Roman

[322] Roman. Mit dieser Benennung wird eine Gattung der zahlreichsten Geistesprodukte des neuern Europa bezeichnet, die sich aller Classen der menschlichen Gesellschaft in den cultivirten Ländern dieses Welttheils bemächtigt hat, und einen großen Zweig der schriftstellerischen, so wie der merkantilischen Industrie des Buchhandels ausmacht. Sein Gegenstand ist der Mensch, unter allen Formen und Gestalten, in Verhältnisse und Schicksale verflochten, wie ihn sich nur die schöpferischste Phantasie zu denken und darzustellen vermag. Vorzüglich sind das menschliche Herz und menschliche Charaktere nach ihrer mannigfaltigsten Mischung, ihren verschiedensten und sonderbarsten Trieben, Neigungen, Leidenschaften, Launen, Gesinnungen sein unerschöpflicher und unter den Händen großer, mit Beobachtungsgeist ausgestatteter Schriftsteller, in diesem Fach, stets neuer Gegenstand. Eben so unumschränkt, als in der Wahl seiner Gegenstände, ist der Roman in seiner Form: Erzählung (fortlaufend, oder in Abschnitte – Kapitel – getheilt), Brief, Dialog; fast jede Darstellungsweise eignet er sich zu, und oft alle zugleich.

Jedem Roman liegt eine Fabel zum Grunde, d. i. eine Reihe zusammenhangender Begebenheiten, die das Schicksal und die Verhältnisse der darin aufgeführten Personen von einem Zeitpunkt zum andern dergestalt verändert zeigen, daß sie die Besorgniß des Lesers für solche erregen, der Alles sich immer mehr verwickeln und verschlingen sieht, bis sie sich am Ende auf eine nicht immer [322] unerwartete, aber doch immer befriedigende Art entwikkeln. Ohne Fabel giebt es keinen wahren Roman (Jean Paul Friedrich Richters Romane sind darin sehr vernachläßigt, fast nur abstracte Wesen von Personen, abgerißnen Situationen und einer Ueberfülle von Raisonnements); und je vollkommner die Fabel ist, je mehr Personen, Situationen und Begebenheiten aus und durch einander entspringen, einander binden und bestimmen, je mehr demnach Alles in Leben und Wirklichkeit ist, durch Verwickelung und Entwickelung die Erwartung spannt und befriedigt, desto vollkommner ist der Roman. Man sieht daraus von selbst, was für eine Art von Geisteswerken der Roman ist: nehmlich eine Art, oder, wenn man lieber will, eine Abart von Poesie, die sich aber zu ihren Darstellungen der Prosa bedient und den freiesten Spielraum erlaubt. Durch seine Fabel, seine (nur nicht gerade durch Handlung) charakterisirten Personen, seine Verwicklung und Entwicklung spielt er in die epische und dramatische Poesie, von denen er sich aber durch weniger raschen Fortgang, als im Drama, und durch weniger Handlung, als selbst im Epos, so wie durch seinen letzten Zweck und seine Form unterscheidet. Der Roman will gefallen, (nicht bloß belehren) wie die Epopee und das Schauspiel, und dieß macht ihn zu einem freien, obwohl an die Wirklichkeit sich am meisten haltenden Produkt der Einbildungskraft; aber er bezweckt weder bloß das Wunderbare der Epopee (ob er gleich von dem Wunderbaren – wie dieß in Schillers Geisterseher auf eine meisterhafte Art geschieht – sehr zweckmäßig Gebrauch machen kann), noch bloß den Eindruck des Schauspiels, Lustspiels oder Trauerspiels innerhalb eines eben so beschränkten und abgemeßnen Raums. Es giebt Romane der komischen (z. B. Jüngers Fritz), der satyrischen z. B. die Romane von Swift), der tragischen (z. B. die Leiden des jungen Werther) Art; die größte Anzahl hat mit dem Eindruck des Schauspiels Aehnlichkeit (fast alle Lafontainische Romane gehören in diese Classe von gemischten Empfindungen, die weder einen komischen, noch tragischen Ausgang hat). Selbst eine Gattung des Naiven hat sich der Roman, oder hat vielmehr Anton Wall dem Deutschen Romane angeschaffen, in der er einzig, auch von seinen glücklichsten Nachahmern z. B. Friedrich Laun, unerreicht dasteht, so wie er sich in [323] Absicht seines ganzen schriftstellerischen Werths durch seine wahren Kunstwerke noch über Lafontaine erhebt. In Absicht auf seinen Umfang ist der Roman völlig unumschränkt: wenn er nur, in der längsten Reihe von Bänden, wie z. B. die Clarissa, das Interesse zu erhalten weiß. Auch unterscheidet sich der Roman von den eigentlich poetischen Gattungen des Epos und Drama dadurch, daß er auf eine andre, verweilendere und allseitigere, mehr raisonnirende als anschauliche, Art Belehrung mit Unterhaltung verbindet.

