er ohne Kravatte vor den Herrschaften bei Hofe erschien oder den Geburtstag der Prinzessin in – Hamburg feierte. Daß sein Opfer bei Hofe angenommen, und er wirklich so viele Tage, wie sein Urlaub gedauert hatte, über Neujahr hinaus festgehalten wurde, verdroß ihn schwer; noch mehr aber ärgerte ihn der eisige Empfang der Schülerin, die ihr Pensum mit noch steiferen Fingern als gewöhnlich abwerkelte. Als Brahms am Ende der ersten Januarwoche 1860 Abschied nahm von den verschneiten Höhen der Grotenburg und der Extersteine, um, nachdem er noch bei seinem lieben Joachim angeklopft hatte, in seinem Zimmer in der Hohen Fuhlentwiete sich »ordentlich auszurekeln und die langweilige Detmolder Strapaze allmählich zu vergessen,« war er bereits mit sich einig, dem Fürstenhofe für immer den Rücken zu wenden. Wenn ihm sein Düsseldorfer »Schatzkästlein des jungen Kreisler« wieder in die Hände fiel, so haftete sein Blick wohl mit besonderer Aufmerksamkeit auf einer Stelle, die er sich aus Jean Pauls »Flegeljahren« ausgezogen hatte. Da spricht Vult zu Walt: »Kannst du wählen auf deiner Spannen-Reise, so besuche lieber den großten europäischen Hof als die kleinsten deutschen, welche jenen in nichts übertreffen (in den Vorzügen am wenigsten) als in den Nachteilen, wie man denn wahrgenommen, daß auch die Seekrankheit viel ärger würgt auf Seen als auf Meeren.«

Im Herbst 1860 sollte Brahms zum viertenmale nach Detmold [400] kommen. Auf die im »höchsten« Auftrage an ihn ergangene Einladung des Hofmarschalls von Meysenbug schrieb er im August von Hamburg mit den Worten ab: »Nach wiederholtem Überlegen muß ich Sie nun doch ergebenst ersuchen, Sr. Durchlaucht dem Fürsten mein Bedauern ausdrücken zu wollen, diesen Winter nicht nach Detmold kommen zu können. Zu den mich bewegenden Gründen, die ich Ihnen schon mitzuteilen die Ehre hatte, kommt nun noch, daß ich diesen Herbst mit der Herausgabe meiner Werke sehr beschäftigt sein werde, bei einigen mit der Revision des Stiches, bei anderen mit der Vorbereitung zu demselben, so daß ich mich schon deshalb entschließen muß, den Winter hier zu bleiben. Ihrer Durchlaucht Prinzessin Friederike bitte ich mein besonderes Bedauern sagen zu wollen, daß ich nicht wie gewöhnlich mich ihrer Fortschritte im Spiel, sowie überhaupt ihrer innigen Teilnahme an der Musik erfreuen kann.«

Fußnoten

[401] 1 Dr. Georg Fischer: »Opern und Konzerte im Hoftheater zu Hannover« bis 1866.


2 Bernhard Scholz, geb. 1835, später Dirigent des Breslauer Orchestervereins und Direktor des Hochschen Konservatoriums zu Frankfurt a.M., lebt seit einigen Jahren in Florenz.


3 »Musikalisches Wochenblatt« von 1874.


4 Ernst Ferdinand Wenzel, dem Brahms sein es-moll-Scherzo gewidmet hatte.


5 Der Verleger der f-moll-Sonate und Gesänge op. 6.


6 Raimund Dreyschock, der Bruder des Pianisten Alexander, zweiter Konzertmeister am Gewandhause.


7 Friedrich Grützmacher, erster Violoncellist des Gewandhausorchesters.


8 Engelbert Röntgen, Schüler Davids, Violinist im Gewandhausorchester, der Vater Julius Röntgens.


9 Gottfried Herrmann, der damalige Direktor des Hamburger Bach-Vereines.


10 Livia Frege, die sangeskundige Freundin Mendelssohns und Schumanns.


11 Zweideutig und schlau abgefaßt ist der Schlußpassus der das Jubiläum der Zeitschrift und die Versammlung ankündigenden Eröffnung: »Wenn etwas die erlaubte Freude trüben kann, die wir empfinden beim Rückblick auf das bis auf einen gewissen Grad Erreichte, so ist es der Umstand, daß es Robert Schumann nicht vergönnt war, diesen ersten Abschnitt in der Geschichte seiner geliebten Zeitschrift zu erleben. Gedenken wir darum um so mehr in dankbarer Rückerinnerung seiner Verdienste, und wenn man jetzt bereits anfängt, ihn mannigfacher Irrtümer zu zeihen, so vergesse man nicht, daß diejenigen, die dies aussprechen, nicht durch ihr Verdienst, sondern allein durch das der fortgeschrittenen Zeit, auf diese Stufe der Einsicht emporgehoben worden sind.«


