Barmhèrzig

[734] Barmhèrzig, -er, -ste, adj. et adv. 1) Mitleidig gegen niedere Nothleidende und Elende. Barmherzig seyn. Barmherzig gegen jemanden seyn. Barmherzige Brüder, oder die Barmherzigen, in der Römischen Kirche, gewisse Ordensleute, welche sich außer den drey gewöhnlichen Gelübden auch zur Wartung[734] der Kranken verpflichten müssen. Der Stifter ihres Ordens hieß Jean de Dieu. 2) Erbärmlich, Barmherzigkeit verdienend, gemeiniglich nur im vertraulichen Scherze. Er sieht sehr barmherzig aus. Ein barmherziger Reiter. Da geht er, der barmherzige Schlucker, Less.

Anm. Nieders. barmhartig, Angels. carmheort, Schwed. barmhertig, Dän. barmhiertig, bey den Franken und Alemannen armherze. Man hat sich über die Abstammung der ersten Hälfte dieses Wortes lange nicht vergleichen können. Einige haben es von dem alten Barm, der Schooß, andere von einem erdichteten Beyworte barm, klein, andere von warm, und noch andere endlich von arm, welches ehedem gnädig, gütig, bedeutet haben soll, hergeleitet. S. Schilters, Wachters und Ihres Glossar. und Frischens Wörterb. Niemand hat bemerket, daß barmherzig, eine bloß buchstäbliche Übersetzung des Lateinischen misericors ist. Die Deutsche Sprache war, so wie alle Sprachen in ihrer rohen Kindheit, an Wörtern, welche moralische Gegenstände, bezeichnen, sehr arm. Die ersten christlichen Lehrer suchten sich daher mit buchstäblichen Übersetzungen der Lateinischen Ausdrücke zu helfen, welche zwar oft sehr ungeschickt geriethen, aber doch die Sprache nach und nach gar sehr bereichert haben, wie aus hundert Beyspielen gezeiget werden könnte. Das Wort barmherzig ist gleichfalls eine solche verunglückte Übersetzung. Weil miser im Deutschen arm bedeutet, so übersetzten sie misereri durch armen, misericors durch armaherzi, und misericordia durch armaherzide. Diese Wörter kommen so wohl bey dem Ulphilas, als bey dem Kero, dem ältesten Deutschen Schriftsteller vor, der in dergleichen ungeschickten Übersetzungen besonders glücklich ist. Patiens et multum misericors heißt bey dem Notker gedultiger unde ioh filo arme herzen. Die spätern Alemannen setzten vor armen, misereri, die Vorsylbe be, welche nachmahls mit dem a zusammen floß, und auch dem armherzig vorgesetzet wurde, so daß barmen, für bearmen, und barmherzig daraus entstand. S. auch Erbarmen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 734-735.
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