Steigen

[332] Steigen, verb. irregul. ich steige, du steigst, er steigt; Imperf. ich stieg; Mittelw. gestiegen; Imperat. steig, oder steige. Es ist eigentlich ein Neutrum, welches das Hülfswort seyn erfordert aber in einigen Fällen mit der vierten Endung auch als ein Activum gebraucht wird. Es bedeutet,

1. Mit dem Stamm- und Grundbegriffe der Höhe. (1) Im weitesten Verstande, auf Stufen gehen, es sey nun hinaufwärts oder hinabwärts, und in noch weiterer Bedeutung, hinauf oder hinab schreiten oder gehen, so daß die Richtung allemal durch ein Vor- oder Nebenwort bezeichnet wird. Von dem Berge herab steigen. Hinauf, herunter steigen. Aus dem Bette, in das Bett steigen. Auf den Tisch, von dem Stuhle, in das Fenster steigen. Von dem Pferde steigen. S. auch Absteigen. Wo der Begriff der Höhe oft in der bloßen Erhebung der Beine liegt, daher man auch im Scherze sagt, es komme jemand angestiegen, wenn er mit aufgehobenen Beinen und weiten Schritten feyerlich einhergehet, welches man im Nieders. stapeln nennet, von Stapel Staffel. Hier wird es mit der vierten Endung der Fläche oft als ein Activum gebraucht. Ich muß die Treppe des Tages zehnmal steigen, sowohl hinauf, als hinab. Ich kann keine Treppe mehr steigen. Mit den Hauptwörtern Treppe, Leiter, Stiege ist es in dieser Form am üblichsten; seltener mit andern. Doch sagt man auch, den Berg hinauf steigen.

(2) In engerer Bedeutung, vermittelst der Stufen, oder auch mit aufgehabenen Beinen aufwärts oder in die Höhe gehen, auf einer senkrechten oder schiefen Fläche aufwärts gehen.

(a) Eigentlich. Auf einen Baum, auf einen Berg, auf das Dach, auf die Kanzel steigen. Wo es oft auch gebraucht wird, wenn diese Erhebung durch einen bloßen Schritt, durch Erhebung der Beine geschiehet. Auf den Stuhl, auf das Pferd, auf den Tritt, in das Bett u.s.f. steigen.

(b) Figürlich. ά) Sich in gerader oder schiefer Richtung aufwärts bewegen, es geschehe, auf welche Art es wolle; oft im Gegensatze des fallen. Die Fische steigen im Wasser, wenn sie sich nach der Oberfläche zu bewegen. Das Falke steigt in der Luft, wenn er sich in die Höhe schwingt. Die Rakete steigt. Das Wasser steigt, wenn es an Masse, und folglich auch an Höhe zunimmt. Das Barometer ist um zwey Grade gestiegen. Der Wein stieg mir in den Kopf, das Blut in das Gesicht. In das Steigen kommen, anfangen zu steigen.


Die Lerche steigt, und schwirrt von Lust erregt.

Haged.


Ha, welch ein lauter Päan steigt von seinen Siegen

In mein entzücktes Ohr!

Raml.


Das Steigen und Fallen der Töne, der Stimme, der Noten, in der Musik. β) Sich in die Höhe erstrecken. Das Steigende, im Bergbaue, die Erhöhung der Gebirge, Stollen und Strecken; im Gegensatze des Fallenden. Besonders in der höhern Schreibart. Paläste von Marmor steigen dort hoch an die Wolken, Geßn. γ) An Rang und Würde in der bürgerlichen Gesellschaft zunehmen. Er ist in kurzer Zeit sehr hoch gestiegen. Über andere hinweg steigen.


[332] Seyd tapfer, mancher ist gestiegen,

Weil er entschlossen in Gefahr

Und durstig nach der Ehre war,

Gell.


δ) Zunehmen, sowohl an Zahl und Menge, obgleich seltener. Eine steigende Progression, in der Geometrie, wo die folgenden Glieder immer größer werden; im Gegensatze einer fallenden. Wo es besonders von dem Preise üblich ist. Der Preis steigt, ist gestiegen. Die Waare ist im Preise gestiegen, oder auch nur absolute ist gestiegen. Das Korn steigt täglich. Als auch, und zwar am häufigsten, an innerer Stärke. Die Leidenschaft steigt. Die steigende Wuth, Bewunderung, Liebe u.s.f. Sein Glück steigt.

Ehedem war steigen auch für gehen überhaupt sehr gangbar, wo der Begriff der Bewegung in die Länge der herrschende ist, so daß Steg, Stecken, Staken u.a.m. mit zu der Verwandtschaft gehören; bey dem Ulphilas steigan, stiguan, im Angels. stigan, im Schwed. stiga, im Lettischen staigath, im Griechischen σοιχειν, alle für gehen. Siehe auch Stechen, in der Bedeutung der schnellen Veränderung des Ortes. Im Deutschen ist es, außer im Scherze, wo es sich allemahl auf die feyerliche Erhebung der Füße zu beziehen scheinet, in dieser Bedeutung unbekannt. Nur die Jäger gebrauchen es noch von dem Bären, Bieber, und der Otter für gehen. So auch das Steigen.

Anm. In der ersten Hauptbedeutung mit dem Begriffe der Höhe bey dem Kero und Ottfried stigan, im Nieders. stiegen, im Engl. ehedem stey, stig, stie. Der Steig, so fern es ehedem einen Hügel bedeutete, die Steige oder Stiege, eine Zahl von zwanzig, das Oberdeutsche stickel, steil, u.a.m. sind genau damit verwandt. Der Begriff der Ausdehnung in die Höhe und der Erstreckung in die Länge sind in den meisten ähnlichen Wörtern beysammen, weil sie sich auf eine und eben dieselbe Onomatopöie gründen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 332-333.
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