Die Orakel

[304] Die Orakel waren bei den Griechen angebliche Aussprüche der Götter, die durch inspirirte Personen auf die Anfragen der Laien ertheilt wurden. Es war Volksglaube, daß die Götter an gewissen Orten ihren Willen den Priestern unmittelbar verkündigten. Das älteste dieser Orakel war in der Stadt Dodona, und unter dem Namen eines Orakels des Jupiters bekannt. Weit berühmter war aber das Orakel des Apollo zu Delphi, das alljährlich von einer Menge Fremden besucht wurde, die den Willen des Gottes über zweifelhafte ihnen interessante Fragen zu wissen begehrten. Man mußte mit Geschenken und Opfern reichlich versehen sein, wenn man einer Antwort gewürdigt werden wollte. Ueberdieß war es nöthig, sich durch die Einweihung in gewisse Mysterien und durch die Beobachtung heiliger Gebräuche zur Anhörung des Ausspruchs würdig vorzubereiten. Pythia – so hieß die Priesterin – setzte sich alsdann auf den heiligen Dreifuß, der im Innern des Tempels über einer Vertiefung, aus der beständig ein Dampf aufstieg, angebracht war, und ertheilte unter krampfhaften Zuckungen, mit verstellter [304] und fürchterlich tönender Stimme die Beantwortung auf die Anfrage, welche allemahl in wenig Worten abgefaßt und gewöhnlich so dunkel und räthselhaft war, daß man sie nach Gutdünken auslegen konnte. Es ist unbegreiflich, wie die sonst aufgeklärten Griechen so einer Anstalt trauen konnten, bei welcher der Priesterbetrug beinahe am Tage lag; aber der Glaube daran war zu sehr mit der Volksreligion im Ganzen verwebt, als daß die Weisen des Volks ihn in seiner Blöße darzustellen und zu stürzen versucht haben sollten. Die Römer hatten keine eigentlichen Orakel, allein bei zweifelhaften Fällen befragten sie die Griechischen. Die Orakel gaben nicht immer Antwort: sie verstummten oft eine Zeit lang; und nach der größern Ausbreitung des Christenthums, nach den Zeiten des Kaisers Julian im 4. Jahrhundert, erloschen sie gänzlich.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 304-305.
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