Martineau, James

[454] Martineau, James, geb. 1805 in Norwich, Prof. in Manchester, dann (1853-75) in London, gest. daselbst 1900.

M. vertritt einen kritischen Realismus und eine dynamisch-theistische Weltanschauung, einen »Dualismus« zwischen Mensch und Gott, von welchem die Welt zwar beständig abhängig, aber verschieden ist. Die materielle Welt besteht aus Kräften, welche der göttliche Geist durch seinen Willen in den Raum versetzt. Den Widerstand der fremden Kräfte erfährt das erkennende Subjekt und faßt ihn als Äußerung einer seiner eigenen analogen Tätigkeit auf (vgl. Wundt u. a.). Das Noumenon ist Kraft. Jede wahre Ursache, die wir a priori als Quelle einer Wirkung setzen müssen, ist nicht, wie die Wirkung, ein Phänomen, sondern ein Noumenon, eine Kraft, etwas Metaphysisches, während die Naturwissenschaft als solche es nur mit der gesetzlichen Aufeinanderfolge von Erscheinungen zu tun hat. Da aber die Kraft nur durch einen entscheidenden, auswählenden Willen ausgelöst werden kann, so stammt jedes Phänomen von einem Willen her. Die Außenwelt ist die Manifestation des göttlichen Willens. Gott ist Persönlichkeit, über die Welt erhaben und zugleich derselben immanent. Die Religion ist die unentbehrliche Stütze der Moral.

Die Erkenntnis bestimmt M. als Funktion des Denkens. Sie beginnt mit der Analyse der Gesamtkomplexe in deren Elemente und ist ein Urteil, welches Verhältnisse der Wirklichkeit wiedergibt. Die erkenntnispsychologische Analyse führt schließlich zu selbstgewissen Intuitionen, denen zu vertrauen wir nicht umhin können. Raum und Zeit sind apriorische Anschauungsformen, haben aber objektive Gültigkeit, ja der Raum hat sogar metaphysische Bedeutung.

Eine Grundlage der Ethik ist die Willensfreiheit. Der Wille ist eine Ursache, welche zwischen möglichen Richtungen entscheidet, zugunsten eines Phänomens gegenüber einem anderen (»which terminates the balance of possibilities in favour of this phaenomenon rather then that«). Die Willenshandlung ist zwar von Motiven und vom Charakter des Wollenden abhängig, aber nicht dadurch streng determiniert; das noumenale Ich wählt frei zwischen den Motiven und konnte anders handeln, als es handelte. Die Ethik M.s ist eine »idio-psychologische«, intuitionistische Gesinnungsmoral, ein System von Normen für ein bestimmtes Ziel (»system of rules directed upon an end«). Das sittliche Urteil bezieht sich auf die inneren Triebfedern einer Handlung (»inner spring of an action«). Wir haben das intuitive, sichere Bewußtsein einer Wertskala unserer Maximen, zwischen denen wir wählen (»that we are sensible of a gratuated scale of excellence among our natural principles«). Unmittelbar beurteilen wir von zwei Motiven eines als wertvoller denn das andere. Gut ist eine Handlung, die gegenüber einem niederen einem höheren, wertvolleren Motiv entspringt. Dem höheren Motiv zu folgen, gebietet das Gewissen, welches sich als Äußerung des göttlichen Willens autoritativ geltend macht.[454] Von Martineau beeinflußt sind Cobbe, W. B. Carpenter, Upton u. a.

Schriften: The national of Religious Inquiry, 1836. – Endeavours after the Christian Life, 1843-47. – Studies of Christianity, 1858. – Essays, 1868. – Modern Materialism, 1876. – The Relation between Ethics and Religion, 1881. – A Study of Spinoza, 1882. – Types of Ethical Theory, 1882; 3. ed. 1891. – A Study of Religion, 1888; 2. ed. 1889. – Essays, Reviews and Addresses, 1890-91, u. a. – Vgl. WILKINSON. J. M.s Ethik, 1898. – J. DRUMMOND and C. B. UPTON, The Life and Letters of J. M., 1902. – O. PRICE, J. M.s Religionsphilosophie, 1902. – H. JONES, The Philosophy of M., 1905.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 454-455.
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