Boutroux, Emile

[74] Boutroux, Emile, geb. 1845 in Montrouge, Prof. in Paris (Sorbonne).

B. ist ein von Kant u. a. beeinflußter »Neospiritualist«, der die Aktivität und Freiheit des Geistes betont, eine Freiheit, deren Abglanz mehr oder weniger die Welt erfüllt. In der Welt herrscht eben nicht starre Notwendigkeit, sondern auch »Kontingenz« und schöpferische Entfaltung. Die Gebiete der verschiedenen Disziplinen und deren Gesetzlichkeiten ordnen sich einander so über, daß von der relativen Notwendigkeit des Mechanischen bis zur freien Aktivität des Geistes Übergänge stattfinden, die überall Neues, aus dem Niederen nicht völlig Ableitbares aufweisen; auch die Notwendigkeit des Mechanischen ist nur durch Gewohnheit mechanisierte Spontaneität (vgl. James u. a.). Die Naturgesetze sind nur annähernd strenge Gesetze, sie lassen der Kontigenz, der Individualität des Wirkens, der Freiheit Raum. Die Naturgesetze formulieren nur die Folgen der Wechselwirkung der Dinge selbst gehen ihnen nicht voran. Sie sind »die Summe der Methoden, die wir erfunden haben, um uns die Dinge anzueignen und sie in den Dienst unseres Willens zu stellen« (Aktivismus). Das Sein ist an sich »contingent dans son existence et dans sa loi« (Conting. d. lois, p. 43). Die Aktivität des Geistes geht auf Beherrschung der Natur. Der Geist entwickelt sich mit der Wissenschaft. »Einerseits ist es der Verstand, der die Wissenschaft macht... Anderseits wirkt das Werk auf den Arbeiter, und das, was wir die Kategorien des Verstandes nennen, ist nur die Gesamtheit der Gewohnheiten, die der Geist angenommen hat, indem er sich bearbeitete, um sich den Erscheinungen anzupassen.«

Metaphysik und Religion haben gegenüber dem abstrakten Standpunkt der Wissenschaft und ihres Determinismus endgültige Bedeutung für die Bestimmung des Wesens der Wirklichkeit. Der Pragmatismus und die »Aktionsphilosophie« (Blondel u. a.) enthalten berechtigte Momente, sind aber einseitig, vernachlässigen die objektive Bestimmtheit des Erkennens bezw. die Bedeutung des Intellekts auch für die Religion. Die Wissenschaft ersetzt die Dinge durch Symbole, welche das Allgemeingültige der Objekte darstellen: sie drückt die Qualitäten durch Quantitäten aus. Aber die Wissenschaft vermag die Dinge nicht ganz zu ergreifen, auch ist sie unpersönlich. Es besteht daneben noch die Möglichkeit und das Bedürfnis, die Dinge vom Standpunkt des Individuums aus zu systematisieren, wie dies die Religion tut, welche die Persönlichkeit betont, den Glauben an die Wirklichkeit und den Wert der Individualität einschließt. Das volle menschliche Leben stellt andere Forderungen als die bloße Wissenschaft. Die Religion nun bietet dem Menschen ein reicheres und tieferes Leben als das bloß verstandesmäßige Leben, sie ist »eine Art Synthese oder vielmehr eine Art inniger und geistiger Vereinigung des Instinkts und Verstandes«. Der religiöse Geist ist »der Glaube an die Pflicht, das Forschen nach dem Guten und die allgemeine Liebe«. Das religiöse Prinzip offenbart sich[74] immer mehr als die Behauptung der schöpferischen Macht des Geistes und verkörpert sich in Symbolen.

SCHRIFTEN: De la contingence des lois de la nature, 1874, 4. éd. 1902. – De l'idée de loi naturelle, 1895 (auch deutsch, 1908). – Questions de morale et de pédagogie, 1896. – Etudes d'histoire de la philos., 2. éd. 1901. – La psychol. du mysticisme, 1902. – Science et réligion, 1908; deutsch 1910, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 74-75.
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