12 Mit dieser maßlos heftigen und tadelsüchtigen Kritik verdarb das Organ Bartholf Senffs wieder, was es vor dem mit seiner wohlwollenden, in keiner Weise überschwenglichen Anzeige der Brahmsschen Kompositionen gutgemacht hatte. Sein ehemaliger Referent, der bekannte Komponist, Klavierpädagoge und Theoretiker Louis Köhler († 1886), durfte sich rühmen, der erste gewesen zu sein, der (in Nr. 18 der »Signale« von 1854) die Brahmsschen Jugendwerke öffentlich besprochen hat. Vgl. »Johannes Brahms und seine Stellung in der Musikgeschichte« von Louis Köhler.


13 Zuerst abgedruckt bei Reimann.


14 Sein H-dur-Trio.


15 Auf der Hamburger Stadtbibliothek sah Brahms alles durch, was von alter Musik dort vorhanden war, besonders die Werke und Schriften Matthesons, und kopierte mancherlei daraus. Der Chor der Juden aus Matthesons »Das Lied des Lammes« befindet sich im handschriftlichen Nachlasse des Meisters.


16 Hübbe und Dietrich a.a.O.


17 Der Güte des Herrn Professors Hermann Grädener in Wien verdanken wir einen Einblick in das Original-Manuskript des Werkes. Es ist überschrieben »Mottett (Nr. 1)«. – Grädener bekennt sich in der Schreibart zu der Ambrosschen Etymologie des Wortes – »für drei weibliche und eine desgleichen Choral-Stimme mit Orgelbegleitung, (nach einem Gesange von Joh. Ad. Lehmus – geb. 1707, gest. 1788) von Carl P. Grädener. 38. Werk«. Die Motette besteht aus einem vierstimmigen, in kanonischen Imitationen geführten, von der Orgel auf zwei Manualen und dem Pedal obligat begleiteten Chor; die vierte Stimme bringt als Cantus firmus den Choral »Wo Gott ein Haus nicht selber baut« nach der Melodie von »Wie schön leucht't uns der Morgenstern«. Der (rhythmisch frei behandelte) Choral gliedert den Bau des Werkes. Durch die Vergrößerung der Melodie in Vers 5–9 wird geschickt die Klippe einer durch die eigentümliche Strophenform bedingten Unebenmäßigkeit umgangen. Die Anmerkung: »hierzu je zehn Stimmen in Summa also vierzig Stimmen« läßt darauf schließen, daß der Frauenchor ziemlich stark besetzt war. Das von Dietrich erwähnte Quartett, aus welchem der Hamburger Chorverein hervorgegangen sein soll, wäre also mit zehn zu multiplizieren.


18 Nach dem Erscheinen seines Buches hatte Professor Hübbe die Gefälligkeit, mir de dato Hamburg 30. März 1903 Folgendes zu schreiben: »Auf Seite 18 Z. 9 meiner Schrift würde es jetzt heißen müssen: Jener bereits (S. 15) erwähnte anfängliche kleinere Frauenchor geht mindestens bis in den Sommer 1856 zurück, denn sein bis jetzt erstes als gut verbürgt nachgewiesenes Vorhandensein fällt in den Juni dieses Jahres.« Der (nicht genannte) gute Bürge stellt uns vor ein neues Rätsel. Bis zum 26. Oktober 1856 war Brahms erwiesenermaßen in Düsseldorf; er konzertierte dann am 26. Oktober bei Otten und am 22. November bei Grund in Hamburg. Da er, wie im VII. Kapitel dieses Buches zu lesen ist, von Frau Schumann am 15. Dezember von dort abgeholt wurde und das Weihnachtsfest mit ihr in Düsseldorf verlebte, so könnte das »als gut verbürgt nachgewiesene Vorhandensein« des kleinen Frauenchors nicht für den Sommer, sondern allenfalls für den Spätherbst 1856 gelten. Daß Brahms zwischen Tür und Angel seines siebenwöchentlichen Hamburger Aufenthaltes bei seinen vielen anderen Geschäften Zeit zur Gründung und Unterhaltung eines Singvereines erübrigt haben sollte, ist schwer zu glauben. Noch unglaublicher aber erscheint dieses factum fictum wenn man bedenkt, daß Brahms nur auf Frau Schumann wartete, um wieder von Hamburg fortzukommen. Im Jahre 1855 war er auch nur um dieselbe Zeit in der Vaterstadt, konzertierte dort und in Danzig mit Frau Schumann und Joachim und hatte es noch eiliger; denn er tauchte am 12. Dezember schon wieder in Hannover auf.


