Wahle, Richard

[800] Wahle, Richard, geb. 1857 in Wien, Prof. in Czernowitz.

W. steht in seinen Anschauungen z. T. Avenarius und Mach nahe, über die er aber hinausgeht (Einfluß von Spinoza, Herbart). Eine Metaphysik ist unmöglich, da es ein wahres »Wissen« überhaupt nicht gibt; alles Wissen ist nur Gegebensein einer Vorstellung in ihrer Abhängigkeit vom Ich, nicht aber Erfassung einer an sich existierenden Wirklichkeit. Gemäß dem »antisubjektivistischen Produkt-Objektivismus« gibt es keine subjektiven, wahren Erkenntnisakte, keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt, Geist und Körper, sondern nur sachliche »Vorkommnisse« (Farben, Töne usw.) in Verbindung mit bestimmten anderen (den Nervenprozessen), mit denen sie zusammen gegeben sind. Die Vorkommnisse (Vorstellungsinhalte) sind Effekte unbekannter »Urfaktoren« Während die Vorgänge, aus denen sowohl die Körper wie die Ich-Einheiten sich zusammensetzen, ein passives, kraftloses Geschehen flächenhafter Art sind, sind die Urfaktoren substantiell und kraftvoll und mit »Selbstbehauptung« begabt; die Urfaktoren außer und in uns erzeugen die Vorkommnisse und deren gesetzmäßigen Zusammenhang. Die Dinge sind als Komplexe von Vorkommnissen nicht Schein oder Erscheinung, obwohl sie nur in Korrelation zu wahrnehmungsfähigen Organismen existieren. Das Ich ist weder eine Substanz noch eine Kraft, überhaupt nichts Selbständiges, Einfaches, Aktives, sondern nur ein Ausdruck für eine gewisse Sphäre von Vorkommnissen. Das Gehirn ist nicht Ursache dieser, sondern das »obligatorische Mitvorkommnis aller Objekt-Vorkommnisse. Das »Psychische« besteht nur aus »additiven Reihen« von primären und sekundären Vorkommnissen (Empfindungen, Erinnerungsbildern), ohne daß es psychische Kräfte, Akte, Einheiten, Apperzeptionsprozesse u. dgl. gibt (»Mosaikpsychologie«). »Es gibt im psychischen Leben nichts anderes[800] als Reihen von primären Vorkommnissen, durchschossen von sekundären Vorkommnissen.« Die Psychologie als solche ist rein beschreibend-analytisch; erklären kann sie nur durch Beziehung der psychischen Geschehnisse auf physiologische Prozesse. Die Gehirnprozesse sind Antezedentien bzw. Repräsentanten der Bewußtseinsvorgänge, und zwar entspricht die jeweilige molekulare Modifikation des ganzen spezifischen Gehirngebietes der konkreten Eigenart jeder Vorstellung. Die Assoziation ist das ursprüngliche Bündnis der Vorkommnisse; Vorstellungen haben eine »sollizitierende« Kraft. Es assoziieren sich auch Vorstellungen mit Leibesstimmungen, mit bewußten motorischen Akten usw. Der Anteil organischer Empfindungen, des Motorischen, usw. an den intellektuellen, Gefühls- und Willensprozessen ist zu berücksichtigen. Die Gefühle sind nur »Körpererregungen mit dazu gehörigen Phantasien und Ideen«. Lust ist Elevation, Unlust Depression oder Unruhe. Die sekundäre Form der Körperbewegung, ihr Erinnerungsbild, nennt W. »Miniatur«. Der Wille ist nichts als die »unter Begleitung von Vorstellungen nach einer Konkurrenz von Reflexbewegungen stabil gewordene Reflexbewegung«.

Schriften: Gehirn und Bewußtsein, 1885. – Die Verteidigung der Willensfreiheit, 1887. – Die geometrische Methode des Spinoza, 1888. – Das Verhältnis zwischen Substanz u. Attributen in Spinozas Ethik, 1888. – Die Glückseligkeitslehre der Ethik des Spinoza, 1889. – Das Ganze der Philos. u. ihr Ende, 1894; 2. A. 1896. – Geschichtl. Überblick über d. Entwickl. d. Philos., 1894. – Kurze Erklär, d. Ethik von Spinoza a. Darstell. d. definit. Philos., 1899. – Ideen zur Organisat. d. Erziehung 1901; 1906. – Vorschlag einer universellen Mittelschule, 1906. – Über den Mechanismus des geistigen Lebens, 1906. – Abhandlungen: Beschreib, u. Einteil, d. Ideenassoziation (Vierteljahrsachr. f. wissenschaftl. Philos., Bd. 9, 1885), Psychologie d. Frage. Die Auflösung des Subjektivismus (Ber. üb. d. III. int. Kongr, f. Philos.), u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 800-801.
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