Maine de Biran, François Pierre Gauthier

[445] Maine de Biran, François Pierre Gauthier, geb. 1766 in Grateloup (Bergerac), diente in der Leibgarde, war während der Revolution Präfektur-Rat, nach der Restauration Abgeordneter und Staatsrat, gest. 1824.

In seinen ersten Arbeiten untersucht M. den Einfluß der Gewohnheit auf das Denken. Er unterscheidet passive und aktive Gewohnheiten und formuliert als Grundgesetz der Gewöhnung, daß sie die Sinnesempfindung (Sensation) schwächt und die Wahrnehmung (perception) verstärkt, welche letztere (wie nach Reid) aktiver Art und an die Bewegung des Organes selbst geknüpft ist.

In seiner zweiten Periode führt M. die Lehre Destutt de Tracys von der Kraftanstrengung des wollenden Ichs gegenüber dem Widerstande des Objektes weiter. Das aktive, freie, sich selbst unmittelbar als einheitliches Wesen, Kraft und Ursache, als tätiges Agens erfassende Ich ist die Quelle und das Muster unserer Grundbegriffe (Kausalität, Kraft, Substanz, Einheit usw.), welche Kategorien weder aus der Empfindung stammen, noch dem reinen Denken angehören, noch apriorische Formen sind. Sie stammen vielmehr aus der inneren Erfahrung des Seins und Wirkens des aktiven, wollenden Ichs, welches in seinem Willen sich als seiend erfaßt (»Volo, ergo sum«). Dieses ist etwas ganz anderes als ein Komplex von Empfindungen, es kann durch die Qualitäten und Relationen äußerer Erscheinungen nicht beschrieben werden, sondern ist ein reales, wahrhaft ursächlich sich verhaltendes Subjekt im Gegensatze zu den Objekten (und seinem eigenen Leibe). Das aktive, reine Ich (»moi nouménal«) ist eine »überorganische Kraft« in Beziehung zu einem Widerstande (»une force hyperorganique naturellement en rapport avec une resistante vivante«), eine tätige Kraft (»une force agissante«), die sich unmittelbar erfaßt (»apperception interne immédiate ou conscience d'une force; qui est moi«), im Gegensatz zu allem Objekte (»par son opposition à tout ce qui est appellé chose ou objet«). Das Charakteristische der Ichtätigkeit ist die Willensanstrengung (»effort voulu«), welche von der Muskelkontraktion zu unterscheiden ist. In dem Bewußtsein dieser Anstrengung hat der Begriff der Ursache (der Kausalität) seine Quelle, ebenso der Begriff der Kraft. Aus der Erfahrung des (erlebten) Widerstandes stammt alle Materie der Erfahrung, so auch der Begriff der Substanz (als Begriff eines »absoluten oder möglichen Widerstandes«).

Die Außenwelt besteht in den Beziehungen der Dinge zu uns, indem die Dinge selbst Kräfte sind. Durch die Hemmung, die unsere Willensanstrengung erfährt, werden wir uns zugleich unseres Ichs und des Nicht-Ich. der Objekte bewußt. Das Ich projiziert das als passiv Empfundene außer sich und schreibt es anderen Wesen zu, indem es fühlt, daß das, was ihm Widerstand leistet, nicht sein eigener Wille ist. »Lorsque le mouvement est.... arrêté ou empêché, l'individu sent ou aperçoit bien immédiatement que ce n'est pas sa volonté, qui l'arrête ou le suspend, et c'est là ce qui le conduit à attribuer, par une première induction, cet empêchement à une cause non moi opposé à sa volonté«. Die Einbildungskraft (imagination) hüllt dann die vom Ich gesetzte Ursache des empfundenen Widerstandes in die Vorstellung der taktilen Ausdehnung, die uns als Erkennungszeichen eines Dinges dient.

SCHRIFTEN: Die meisten seiner Schriften wurden erst nach seinem Tode herausgegeben:[445] Oeuvres philosophiques de M. de B., publiées par V. Cousin, 4 Bde., 1841. – Oeuvres inédites de M, de B., publiées par E. Naville, 4 Bde., 1859. – Science et Psychologie, publiée par A. Bertrand, 1887. – Drei Entwicklungsperioden sind bei M. zu unterscheiden: 1. Ausgang von Locke, Condillac, Reid u. a.: Sur l'influence de l'habitude à la faculté de penser, 1802. – Mémoire sur l'habitude, 1803. – Mémoire sur la décomposition de la faculté de penser, 1805 (von Leibniz beeinflußt). – 2. Persönlichkeits-Standpunkt: Rapport du physique et du moral, 1811 verfaßt. – Essai sur les fondements de la psychologie, 1813-22 verfaßt (Hauptschrift). – 3. Mystische Periode: Nouveaux essais d'anthropologie (unvollendet). – De l'apperception immédiate. Considérations sur les principes d'une division des faits psychologiques et physiologiques. – Vgl. NAVILLE, M., 1857. – MARILIER, M., 1893. – A. KÜHTMANN, M., 1901. – A. LANG, M. und die neuere Philosophie. – TISSERAND, L'anthropol. de M. de B., 1909.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 445-446.
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