Stürzen

[486] Stürzen, verb. regul. welches in doppelter Gestalt üblich ist. I. Als ein Neutrum mit dem Hülfsworte seyn. 1. Plötzlich und mit großer Heftigkeit fallen. Das Pferd stürzt. Mit dem Pferde stürzen, von dem Reiter. Zu Boden stürzen. Der Hirsch stürzt, bey den Jägern, wenn er von einem empfangenen Schusse zu Boden fällt, wo das Zeitwort fallen mit dem Weidemesser bestraft wird. Stax stolperte im Laufen und stürzte hin. Von dem Pferde, von dem Thurme, aus dem Fenster stürzen. Seit jenem Tage, da dem jungen Alexis zwo Ziegen von der Felsenwand stürzten, Geßn. Schade, sprach er, solltest du Baum in das wilde Wasser stürzen, eben ders. Das Wasser stürzt vom Berge herab. In figürlichem Verstande, von einem hohen Grade des Ansehens, der Ehre, der Macht u.s.f. plötzlich in einen niedrigern, verächtlichern Zustand gerathen, der Stolze soll stürzen, Jer. 50, 32, ist es im Hochdeutschen nicht gangbar, obgleich das Activum in der dazu gehörigen thätigen Bedeutung noch völlig üblich ist. 2. Sich mit großer Heftigkeit und Geschwindigkeit, gleichsam stürzend, fort bewegen. Er stürzte in das Zimmer. Tobend stürzt die Fluth daher. Das Blut stürzte aus der Wunde, aus dem Halse u.s.f. Daher der Blutsturz oder die Blutstürzung.

II. Als ein Activum. 1. Schnell und mit großer Heftigkeit von einem höhern Orte fallen machen, als das Factitivum des vorigen Neutrius. (1) Eigentlich. Jemanden von dem Thurme, von einem Felsen, in den Abgrund, aus dem Fenster stürzen. Sich in das Wasser, in den Abgrund, aus dem Fenster, von dem Thurme stürzen. (2) Figürlich. (a) Von einem hohen Grade der bürgerlichen Ehre, des Ansehens, der Macht plötzlich in einen niedrigern Zustand versetzen. Jemandes Macht stürzen. Einen König von dem Throne stürzen. Die Hoffahrt wird ihn stürzen, Sprichw. 29, 23. Einen Minister stürzen. Mit kaltem Herzen wird er den Glücklichen stürzen, welcher seiner Erhebung im Wege steht, Dusch.


Auf sich den Haß der Niedern laden,

Dieß stürzet oft den größten Mann,

Gell.


Ingleichen in weiterm Verstande, plötzlich in einen unvollkommenen Zustand versetzen. Jemanden in das Verderben, in Unglück, in Elend, in Armuth stürzen. Sich in Laster, in Unglück, in Schande, in das Verderben stürzen. Die lange Weile stürzt uns in eine gedankenlose Unthätigkeit. (b) Gerade unter sich, senkrecht nieder gehen, am häufigsten im Bergbaue,[486] von der senkrechten Richtung des Ganges. Der Gang stürzt sich ins Liegende, wenn er aus seiner vorigen Richtung senkrecht nieder gehet. Daher wird der jähe Abhang in einigen Gegenden auch der Sturz und der Absturz genannt.

2. Schnell und mit großer Heftigkeit fortbewegen machen. Die Geläufigkeit ihrer Zunge stürzt alles vor sich heraus, was sich in ihrem Wege findet.

3. Plötzlich umkehren, so daß das oberste zu unterst komme. (1) So daß das darin befindliche plötzlich und in Menge heraus falle. Eine Tonne stürzen, d.i. umstürzen, besonders im Bergbaue, um das darin befindliche auszuschütten. Das Erz aus der Tonne in den Karren stürzen. Einen Karren stürzen, S. Stürzkarren. Die Gläser, die Becher stürzen, figürl. wacker zechen, S. Stürzebecher. Daher Ausstürzen und Umstürzen. (2) Ohne den Begriff der Ausschüttung. Einen in das Wasser gefallenen Menschen stürzen, ihn auf den Kopf stellen, damit das eingeschluckte Wasser von ihm abfließe. Wo oft der Stammbegriff der Heftigkeit und Geschwindigkeit verschwindet, so daß stürzen nichts mehr sagt, als das unterste zu oberst kehren. Einen Vorhang stürzen, ihn so aufmachen, daß das unterste oben komme. Gestürzte Eyer, in den Küchen, hart gesottene, gefüllte und umgewandte Eyer. Das Getreide stürzen, es umschaufeln, umstechen. In einem andern Verstande ist stürzen in der Landwirthschaft, den Brachacker zum ersten Mahle pflügen, weil dadurch die Stoppeln umgestürzet werden, welches Pflügen auch stoppeln, brachen und felgen genannt wird. Auch sagt man von zwey Körpern zuweilen, daß man sie zusammen stürze, wenn man die Oberfläche beyder auf einander legt. Butterschnitten zusammen stürzen, beyde mit Butter bestrichene Oberflächen.

4. Mit einem hohen hohlen Deckel bedecken; entweder als eine Figur der vorigen Bedeutung, so fern ein solcher Deckel als ein umgestürztes Gefäß betrachtet wird, oder auch als eine eigene Onomatopöie des mit dieser Art der Bedeckung verbundenen Lautes. Nieders. stülpen. Den Deckel, die Stürze, auf den Topf, über den Topf stürzen. Die Haube über den Kopf, auf den Kopf stürzen, sie nachlässig und in der Geschwindigkeit aufsetzen. Die Perrücke aufstürzen, eben so. In einigen gemeinen Mundarten wird es indessen für bedecken überhaupt gebraucht, daher auch in der Schweiz Eine Art Bleches, womit die Dächer beschlagen werden, der Stürzer heißt. So auch das Stürzen.

Anm. Bey dem Notker im Neutro sturzan, so wie noch jetzt in einigen Oberdeutschen Gegenden das Neutrum sturzen lautet; im Nieders. störten, im Schwed. störta, dagegen im Engl. start, sowohl aufspringen, auffahren, als auch thätig, aufjagen ist. Die Endsylbe zen verräth ein Intensivum, so daß dieses Zeitwort von staren, stören, steuren, sturen u.s.f. abgeleitet werden muß, so fern sie ehedem verschiedene Arten heftiger Bewegungen bezeichneten, und deren Laut nachahmeten. Bey dem Ottfried ist nidar staren, sich niederbücken, welches das nächste Stammwort von unserm stürzen ist; im Angels. styrian, sowohl bewegen, als auch umkehren, Franz. ohne Zischlaut tourner. Das Lat. sternere, gehöret auch hieher, und unterscheidet sich bloß durch einen gleich bedeutenden intensiven Endlaut von einem andern Laute. In bestürzen hat stürzen noch eine andere jetzt in dem einfachen Zeitworte veraltete Bedeutung, wo es eigentlich starr, stutzig machen zu bedeuten, und nach dem Latein. consternere gebildet zu seyn scheint, im mittlern Lat. stordire, Französ. étourdir, ehedem estourdir. S. auch Sturz, welches noch einige andere jetzt veraltete Bedeutungen aufbewahret.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 486-487.
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