Kern, Berthold

[347] Kern, Berthold, geb. 1848 in Münsterberg, Generalarzt u. Prof. an der Kaiser Wilhelms-Akademie in Berlin.

K. vertritt zunächst den »kritischen Idealismus« z. T. in einer Hegel, Cohen u. a. sich nähernden Weise. Das Denken ist das logische A priori der Erkenntnis, alle Erkenntnisformen sind Denkformen, alle Erkenntnisgegenstände Denkinhalte, wobei aber hier unter Denken ein überindividueller Prozeß, eine Selbstbewegung der Denkinhalte selbst verstanden wird. Alle Erkenntnis ist Denkerwerb, auch die Empfindung ist ein solcher, einerseits vom Gegenstände, anderseits von der Tätigkeit des Geistes abhängig. Die Empfindung ist bereits ein »verwickeltes Ergebnis des Denkens«, ein automatisch gewordenes und ererbtes[347] Urteil. Der Subjektivismus und Psychologismus ist abzulehnen; es gibt apriorisch bedingte, allgemeingültige, objektive Erkenntnis. Wir bilden die Begriffe Raum und Zeit in unserem Denken, weil der Gegenstand der Erkenntnis es so erfordert. Raum und Zeit sind »logische Methoden der Ordnung und Veranschaulichung unseres Empfindungsinhaltes«, zugleich aber »Grundlagen unseres reflektierenden Denkens« und Eigenschaften der Erfahrungsobjekte. Unsere Bewußtseinsvorgänge, welche wir unmittelbar erleben, bleiben das »An sich«, dem die Außenwelt als »räumlich verarbeiteter Erlebnisinhalt« gegenübertritt. Die Verdoppelung des Erfahrungsinhalts, die Scheidung zwischen Erscheinung und einem unbekannten »Ding an sich« ist abzulehnen. Erkenntnis ist einheitlich geordnete Beschreibung des als Denkinhalt Gegebenen, also nicht auf ein Ding an sich bezogen. Denken und Objekt stehen einander nicht fremd gegenüber, sondern beide bedingen einander wechselseitig; steigende Anpassung an die objektive Wirklichkeit ist das Erkenntnisziel. Das einheitliche Erkenntnismittel ist der »Begriff«, vom klarsten und umfassendsten Denkbegriff bis herab zum bloßen »Begriffsdifferential« (Empfindung, Gefühlsempfindung usw.). Der Raum ist der Kern des ganzen physischen Begriffssystems. Mittels seiner entäußern wir uns des Inhalts unserer Vorstellungen und geben ihm, unter Mitwirkung des Substanzbegriffes, ein selbständiges Dasein.

Daraus ergibt sich die richtige Auffassung von Leib und Seele, von physisch und psychisch, Geist und Materie. Eine Wechselwirkung zwischen Psychischem und Physischem besteht nicht, weil die notwendigen und bewährten Grundsätze der geschlossenen Naturkausalität und der Erhaltung der Energie sowie die schließliche Identität beider Geschehensreihen eine solche verbieten. Das physische Sein ist nur das verräumlichte Sein dessen, was in seiner unräumlichen Form psychisch ist. »Wir haben hiernach nicht zwei in Wirklichkeit verschiedene Vorgangsgattungen, sondern nur ein und denselben realen Grundvorgang vor uns, den wir im Rahmen objektiver Naturbetrachtung in räumlich-stoffliche Begriffe fassen und als nervösen Gehirnprozeß durchforschen und begreifen, im subjektiven Erleben dagegen auf unser raumlos-einheitliches Ichbewußtsein beziehen, als dessen Inhalt begreifen und in immaterielle psychische Begriffe fassen.« Der lebende Körper ist die stofflich gedachte Seele, der Wille (der Intensitätswert der Gefühlsbetonung) das Korrelat, nicht die Ursache der Handlung. Das organische Leben ist als räumliches Geschehen ebenso mechanisch-gesetzlich wie das Anorganische.

Das Sein ist in seiner Unmittelbarkeit objektives (»noëtisches«) Denken, »aktive Selbstentwicklung, die ein Gedankeninhalt aus sich selbst heraus eingeht«, ein »Denkgewebe« (Objektiver Idealismus). Die Dinge sind »Teilinhalte aus der Inhaltsfülle der Weltidee«. Ebenso ist das Ich ein Denkgebilde und das bewußte (logische) Denken nur eine Entwicklungsform des Weltdenkens. Die Welt ist »Einheitsdenken«, dessen Inhalte (die Dinge) vom erkennenden Subjekt unabhängig sind, indem das »Weltdenken« über den Gegensatz von Subjekt und Objekt, über Raum und Zeit erhaben ist. Die Natur ist ein Ausschnitt der Weltidee, welche reiner Prozeß, nicht starres Sein ist; alle Substantialität ist erst ein Erzeugnis des Denkens (Aktualismus). In den[348] Relationen liegt das Wesen der Erkenntnis, aber ebenso auch das Wesen der Welt als eines einheitlichen Zusammenhanges von Geschehnissen.

SCHRIFTEN: Das Wesen des Seelen- u. Geisteslebens, 2. A. 1907. – Das Problem des Lebens, 1909. – Das Erkenntnisproblem, 1910. – Weltansch. u. Welterkenntnis, 1911.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 347-349.
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