19 »Brahms-Erinnerungen, aus dem Tagebuch von Frau Wasserbaudirektor Lentz, geb. Meier« (im Jahrbuch der Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde von 1902).


20 Mit die er Darstellung des Sachverhaltes deckt sich in der Hauptsache ein diesbezüglicher Bericht der Frau Marie Böie, geb. Völckers. Sie schrieb, nach dem Tode des Meisters, an dessen Hauswirtin Frau Dr. Truxa in Wien: »Meine ältere Schwester Betty gehörte einem Gesangsvereine an, und, wie so oft, wurden einige Damen vom Chor aufgefordert, bei einer Trauung in der Kirche zu singen; es war unter Grädener. Nach Schluß derselben bat Brahms, der auf der Orgel begleitete, ob die Damen wohl einige von ihm komponierte Lieder singen würden. Es wurde mit Begeisterung aufgenommen und regelmäßige Übungen vormittags verabredet: daraus entstand dann später sein Frauenchor,« Frau Prof. Böie hatte die Güte, uns neuerdings dasselbe noch einmal direkt zu bestätigen.


21 Im Herbste 1859 schreibt Brahms an Grädener: »Hiller will meine erste Serenade machen. Eine zweite habe ich beim Abschreiben. Könnte sich wohl ein Mädchen über freuen. Tut's aber halt nicht,« und als er im April 1860 den Klavierauszug gemacht hat, an Joachim: »Ich habe der Tage meine zweite Serenade für vier Hände gesetzt. Lache nicht! Mir war ganz wonniglich dabei zu Mute. Mit solcher Lust habe ich selten Noten geschrieben, die Töne drangen so liebevoll und weich in mich, daß ich durch und durch heiter ward. Nun kann ich aufrichtig beifügen, daß mein seliges Gefühl nicht dadurch erhöht wurde, daß ich an mich als Schöpfer dachte. Aber lächerlich war es doch.« Noch im Jahre 1875, als Bernhard Scholz dieA-dur-Serenade im Breslauer Orchesterverein aufführen wollte, legte ihm Brahms das Werk, das damals »in neuer, vom Autor revidierter Ausgabe« wieder erschienen war, dringend ans Herz. »Schade um das zärtliche Stück!« ruft er aus. »Ich würde es (falls Sie es überhaupt Ihren Bläsern zutrauen) gelegentlich vorprobieren, daß es den Musikern bekannt wird. Namentlich das Adagio kann man nicht eigentlich üben – der Anstrengung wegen ... Es wäre wirklich hübsch, wenn Sie an die Serenade etwas wendeten, die Aufführung möglichst hinausschöben und das Stück den Musikern in öfteren Proben behaglich machten. Mir scheint das die Hauptsache. 8 Violen – auch mehr, 6 Violoncelli, 4 Bässe oder so was scheinen mir gut ... Als ich den Briefbogen nahm, hatte ich doch wohl so heimlich etwas Wagnersche Neigung, über mein schönes Opus sehr Schönes und Weitläufiges zu schreiben! Jetzt können querüber die schönsten Grüße kommen, denn die Luft ist längst verdampft.« Anstatt sich über sein Werk auszusprechen füllte Brahms die leeren Briefseiten mit Grüßen und einer geschäftsmäßigen Ankündigung seiner »Neuen Liebeslieder« an. Die Serenade erlebte am 21. Dezember 1875 im Breslauer Orchesterverein, der über einen vorzüglichen Bläserchor verfügte, unter der Leitung des für Brahmssche Musik mit Leidenschaft eingenommenen Musikdirektors eine Aufführung, die allgemeines Entzücken hervorrief. Ich habe nie wieder eine bessere gehört.


22 A.a.O. S. 67ff.


23 Im »Jahrbuch der Musikbibliothek« Peters von 1902.


24 In der Probe zum »Begräbnisgesang« ereignete sich ein heiterer Zwischenfall. Die Posaunisten konnten die schwierigen Harmonien nicht treffen, namentlich der Alt-Posaunist blies unrein und unsicher, setzte auch einmal ganz aus. Brahms wurde ungeduldig und rief: »Ich muß die Alt, Posaune haben, bringen Sie mir doch die Alt-Posaune!« Zum Gaudium aller Anwesenden drängte sich der alte Lange, konfus geworden, mit seinem Instrument durch Orchester und Sängerchor bis zum Dirigentenpulte heran und »brachte« dem erstaunten Brahms die Alt-Posaune.


25 »Die Gedichte sind alte schöne Volkslieder und die Musik etwa in der Weise der alten deutschen Kirchen- und Volkslieder«, schreibt Brahms im September 1860 an Simrock, dem er die Marienlieder zum Verlag anbot.


