Vermuthen

[1097] Vermuthen, verb. reg. act. welches auf doppelte Art gebraucht wird. 1. Als ein eigentliches Activum, aus Einem oder mehreren wahrscheinlichen Gründen schließen, wie muthmaßen, aus Vergleichung mehrerer wahrscheinlicher Gründe. Das habe ich nicht vermuthet. Wer hätte das vermuthen sollen? Es ist zu vermuthen, daß es so kommen wird. Es wird vermuthet, man vermuthet, daß u.s.f. Das hätte ich von dir nicht vermuthet. Jemanden vermuthen, in engerer Bedeutung, seine Ankunft vermuthen, aus wahrscheinlichen Gründen hoffen, daß er kommen werde. Ich vermuthe heute Besuch. Wer hätte ihn in dem Aufzuge vermuthet. Ein vermutheter Besuch. Etwas vermuthen seyn, für etwas vermuthen, ist eine Niederdeutsche Wortfügung, welche indessen auch im gemeinen Leben der Hochdeutschen nicht selten ist. Ich bin es mir vermuthen. 2. Als ein Reciprocum, sich etwas vermuthen, in den vorigen Fällen, aber am häufigsten nur im gemeinen Leben[1097] und der vertraulichen Sprechart. Ich glaube, daß sie sich dergleichen fremden Antrag niemahls vermuthet hätten.

Daher das Vermuthen, der Zustand der Seele, da sie etwas vermuthet. Wider alles Vermuthen. Über alles Vermuthen. Ingleichen die Vermuthung, die wahrscheinliche Meinung selbst, S. solches besonders.

Anm. Vermuthen, Nieders. vermoden, Schwed. formoda, stammt von dem veralteten Zeitworte muthen her, welches ehedem von mehreren Verrichtungen der Seele gebraucht wurde, S. Muth. Ver bezeichnet hier eine bloße Intension, daher die Niedersachsen auch nur das einfache moden, muthen, dafür gebrauchen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1097-1098.
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