Greifen

[793] Greifen, verb. irreg. Imperf. ich griff; Mittelw. gegriffen; welches in doppelter Gestalt üblich ist.

I. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte haben, mit ausgesperrten und gekrümmten Klauen oder Fingern schnell und gewaltsam anfassen. 1. Eigentlich. Greif nicht nach allem was du siehest, Sir. 31, 16. Wer darf es wagen, ihm (dem Behemoth) zwischen die Zähne zu greifen? Hiob 41, 4. Jemanden nach dem Halse greifen.


Greif du dem Ritter nach dem Schwert,

Ich greif ihm nach den Haaren,

Michäl.


2. In weiterer und figürlicher Bedeutung. 1) Um sich greifen, wird so wohl von Personen gebraucht, wenn sie sich unrechtmäßiger Weise und auf eine gewaltsame Art fremder Dinge anmaßen, als auch von Geschwüren, Entzündungen, wenn sie mehr gesunde Theile anfallen, ingleichen von ansteckenden Krankheiten u.s.f. Einem andern in sein Amt greifen, sich etwas unterfangen, welches dem andern gebühret. So auch, einem andern in sein Handwerk greifen. Daß niemand zu weit greife, Apost. Gesch. 26, 21, sich mehr anmaße, als ihm gebühret. Einem andern an seine Ehre, an seinen guten Nahmen greifen, sie verletzten. 2) In manchen Fällen verlieret sich der Begriff des Gewaltsamen, so daß nur das Bild der ausgebreiteten Finger und der Eilfertigkeit zurück bleibet. Man kann es mit Händen greifen, d.i. es ist augenscheinlich, unläugbar. Er hat dir Feuer und Wasser vorgestellt, greif zu welchem du willt, Sir. 15, 16, erwähle welches du willst. Zur Feder, zum Gewehre, zum Degen greifen. Zur Strafe, zum Ernste greifen, den Weg der Strafe, des Ernstes erwählen. Aber nicht zu der Historie greifen, 2 Macc. 2, 33. Wer auf Träume hält, der greifet nach dem Schatten, Sir. 34, 2. Einem unter die Arme greifen, figürlich, ihm helfen, ihn unterstützen. Der Hund greift mit der Nase überall herum, figürlich bey den Jägern, wenn er der Fährte begierig nachforscht; der Hund greift zur Fährte, greift zur Erde. 3) In einigen Fällen verlieren sich auch diese Bilder, und da bedeutet greifen weiter nichts, als anfassen, berühren, mit der Hand fühlen. Die Götzen haben Hände und greifen nicht, Ps. 115, 7. Sie traten zu ihm, griffen an seine Füße, und fielen vor ihm nieder, Matth. 28, 9. Petrus griff ihn (den Lahmen) bey der rechten Hand und richtete ihn auf, Apost. Gesch. 3, 7. Der Atzt greift dem Kranken an den Puls, wenn er den[793] Puls durch Fühlen beobachtet. In seinen eigenen Busen greifen, sich selbst prüfen. Was die Blinden nicht sehen, das müssen sie greifen, mit den Händen fühlen. Eine Vorstellung in seinem Gemüthe Platz greifen lassen, ihr nachdenken, ihr folgen.

II. Als ein Activum, für ergreifen, ein fliehendes oder in einer schnellen Bewegung befindliches Ding mit ausgespannten Klauen oder Fingern schnell erhaschen. Einen Vogel greifen. Die Katze hat eine Maus gegriffen. Der Windhund greifet den Hasen, bey den Jägern. So auch in weiterer Bedeutung für fangen. Und das Thier ward gegriffen und mit ihm der falsche Priphet, Offenb. 19, 20. Um deswillen haben mich die Jüden im Tempel gegriffen, Apost. Gesch. 26, 21. Mit Listen wollte man Jesum greifen, Matth. 26, 4. Einen flüchtigen Dieb greifen.

Das Hauptwort die Greifung ist nur in den Zusammensetzungen üblich.

Anm. Bey dem Ulphilas greipan, bey dem Kero criffan, bey dem Ottfried greipon, bey dem Notker greiffon, bey dem Willeram griphen, im Angels. gripan, im Nieders. gripen, im Schwed. gripa und grabba, im Dän. gribe, im Engl. to gripe und grope, im Franz. gripper, im Ital. grappare, im Hebr. גרף im Griech.γριπευειν, γριπιζειν fangen, fischen, wo auch γριπευς ein Fischer, und γριπος räuberisch ist. Es gehöret zu dem Worte raffen, Lat. rapere, aus welchem es vermittelst des vorgesetzten Gaumenlautes gebildet worden, und mit demselben zu dem Hebr. אג##ך die Faust, und dem noch im Isländ. üblichen Reifr, die Hand. S. Reiben und Raffen. Von greifen kommt das vergrößernde Frequentativum grapsen, mit einem geschwinden Griffe zu sich reißen, und die verkleinernden Frequentativa grabbeln und kriebeln her, leicht mit den Fingern berühren. Das hohe Alter des Wortes greifen erhellet unter andern auch aus dem Nahmen des erdichteten Vogels Greif.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 793-794.
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