26 Heinrich v. Herzogenberg nennt in seiner Abhandlung »Joh. Brahms in seinem Verhältnis zur evangelischen Kirchenmusik« an Stelle Götzens Franz v. Holstein, der aber erst am 22. Mai 1878, also ein Jahr nach der Komposition der Motette, gestorben ist.


27 Als mir Brahms im Sommer 1894 die sieben Hefte seiner eben erschienenen Volkslieder schickte, schrieb ich ihm u.a., daß ich das berühmte »In stiller Nacht«, das durch die unvergleichlich schöne, das geheimnisvolle Weben der Nacht so wunderbar charakterisierende Begleitung erst zu seiner ganzen künstlerischen Höhe gebracht worden ist, für kein Volkslied, sondern eher für die umredigierte und modernisierte Weise eines Minne- oder Meistersängers hielte. Ich erinnerte mich dunkel Ähnliches gelesen zu haben, ohne daß mir Spees »Trutznachtigall« eingefallen wäre. Der künstliche Strophenbau und namentlich der Vers »Der nächt'ge Wind hat süß und lind« schien meine Hypothese zu rechtfertigen. Ich fragte ihn, wo er das Lied her habe. Er rückte aber nicht mit der Sprache heraus, sondern schrieb mir am 15. August nach dem Eggerhof bei Meran die echt Brahms'sche ausweichende Antwort: »Inzwischen könnten Sie Ihre liebe Frau einmal recht schön grüßen, damit ich über unser Briefschreiben nicht ganz außer Zusammenhang mit ihr komme«. Dann fahre ich am Briefe fort und (ich darf mich nicht lumpen lassen) am größeren Register von Büchern, in denen die »Stille Nacht« nicht vorkommt .... »Aber, wenn Brief und Register fertig sind, wo auf dem Globus werden Sie dann zu suchen sein!?« – Ophüls, der bei dieser Gelegenheit Erlachs »Volkslieder der Deutschen« heranzieht, in deren drittem Bande sich »ein umfangreiches Gedicht von Friedrich von Spee« vor findet, dessen letzte Strophen »sozusagen wörtlich« mit der zweiten des von Brahms komponierten Textes übereinstimmen, hätte auf das alte Original in Spees »Trutz Nachtigall« zurückgehen sollen. In der Ausgabe von 1654 (Wilh. Frießem) ist das Gedicht überschrieben »Trawr- Gesang von der noth Christi am Oelberg in dem Garten.« Die beiden Schlußstrophen lauten dort, abweichend von Erlach und übereinstimmend mit Brahms:


»Der schöne Mon vill vndergehn,

Für leyd nit mehr mag scheinen,

Die sternen lan jhr glitzen stahn,

Mit mir sie wollen weinen.

Kein vogel-sang noch frewden-klang

Man höret in den Lufften,

Die wilde thier trawrn auch mit mir

In steinen und in Klufften.«


Die dabei stehende Melodie (Sechsvierteltakt ind-moll) hat mit der von Brahms gegebenen nichts gemein. In den Stimmenheften des Hamburger Frauenchors heißt das Gedicht »Todtenklage«. Dieser Titel bezeugt, daß Brahms den Ursprung des Liedes damals und vielleicht auch später nicht gekannt hat.


28 Freiherr Karl v. Meysenbug berichtet: »Brahms war ein eifriger Besucher und Benützer der sehr reichhaltigen öffentlichen fürstlichen Bibliothek. Stets hatte er mehrere Bände zu Hause; besonders interessierten ihn die damals eben (?) erschienenen kultur-und sittengeschichtlichen Sammelwerke von Scheible ›Das Kloster‹ und das ›Schaltjahr‹ (sie waren tatsächlich damals schon über zehn Jahre alt. Anm. d. V.) mit ihrem reichen Inhalt an mittelalterlichen Schnurren und Schwänken. Überhaupt war bei Brahms der Sinn für Humor sehr entwickelt, und mit großem Behagen erzählte er oft recht derbe Hamburger Volkswitze und Anekdoten. Auch seine spätere Vorliebe für den ›Kladderadatsch‹ zeigte sich schon damals, und noch schwebt mir das schlaue, lächelnde Gesicht vor, mit dem er eines Tages sagte: ›Charles, der neue Kladderadatschkalender steht bei Schenk im Schaufenster!‹ wohl wissend, daß ich mich nicht würde enthalten können, ihn sofort anzuschaffen, und er ihn dann von mir bekäme.«


29 Kiel wurde 1862 pensioniert und Bargheer, nachdem er eine Zeitlang dessen Funktionen versehen hatte, vom Fürsten zum Hofkapellmeister ernannt. Von Brahms war dann keine Rede mehr.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 342-402.
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Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

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Große Erzählungen der Frühromantik

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1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

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