Jean Racine

[31] Jean Racine, einer der größten Trauerspiel-Dichter der Franzosen, wurde den 21. December 1639 zu Ferté Milon geboren. Die Sprachen der Alten studirte er in der Abtei Port Royal des Champs, wo er schon Beweise seiner Vorliebe für die Tragödie gab. Oft suchte er hier die einsame Stille des Waldes, um ungestört der Leetüre des Euripides, den er bald nachahmte, sich überlassen zu können. Seine Wißbegierde war so groß, daß er oft Bücher verbarg, um in der Erhohlungsstunde sich ihrem Unterrichte zu weihen. Man erzählt, daß ihm der Sacristan Claude Lancelot, der ihn im Griechischen unterwies, nach und nach drei Exemplare von der Liebe des Theagenes und der Chariclea verbrannt habe. Er betrat, nachdem er die Humaniora zu Port Royal und die Philosophie im Gymnasium zu Harcourt studirt hatte, die schriftstellerische Laufbahn. Das erste Product seines Genies bestand in einer Ode, zu der ihm die Vermählung Ludwigs des vierzehnten die Veranlassung gab. Er erhielt für sein Gedicht außer einem Geschenke von 100 Louisdʼor ein Jahrgeld von 600 Livres; und diese Belohnung bestimmte ihn, sich ganz der Dichtkunst zu widmen. Seine Gedichte erhielten Beifall: aber seine zahlreichen Trauerspiele erregten Bewunderung; und bald fingen diese an, den schon gegründeten Ruhm des Corneille zu verdunkeln. Racine würde übrigens der tragischen Muse noch mehr geopfert haben, wenn ihn nicht der Tadel parteiischer [31] Kritiker und die Cabalen der Geistlichkeit von dem Altare jener Göttin entfernt hätten. Im Jahr 1677 erhielt er den Auftrag, mit Boileau an einer Geschichte Ludwigs des vierzehnten, dessen Günstling er war, zu arbeiten; aber er that für dieses Werk sehr wenig. Ein Memoire, das er auf Veranlassung der Frau von Maintenon schrieb, und in dem er sich über die Mittel erklärte, die dem Elende, in dem das Volk seufzte, abhelfen könnten, entzog ihm die Gunst des Monarchen. Dieser Unfall verursachte seinen Tod; er starb 1699, und hinterließ den Ruhm, als ein rechtschaffener Mann gelebt zu haben. Seine Schriften bestehen, außer einigen unbedeutenden historischen Versuchen, in Epigrammen, vermischten Gedichten, Briefen, hauptsächlich aber in Trauerspielen, unter denen sich auch zwei biblische befinden. Von seinen theatralischen Werken sind Athalia, Britannicus, Iphigenia und Phädra unstreitig die wichtigsten. Er ahmte mit Glück die Tragiker der Griechen nach, wählte, mehr als Corneille, die Liebe zum Hauptgegenstand seiner Stücke, und brachte überhaupt die Französische Tragödie, die jener der Barbarei kaum entrissen hatte, der Vollkommenheit um vieles näher. Er ist durch den Wohlklang im Versbaue, die Reinheit und Eleganz der Sprache, die Simplicität des Styls, die Haltung der Schreibart, die Wahrheit des Ausdrucks über Corneille erhaben; aber er steht diesem Dichter in Hinsicht des Schwungs, des Feuers, der Begeisterung, so wie dem ältern Crebillon in Ansehung des Schrecklichen und Schaudervollen nach. Es läßt sich indessen kaum bestimmen, ob Corneille oder Racine mehr Werth besitzt; Jeder hat eigenthümliche Schönheiten. Stellen wir beide mit den Griechischen Tragikern zusammen, so scheint Corneille mehr dem Sophocles, Racine mehr dem Euripides zu gleichen. Uebrigens sind die Theaterstücke des Racine nicht ohne Satyre und persönliche Persifflage. Durch jene charakterisiren sich besonders seine Prozeßsüchtigen, das einzige Lustspiel, das wir von ihm haben; durch diese zeichnen sich hauptsächlich seine biblischen Stücke, Esther und Athalia, aus. Die vollständigste Ausgabe seiner Werke, die auch noch jetzt häufiger als die des Corneille gelesen werden, ist zu Paris bei Didot dem jüngern 1796 in vier Octavbänden erschienen. Mit einer Biographie dieses großen Theaterdichters hat[32] uns der Sohn desselben (Louis Racine) beschenkt. Diese Lebeusbeschreibung ist von Schmidt Deutsch bearbeitet und mit einer genauen Beurtheilung des dichterischen Werthes des Jean Racine begleitet worden. Der Leser findet diese Bearbeitug im ersten Theile der von dem Genannten herausgegebenen Biographien der Dichter.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 31-33.
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