Vollkommen

[1234] Vóllkommen, adj. et adv. vollkommener, vollkommner, vollkommenste, ein altes, jetzt nur noch in figürlichem Verstande übliches Wort. Es bedeutete ehedem,

1. * Eigentlich, an den verlangten Ort gekommen, da es denn eigentlich das Mittelwort des veralteten Zeitwortes vollkommen ist, welches nach dem Muster des Latein. parvenire gebildet worden, so wie das Latein. per in mehrern Zusammensetzungen durch voll gegeben worden. Von diesem alten Zeitworte kommen noch häufige Spuren vor. Zuerst findet es sich in dem alten Lege Ludouici er Lotharii vom Jahre 840, wo vollocamen, dahin gelangen, bedeutet. So si folle choment dara si folle chomon sulu, wenn sie dahin gelangen, wohin sie gelangen sollen, heißt es bey dem Notker. In weiterer Bedeutung wurde hernach das Zeitwort vollkommen für vollenden, zu Ende, zu Stande bringen, gebraucht, welche Bedeutung das Dänische fuldkomme, und das Schwed. follkommna noch haben. Auf diese mehr eigentlichen Bedeutungen gründen sich,

2. Die noch üblichen figürlichen. Es bedeutet nämlich, (1) Ganz, unverkürzt, unverletzt; welche Bedeutung nur noch hin und wieder im gemeinen Leben vorkommt. (2) Dinge, welche aus mehrern einzelnen Theilen bestehen, heißen vollkommen, wenn keiner dieser einzelnen Theile daran mangelt. Eine Zahl ist vollkommen, wenn nichts daran mangelt. Ein Kind ist schon ein vollkommner Mensch, weil es alle Theile hat, welche zu einem Menschen erfordert werden. Auch diese Bedeutung kommt am häufigsten im gemeinen Leben vor; indem dafür in der bestimmtern Schreibart vollständig, und wenn von Zahlen die Rede ist, vollzählig gebraucht wird. S. diese Wörter. (3) In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung ist vollkommen, nicht allein alle zu seiner Absicht, zu seiner Bestimmung nöthigen einzelnen Theile, sondern auch jeden wiederum in dem gehörigen Grade der Güte, oder innern Stärke habend, und darin gegründet. So muß wenigstens das Wort, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche zu Folge, erkläret werden, und wenn in den philosophischen Lehrbüchern dasjenige vollkommen ist, wo das Mannigfaltige auf die gehörige Art zusammen stimmt, so ist solches eben dasselbe, nur mit andern Worten gesagt. Gemeiniglich gebraucht man das Wort relativ, sowohl in Beziehung auf gewisse Theile, noch mehr aber in Beziehung auf die Bestimmung oder Absicht eines Dinges; weil im schärfsten und höchsten Verstande nur allein Gott vollkommen genannt werden kann, und in diesem relativen Verstande findet allerdings eine Comparation Statt. Jemand ist ein vollkommner Redner, vollkommner Dichter, vollkommner Kaufmann, wenn er nicht allein alle dazu nöthigen Eigenschaften, sondern auch jede in dem erforderlichen hohen Grade besitzet, wofür in der vertraulichen Sprechart auch das Wort ganz üblich ist; ein ganzer Redner. In einer Kunst vollkommen seyn. Eine vollkommne Tugend. Ein vollkommner Mann, ein ganzer Mann, der alle zu einer gewissen Absicht nöthigen Eigenschaften in dem gehörigen Grade besitzet. Ein vollkommnes Glück. Das macht mein Glück, mein Unglück vollkommen. Sich immer vollkommner zu machen suchen. Eine vollkommne Schönheit. In der Welt ist nichts vollkommen, im höchsten, absoluten Verstande. Eine vollkommne Cubik-Zahl, Quadrat-Zahl u.s.f. in der Rechenkunst, deren Wurzel sich genau angehen läßt. Vollkommne Blumen, in der Botanik, welche männlich und weiblich zugleich sind, und noch häufiger Zwitterblumen genannt werden. Eben so bedeutet das Nebenwort vollkommen sowohl im höchsten relativ möglichen Grade, als auch in weiterm Verstande,[1234] zu seinem Zwecke hinlänglich. Ich verstehe dich vollkommen. Du hast es vollkommen getroffen. Sie haben vollkommen Recht, völlig, in allen Stücken. Da es denn oft auch andern Bey- und Nebenwörtern vorgesetzt wird, sowohl den höchsten möglichen, als auch nur den hinlänglichen Grad derselben zu bezeichnen. Vollkommen gut, vollkommen weise, vollkommen gerecht. Ein vollkommen rechtschaffener Mann. (4) Im engsten Verstande wird vollkommen häufig von Kleidungsstücken und andern ähnlichen Dingen gebraucht, wenn sie die gehörige Weite und Größe haben. Ein Kleid ein wenig vollkommner machen. So wie es zuweilen auch für völlig, das ist, corpulent, gebraucht wird. Im Gesichte vollkommen seyn, völlig. In der Kleidung sieht er vollkommner aus, corpulenter.

Anm. Das Wort lautet in der heutigen Bedeutung für perfectus schon bey dem Notker und Strycker fullechomen, volchomen, im Nieders. vullenkamen. Wachter, dem das alte Zeitwort vollkommen, pervenire und hernach persicere, unbekannt war, gerieth in Ansehung dieses Beywortes auf seltsame Abwege, so daß er es endlich auch als eine Zusammensetzung von voll und dem Griech. κειμενος ansahe. Ehe vollkommen in dieser figürlichen Bedeutung eingeführet wurde, gebrauchte Kero dafür duruthaan, durchgethan, der Übersetzer Tatians thuruchtig, eben daher, und Lipsii Glossator thurofremig, lauter buchstäbliche Übersetzungen des Lat. perfectus. Notkers durnocht und Hornecks durnaht, vollkommen, sind ohne Zweifel aus duruhtan, welches bey dem Kero auch duruhtonchta, lautet, zusammen gezogen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1234-1235.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika