Verlangen

[1074] Verlangen, verb. regul. act. & imperson. welches in einer doppelten Bedeutung üblich ist.

1. Ein lebhaftes Wollen nach einem entfernten Gute empfinden, mit beygemischter Unruhe oder Unlust über der Erwartung, wovon sich sehnen ein stärkerer Grad ist. Es wird in diesem Falle auf doppelte Art gebraucht. (a) Als ein persönliches Zeitwort, da denn der Gegenstand mit dem Vorworte nach ausgedruckt wird. Mein Fleisch verlanget nach dir, Ps. 63, 2. Ich habe lange darnach verlangt. Der Kranke verlangt sehr nach dem Arzte. Man verlangt mit Ungeduld zu sehen u.s.f. Obgleich dieser persönliche Gebrauch noch hin und wieder vorkommt, so ist er doch[1074] weder der üblichste, noch edelste. Am häufigsten gebraucht man es in diesem Verstande. (b) Als ein unpersönliches Zeitwort mit der vierten Endung der Person, so daß der Gegenstand gleichfalls mit dem Vorwort nach, oder auch mit dem Infinitiv und dem Wörtchen zu, zuweilen, obgleich seltener, auch mit dem Bindeworte daß ausgedruckt wird. Nach dir, Herr, verlanget mich, Ps. 25, 1. Mich hat herzlich verlangt, das Osterlamm mit euch zu essen, Luc. 22, 15. O wüßtest du, wie mich nach dir verlangt! Am häufigsten gebraucht man dieses unpersönliche Wort mit Fürwörtern, seltener mit Hauptwörtern. Es verlangte den Kranken, oder den Kranken verlangte nach dem Arzte; besser, er hatte ein Verlangen, oder allenfalls auch persönlich, er verlangte. Eine besondere R.A. ist, es soll mich doch verlangen, wie das ablaufen wird, ob er kommen wird u.s.f. für: es verlangt mich sehr zu wissen, wie u.s.f. Im Oberdeutschen wurde dieses unpersönliche Zeitwort ehedem auch mit der zweyten Endung der Sache gebraucht, welche Verbindung daselbst noch hin und wieder gehöret wird, im Hochdeutschen aber veraltet ist. Es verlangt mich seiner, für nach ihm. Sin langet mih, Notker.

2. In weiterer Bedeutung ist verlangen weiter nichts, als haben wollen, da es denn auch von gegenwärtigen Dingen gebraucht wird, und den Nebenbegriff der unruhigen Erwartung nicht hat. Es wird in dieser Bedeutung persönlich gebraucht, da es denn auch die vierte Endung der Sache erfordert, welche überdieß auch durch den Infinitiv, mit dem Wörtchen zu, oder mit dem Bindewort daß ausgedruckt werden kann. Was verlangen sie von mir? Ich verlange nicht, daß du dich so weit erniedrigen sollst. Man verlangt zu wissen, ob u.s.f. man will wissen. Ich verlange Gehorsam von dir. Von jemanden Geld, Hülfe, ein Amt verlangen. Ich verlange nichts unbilliges. Eine Waare wird verlangt, wenn sich Käufer darnach melden. Er hat sie zur Frau verlangt, da sie arm war, Gell. Jede Frucht verlangt ihren eigenen Boden, erfordert ihn. Er besitzt viel, aber seine Eitelkeit verlangt auch vielen Aufwand, Gell.

Anm. Das Mittelwort verlangt kann nur in der zweyten Bedeutung als ein Beywort gebraucht werden. Dieses Zeitwort lautet bey unsern alten Oberdeutschen Schriftstellern nur langen, bey einigen auch belangen, im Angels. laengian, im Schwed. anlänga, förlänga, im Engl. to long. Im Niedersächsischen hat man davon das Intensivum lungern, lüstern nach etwas seyn, sehnlich verlangen. Wenn man dieses Zeitwort genau betrachtet, so scheinet es in seinen beyden Bedeutungen zunächst von zwey verschiedenen Wörtern abzustammen. In der letzten Bedeutung scheinet es, eine Figur von langen, die Hand nach etwas ausstrecken, zu seyn, in der ersten aber von lange abzustammen, sich gleichfalls die Zeit nach etwas lange werden lassen, daher es hier auch den Begriff der unruhigen Erwartung hat, welcher der zweyten Bedeutung fehlet. Dieses wird nicht nur durch die gemeinen Sprecharten bestätigt, wo sich verlangen lassen, absolute, so viel bedeutet, als sich die Zeit lange werden lassen.


Mein Engel laß dich nicht verlangen,

Die Freude bringt das Warten ein,

Gell.


Sondern auch durch das Französische, wo, il me tarde, auch verlangen ist. Die verschiedene Form der Zeitwörter und ihre verschiedene Construction bestätigt diese verschiedene Abstammung, auf welche man nothwendig sehen muß, wenn man den Unterschied dieses Wortes von begehren, Lust haben, wollen u.s.f. bestimmen will, ungeachtet solches noch von keinem geschehen, selbst von Stosch nicht, der sich in seinen kritischen Anmerkungen S. 112 am weitläufigsten dabey aufhält.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1074-1075.
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