Rathen

[952] Rathen, verb. irreg. act. ich rathe, du räthst, er räth; Imperf. ich rieth; Mittelw. gerathen; Imperat. rathe; ein Zeitwort, welches außer der Zusammensetzung noch in einer doppelten Hauptdeutung üblich ist.

1. Ohne Grund, durchs bloße Ungefähr urtheilen, oder zu urtheilen sich bemühen. 1) Eigentlich, wo es als ein Neutrum am üblichsten ist, welches aber doch das Hülfswort haben erfordert. Rathen sie einmahl, wie viel es gekostet hat. Rathe, was ist das? Man wußte den Thäter nicht gewiß, alle aber riethen auf Cajum, hielten Cajum aufs bloße Ungefähr für den[952] Thäter. Ich rathe hin und her, und kann es nicht errathen. Man muß eine Sache wissen, und nicht bloß rathen. Oft schließt dieses Wort alle auch bloß wahrscheinliche Gründe aus; oft aber räth man auch, wenn man einige wahrscheinliche Gründe vor sich hat, und alsdann nähert es sich in seiner Bedeutung dem Worte muthmaßen. Es scheint eigentlich das Hin- und Herschweifen der Gedanken bey dem Rathen zu bezeichnen, da es denn eine unmittelbare Figur von der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes seyn würde, nach welcher es den Begriff der Bewegung hat. Ehedem bedeutete Rath auch die Muthmaßung. Das Nieders. raden, raen, das Angels. araedan, und Holländ. razden, kommen mit unserm rathen überein. Bey dem Ulphilas ist so wohl rathjan als rahnan, schätzen, zählen, woraus zugleich die Verwandtschaft mit rechnen erhellet. S. 3 Rath 1 5) und Räthsel. 2) In engerer Bedeutung, vermittelst solches Rathens die Wahrheit erreichen, recht rathen, für errathen. Du hast gerathen. Das kann ich nicht rathen.

2. Einen Rath geben, d.i. eine nützliche Regel des Verhaltens ertheilen, mit der dritten Endung der Person und der vierten der Sache. 1) Eigentlich. Einem etwas rathen, es ihm als eine nützliche Regel des Verhaltens bekannt machen, es ihm als nützlich oder heilsam empfehlen. Einem Gutes rathen. Einem Kranken ein Arzeneymittel rathen. Einer räth dieß, der andere jenes. Was rathen sie mir? Er läßt sich nicht rathen, nimmt keinen Rath an. Wem nicht zu rathen ist, dem ist auch nicht zu helfen. Ich rieth ihm, daß er nicht hingehen sollte. Rathen sie mir, daß ich es thun soll? Ich rathe dir, daß du Geld kaufest, Offenb. 3, 5. Oft auch mit dem Vorworte zu. Dazu kann ich ihnen nicht rathen. Zum Frieden rathen. Zuweilen druckt es ein Verboth oder einen Befehl aus. Das wollte ich dir nicht rathen. Ich rathe dir, daß du folgest. 2) Figürlich. (a) Helfen, besonders im gemeinen Leben und den vertraulichen Sprecharten. Er wollte dem Lande in dieser Sache rathen und helfen, 2 Macc. 14, 9. Er weiß sich nicht zu rathen. Damit ist mir nicht gerathen, nicht geholfen. Geschehenen Dingen ist nicht zu rathen, Less. ihnen ist nicht abzuhelfen, sie sind nicht zu ändern. Schon Ottfried gebraucht riaten für helfen und Girari für Hülfe. Auch unser Rath hat noch zuweilen diese Bedeutung. S. 2 Rath 2 2) und Berathen. (b) Nützlich seyn; in welchem Verstande doch nur das Mittelwort gerathen als ein Nebenwort für nützlich und heilsam gebraucht wird. Thaz thunkit mih girati, sagt schon Ottfried. Ich halte es für gerathen, daß du hingehest. Dieß scheinet mir in diesem Falle das gerathenste zu seyn. Ich finde es gerathener, daß du es nicht thuest. Im Oberdeutschen ist es in diesem Verstande am üblichsten.

Das Hauptwort die Rathung ist in keiner der vorigen Bedeutungen üblich, ob es gleich in den Zusammensetzungen gangbar ist. Man gebraucht dafür das Rathen.

Anm. In der zweyten Hauptbedeutung lautet es im Nieders. raden, raen, im Angels. raed, im Alt-Engl. to read, im Schwed. råda, im Isländ. rada, und selbst im Syrischen rata. Ottfried gebraucht ratan auch für rathschlagen, in welchem Verstande es aber veraltet ist. Rathen ist ursprünglich eine Nachahmung des Schalles, so wohl der Rede und des Redenden, als auch einer schnellen, besonders kreisförmigen Bewegung. Daher rühret es denn, daß es ehedem, und zum Theil noch jetzt in den verwandten Sprachen, in so vielen Bedeutungen vorkommt, welche sehr verschieden zu seyn scheinen, aber am Ende doch insgesammt Figuren einer von beyden Arten des Schalles sind.

Figuren von dem Schalle der Rede, welches Wort selbst hierher gehöret, sind 1) rathen, consulere; 2) rathen, divinare;[953] 3) des Ulphilas rathjan, schätzen, rechnen, und das Oberdeutsche raiten, reiten, rechnen; 4) das Engl. to read, lesen; 5) das riaten, in der Monseeischen Glosse, für trösten, und dieses trösten selbst; 6) das Schwed. råda, prodere, wofür wir verrathen sagen; 7) das Schwed. råda, befehlen, herrschen, im Hebr. דדה, S. 3 Rath 3; wovon die im Deutschen veraltete Bedeutung des Könnens, Vermögens, eine Figur ist, welche aber auch zu rathen, reichen, gehören kann; 8) das Schwed. råda, schelten, strafen, züchtigen; 9) das gleichfalls Schwed. råda, erklären, auslegen, und andere mehr.

Figuren von dem durch eine schnelle Bewegung verursachten Schalle und von dieser Bewegung selbst, sind: 1) das Isländische rata, hin und wieder gehen, das Schwed. råda, kommen, und unser gerathen, von ungefähr kommen; 2) unser reiten, equitare; 3) das veraltete ratuon, wofür wir jetzt intensive reitzen sagen; 4) das veraltete raten, ziehen, reißen, Nieders. riten, wovon Kero untratan für entziehen gebraucht, und wovon vielleicht unser entrathen und das Oberd. rath seyn, mangeln, entbehren, abstammen; 5) das gleichfalls veraltete rathen, reichen, womit unser recht und gerade verwandt sind; S. Gerade und Gerecht, Gerathen und Gereichen; 6) das ehemahlige rathen, geben, welches eine Figur der vorigen Bedeutung ist, Schwed. råda. Lat. mit vorgesetztem t, tradere, wovon noch unser berathen in einigen Bedeutungen abstammet; 7) das veraltete rathen, aufschießen, in die Höhe wachsen, welches mit Riese, Reis und andern verwandt ist, und welches in gerathen und mißrathen noch figürlich übrig ist, wohin auch das Schwed. råda, erziehen, aufziehen, gehöret; 8) das Schwed. råda, tödten, umbringen, und andere mehr. Aus allem erhellet zugleich die Verwandtschaft mit Rad, Rede, Rasen u.s.f.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 952-954.
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