Vorüber

[1310] Vorǘber, ein Nebenwort, eigentlich des Ortes, figürlich aber auch der Zeit, vor einem andern Dinge über, d.i. an dem vordern Theile hin und weg; wo es in der edlern Schreibart gern für das im täglichen Umgange gewöhnlicher vorbey gebraucht wird.

1. Eigentlich, von dem Orte. Wenn denn nun meine Herrlichkeit vorüber gehet, – bis ich vorüber gehe, 2 Mos. 33, 22; d.i. vor dir vorbey. Da man vorüber ging, siehe, da war er dahin, Ps. 37, 36. Die aber vorüber gingen, lästerten ihn, Matth. 27, 39. So auch vorüber laufen, reisen u.s.f. So gar der Mensch geht fühllos hier vorüber. Wo andere mit ekler Unempfindlichkeit vorüber gehen, da lächeln manigfältige Freuden um ihn her, Geßn.

Wenn der Gegenstand, vor welchem etwas vorbey gehet, vermittelst eines Nennwortes ausgedruckt wird, so pflegt man im gemeinen Leben wohl das vorüber zu trennen, und alsdann das vor vor dem Nennworte zu setzen; welches auch sehr oft in der Deutschen Bibel geschiehet. Und da der Herr vor seinem Angesicht über ging, 2 Mos. 34, 6. Habe ich Gnade funden vor deinen Augen, so gehe nicht vor deinem Knechte über, 1 Mos. 18, 3. Meine Brüder gehen verächtlich vor mir über, Hiob 6, 15. Paulus hatte beschlossen, vor Epheso über zu schiffen, Apost. 20, 16. Den Übelklang, welchen dieses in der edlen Schreibart verursacht, vermeidet man am sichersten dadurch, daß man das Nebenwort ungetrennt lässet, und vor vor dem Nebenworte wiederhohlt. Er ging vor uns vorüber. Wie bitter ist der Tod dann, wenn er vor dem Unglücklichen vorüber geht! Wo man in der höhern Schreibart auch wohl das vor wegzulassen pflegt.


Tiefsinnig ging mein Vater mir vorüber, Schleg.

Da ging der holdselige West, zuerst gefühlt, mir vorüber,

Zach.


Wenn aber einige hier die vierte Endung gebrauchen, so scheinen sie theils durch die im Lateinischen mit praeter in eben demselben Verstande zusammen gesetzten Zeitwörter verleitet zu seyn, praeterire villam, praeterlabi aliquid u.s.f. theils durch die figürliche Bedeutung des vorbey, einen vorbey gehen, ihn übergehen.


Der Schlaf wird mich vorüber gehen,

Zach.


Bald wird ein Mädchen hier den Pfad vorüber gehn, schön wie eine der Grazien, Geßn. Die reinesten Freuden[1310] misset der, der nachläßig deine Schönheiten (Natur) vorüber geht, eben ders. In allen diesen Stellen empfindet schon das Ohr den Übellaut, der aus Verfehlung des rechten, dem vor gebührenden Endung entstehet. Hingegen, einen vorüber gehen, d.i. ihn übergehen, würde dem Sprachgebrauche nach richtiger in der vierten Endung stehen können, wenn es nur gebräuchlich wäre.

2. Figürlich, der Zeit nach, wie vorbey, gleichfalls nur in der edlern Schreibart, von einer verflossenen Zeit, noch mehr aber von einer zu Ende gegangenen, oder doch aus unserm Empfindungskreise gewichenen Wirkung oder Handlung. Das Jahr, die Woche, die Stunde, ist nun vorüber. Bis daß das Unglück vorüber gehe, Ps. 57, 2. Verbirge dich ein kleinen Augenblick, bis der Zorn vorüber gehe, Es. 26, 20. Die Schmerzen sind noch nicht vorüber. Ist der Zufall vorüber?

Anm. Die ältesten Deutschen Schriftsteller gebrauchen für dieses Nebenwort entweder furi allein, furifaren. Ottfr. vorüber gehen, oder uvre allein, wie Willeram. Über wird noch im gemeinen Leben einiger Gegenden, besonders Nieder-Deutschlandes, für vorüber gebraucht.


Ja wär der Thränen erster Ausbruch über,

Schleg.


Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1310-1311.
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