Romane werden stets Bedürfniß auch des gebildetsten Publicums sein. Langeweile und Bedürfniß nach Unterhaltung, die Alltäglichkeit der Wirklichkeit und Gegenwart, das Interesse der Neugier und gespannten Erwartung, der Hang zum Wunderbaren, das Wohlgefallen an Abenteuern und kühnen Thaten, die Spiele des Zufalls und des Schicksals, Mangel an Ausbildung und Unfähigkeit, sich mit einem andern, belehrenden oder wissenschaftlichen, Gegenstande zu beschäftigen, und wie viele andre Triebfedern des menschlichen Geistes und Herzens, ziehen den größten Theil der Menschen in die Welt der Romane hinein. Bei sehr Vielen wird die Romanenlectüre eine Sucht, und bei solchen, die weiter nichts als Romane lesen, ein Geist und Herz tödendes Gift. Ja, es giebt nicht Wenige, welche durch ungemeßne Romanenlectüre ihren. Verstand verloren, durch Anfüllung des Kopfs mit phantastischen Vorstellungen und durch Verwirrung aller Begriffe sich eine wirkliche Geistesverwirrung und Zerrüttung des Geistes zuzogen. Das ist auch sehr natürlich, da die mehr sinnliche als intellectuelle (die Sphäre der eigentlichen, höhern Bildung von Geist und Herz) Gattung des Romans wohl zur Unterhaltung, Erhohlung, Erheiterung, Belebung und Erquickung des Geistes, aber nicht zur Nahrung desselben taugt. Auch der Roman muß, wenn er mehr als ein bloßes, unnützes Spielwerk sein soll, sich an Wahrheit und Wirklichkeit, und zwar mehr als ein andres Product der Phantasie, halten (hierin liegt auch der Grund seiner prosaischen Form), und es macht in dieser, so wie in mehrern andern Hinsichten dem Deutschen Publicum, vorzüglich der diesem Schriftsteller so sehr ergebnen, schönen Welt Ehre, in Lafontaine dessen Liebling zu sehn. Aber was soll man zu der Liebe eines gewissen Publicums für den ungeheuern Räuberhauptmann [324] Rinaldo Rinaldini, für die Ausflüsse des Cramerschen Genieʼs und für die Producte ähnlichen Gelichters sagen?–

Es giebt auch Romane für die denkende Welt; sonst würde dieser Theil des Publicums, der unmöglich andre Romans als die eines denkenden Kopfs zu seiner Unterhaltung und Belehrung lesen kann, und doch das Bedürfniß der Unterhaltung und Phantasie, außer dem Kreise der Wissenschaften in Stunden der Erhohlung und zur Belebung des Geistes mit dem größern Publicum theilt, hier ganz leer ausgehn. Für diese Classe des Publicums ist Jacobiʼs Woldemar, sind vorzüglich Wielands Romane ein Agathou, Agathodämon, Aristip, Peregrinus Proteus. Auch der denkende Geschäftsmann, so wie jeder, wenn auch nicht wissenschaftlich gebildete Mensch findet in dieser Hinsicht durch die historischen Romane von Voß, aus der Englischen Geschichte, die Unterhaltung mit Belehrung auf das schönste vereinigt, ohne der Geschichte Abbruch zu thun, so wie in Kniggeʼs, Müllers in Itzehoe, Romanen für sich gesorgt. Jean Paul Friedrich Richterʼs Romane, denen es oft an Tiefe des Geistes nicht fehlt (häufiger ist er wie Young nur scheinbar tief), gewähren nur bei weitem nicht genug das freie Vergnügen des Romans und des unbeleidigten Geschmacks. Als wirkliches Kunstprodukt in Absicht auf Haltung, Rundung, Glätte, Harmonie und Ebenmaß des Ganzen und einzelner Theile, des Inhalts und Vortrags hat unter Jean Paulʼs Schriften das auch durch seinen tief gefühlten Gegenstand vorzügliche, Campanerthal (nur nicht der Anhang dazu) noch den meisten Werth.

Unter den vorzüglichsten Romanen, welche die Probe der Zeit gehalten haben und bestehen, glänzen als Sterne der ersten Größe: der Donquixote von Cervantes, Sterneʼs (Tristram Shandy mit dessen Yoriks empfindsame Reisen), Fieldings (vorzüglich dessen Tom Jones), Richardsons (Clarissa und Grandison) Romane, in der Französischen Literatur Rousseauʼs neue Heloise; unter den Deutschen Götheʼs Leiden des jungen Werther und Wilhelm Meisters Lehrjahre, Schillers Geisterseher, Thümmels Reisen und Engels Herr Lorenz Stark. (Wielands Romane [325] sind schon genannt.) Alle andre lassen sich in dieser Classe nicht nennen; und die Zahl der Meisterwerke im Fach des Romans ist, der Fluth von Romanen zum Trotz, sehr klein.

Viel älter, als der Name Roman – der an die barbarischen Zeiten der verdorbnen Römersprache im Mittelalter erinnert – ist die Sache selbst. Der Sache nach hatten ihn schon die Alten, aber nur in einem und dem andern Produkt. Xenophonʼs Cyropädie, dessen Gastmahl, mehrere Stücke von Plato und Lucian, Petronʼs Satyricon tragen an sich den Charakter des Romans.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 322-326.
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