Fliehen

[208] Fliehen, verb. irreg. ich fliehe, du fliehest oder fliehst, (Oberd. fleuchst), er fliehet oder flieht. (Oberd. fleucht); Imperf. ich flohe, Conj. ich flöhe; Mittelw. geflohen, Imperat. fliehe, (Oberd. fleuch;) welches in doppelter Gattung üblich ist.

I. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte seyn, sich schnell und unhörbar von einem Orte entfernen. 1. Eigentlich, da es gemeiniglich den Nebenbegriff der Furcht bey sich hat, sich von Furcht getrieben schnell von einem Orte entfernen, in der edlen Schreibart. So fliehet das Wild bey den Jägern, wenn es die Gefahr entdecket. Die Soldaten flohen aus der Schlacht. Was überblieb, flohe auf das Gebirge, 1 Mos. 14, 10. In eine Stadt, aus dem Lager fliehen. Den fliehenden Feind verfolgen. Vor der Gefahr fliehen. Voller Furcht floh er in meine Arme. Alle seine Bedienten sind von ihm geflohen. Fliehe vor der Sünde, wie vor einer Schlange. 2. Zuweilen verliert sich der Begriff der Furcht, und läßt bloß den Begriff der Eilfertigkeit zurück. Der Mensch fleucht wie ein Schatten und bleibet nicht, Hiob. 14, 2. Das Meer sahe und flohe, Ps. 114, 3. Trauren wird von ihnen fliehen, Es. 51, 11. Ehre und Gerechtigkeit sind längst aus seinem Herzen geflohen. In der Stelle beym Gellert:


Er bittet mit den treusten Zähren,

Die schamhaft von den Wangen fliehn,


scheinet es um des Reimes willen zu stehen; wenigstens ist die Figur ein wenig ungewöhnlich. 3. Figürlich. 1) Durch Empfindung, durch Leidenschaft getrieben den Ort schnell verändern. Zu einem fliehen, seine Zuflucht zu ihm nehmen, Schutz, Rath, Hülfe bey ihm suchen. Zum Gebethe fliehen.


Fall an sein Herz, o Königinn, mit Zähren

Der Freude, fleuch an seine Brust,

Raml.


II. Als ein Activum, sich ernstlich von etwas zu entfernen suchen, mit der vierten Endung der Person oder Sache, von welcher man sich zu entfernen sucht, so wohl eigentlich als figürlich. Er fliehet meine Gegenwart, wo er nur weiß und kann. Die Gefahr fliehen. Ich fliehe die Gelegenheit ihn zu sehen. Das Licht, böse Gesellschaft, die Unkosten, die Mühe, die Arbeit fliehen. Fliehen sie alles, was ihrer Flamme Nahrung gibt. Die Leidenschaft fliehen, das ist die einzige mögliche Art, sie zu besiegen.

Anm. Dieses Zeitwort lautet bey dem Ulphilas thliuhan, bey dem Kero fliohen, fliohan, bey dem Ottfried fliahen, im Imperat. fliuh, im Dän. flye, im Engl. to fly, im Schwed. fly, im Angels. flean. Im Schwed. ist fly schnell, und im Nieders. welche Mundart dieses Zeitwort nicht hat, ist flojen fließen, fluere. S. Fliegen, welches bloß eine härtere Aussprache dieses Zeitwortes ist. Die zweyte und dritte Person du fleuchst, er fleucht, und der Imperat. fleuch, welche noch in der höhern Schreibart beliebt sind, sind Überreste einer rauhern Alemannischen Mundart, welche für floh auch im Imperf. fluch sagt. Ob der Held fluch, Theuerd. S. auch Flucht und Flüchtig, welche von diesem Zeitworte herstammen. Die Oberdeutsche Mundart hat noch ein anderes mit diesem genau verwandtes Zeitwort, welches flehen lautet, das Factitivum von fliehen ist, und wie unser flüchten gebraucht wird. Seine besten Sachen an einen sichern Ort flehen. Es gehet an ein Flehen. Man flehet aller Orten. Geflehete Leute. Geflehete Güter oder Flehgüter. In einigen Gegenden lautet dieses Wort nach einer andern Form flehenen, oder flehnen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 208-209.
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