Fließen

[209] Fließen, verb. irreg. neutr. ich fließe, du fließest, (Oberd. fleußest,) er fließet oder fließt, (Oberd. fleußt;) Imperf. ich flóß, Conj. ich flösse; Mittelw. geflossen; Imperat. fließe, (Oberd. fleuß;) welches die Bewegung der flüssigen Körper ausdruckt.

I. Mit dem Hülfsworte seyn, die Bewegung der flüssigen Körper, d.i. solcher Körper auszudrucken, welche auch in ihrer Bewegung einen schwachen Zusammenhang behalten, oder welche sehr leicht über und neben einander beweget werden. 1. Eigentlich, 1) von den flüssigen Körpern im schärfsten Verstande. Das Wasser fließt Berg ab. Der Bach fließt in den Teich. Es floß eine Menge Blut aus der Wunde. Der Schweiß floß ihm von dem Gesichte. Das Gummi, das Harz fließt aus den Bäumen. Die Tinte will nicht fließen, nehmlich aus der Feder. Die Thränen flossen ihm aus den Augen. Im engern Verstande begreift man unter fließendem Wasser das in Bächen und Flüssen befindliche Wasser, zum Unterschiede von dem Brunnenwasser und Seewasser, S. Fließwasser. 2) Auch von festen Körpern, wenn sie durch die Wärme aufgelöset und flüssig gemacht werden. Das Wachs, das Bley, das Kupfer u.s.f. fließt schon. Fließendes Pech, fließendes Gold, d.i. flüssiges, geschmolzenes. 2. Figürlich, von der sanften gleichförmigen Bewegung anderer Körper und Dinge. 1) Von Gewändern, Tönen u.s.f. in der höhern Schreibart.

[209] Ein schimmerndes Gewand floß gleich dem Morgenrothe

Weit wallend um sie her,

Dusch.


Dessen grauer verworrener Bart den Gürtel herab floß,

Zachar.


Harmonische Töne flossen jetzt von ihren Lippen, Geßn. So flossen meine Tage still und ruhig dahin.


Wie fließet so traurig

Euch das Leben dahin!

Zachar.


2) Die Worte fließen ihm sehr gut, er redet mit einer besondern Leichtigkeit. Eine fließende Rede, wenn sie eine leichte Abwechselung langer und kurzer geschickt mit einander verbundener Perioden hat. Fließend schreiben. Ein fließendes Gedicht, wo die Gedanken leicht und natürlich ausgedruckt sind, ohne der Sprache Gewalt anzuthun; im Gegensatze des Gezwungenen. Aber ein fließender Dichter, der fließend dichtet, ist eine zu harte Figur, weil doch der Dichter selbst nicht fließen kann. 3) In den bildenden Künsten nennet man dasjenige, was sanft, gelinde ausgedrucket ist, fließend, im Gegensatze des Höckerigen. Die Umrisse der weiblichen und jugendlichen Körper müssen fließender seyn, als an männlichen und erwachsenen Personen. Ein fließender Schnitt, bey den Kupferstechern, welcher die natürliche Richtung des Gegenstandes genau ausdruckt. Fließend stechen. 4) Aus etwas herrühren, herkommen. Das ist nicht aus deiner Feder geflossen. Diese Freude fließt aus dem Herzen. Was für sanftes Entzücken fließt aus dir, herbstliche Gegend! Geßn. 5) Unmittelbar aus einem Satze heraus gebracht werden, folgen. Was ich gesagt habe, das fließt aus der Natur der Sache. Weil der Mond die umstehenden Sachen sichtbar macht, so fließet darauß, daß er ein Licht ist.

II. Mit dem Hülfsworte haben, die im innern befindliche Feuchtigkeit ausfließen lassen. Die Röhre höret auf zu fließen. Die Quelle hat schon den ganzen Tag geflossen. Daß die Wolken fließen, und triefen sehr auf die Menschen, Hiob 36, 28. Ein fließendes Geschwür. Fließende, d.i. rinnende, triefende, Augen haben. Die Wunde fließt. Ihr Auge floß von Zähren, Weiße. Das Papier fließt, wenn es durchschlägt oder wegen Mangel des Leimes die Tinte zu sehr fließen lässet. Ein Licht fließet, wenn das Talg oder Wachs daran herunter rinnet.

Anm. Fließen, bey dem Ottfried fliazan, bey dem Willeram fliezzen, Griech. βλυζειν, verwandelt in den nördlichen Mundarten seinen Zischlaut in ein t, Niedersächs. fleten, Dän. flyde, Schwed. flyta, Isländ. fliota, Holl. vlieten. Andere Mundarten stoßen den mittlern Consonanten ganz hinaus, wie das Angels. flowan, fleowan, das Engl. to flow, das Nieders. flojen und Lat. fluere, da denn unser Deutsches fliehen übrig bleibt. S. dasselbe und Fliegen. Das Activum oder vielmehr Factitivum von diesem Neutro ist flößen. Das Imperf. ich floß und Mittelw. geflossen sind von dem noch im Oberd. üblichen Neutro floßen, fließen, entlehnet; die Formen aber du fleußest, er fleußt, fleuß, kommen um der bey Fliegen angezeigten Ursachen willen noch zuweilen in der höhern Schreibart vor. Siehe auch Fluß, welches statt des ungewöhnlichen Hauptwortes die Fließung üblich ist.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 209-210.
Lizenz:
Faksimiles:
209 | 210
Kategorien: